Die Philosophie des Denkens. Johannes Schell
Читать онлайн книгу.um eine erste Erfahrung zu machen, die jedem schon vielfach begegnet ist. Wie früher den Handwerker, der eine Maschine bauen will, so lassen Sie uns jetzt eine schlichte Hausfrau heranziehen, die gewiss unverdächtig sein wird, philosophischen Spekulationen nachzulaufen. Damit fallen auch alle theoretischen Vorbelastungen, die uns verwirren könnten, hinweg.
Stellen Sie sich eine ganz solide und normale Hausfrau vor, die gerade dabei ist, am Monatsende Bilanz zu machen, um ihre Ausgaben zu überprüfen. Sie wird alle Kosten gewissenhaft addieren und die errechnete Endsumme von der Erstsumme ihres Haushaltsgeldes abziehen, um herauszufinden, was übrigbleibt. Dabei, so wollen wir annehmen, stellt sie zu ihrem großen Erstaunen fest, dass sie ihr Konto überzogen hat. Sie steht jetzt im Minus und hat Schulden. In ihrer Aufregung ruft sie den Ehemann und bittet ihn, die vorliegende Rechenoperation noch einmal sorgfältig zu wiederholen. Aber auch seine Nachprüfung nützt nicht das geringste: die Zahlen stimmen, einen Ausweg gibt es nicht. Der negative Differenzbetrag bleibt trotz weiterer Überprüfungen unerbittlich derselbe. Unsere brave Hausfrau möge sich schon vor dieser alarmierenden Tätigkeit, so wollen wir wiederum annehmen, in reichlich komplizierten Gemütszuständen befunden haben: vielleicht hatte sie großen Ärger, körperliche Schmerzen oder gesundheitliche Sorgen, vielleicht auch Depressionen, Konzentrationsschwierigkeiten oder sogar einen Trauerfall in der Familie - wie dem auch sei, nichts von all diesem hatte auch nur den geringsten Einfluss auf das Endergebnis der Rechenoperation. Die Bilanz steht auf unabhängigen Boden, nicht mediatisiert und nur sich selbst verantwortlich. Und wenn sie - nehmen wir auch das einmal an - durch die Hände aller Menschen auf dieser Erde gegangen wäre, durch sämtliche Rassen und Völker, durch alle Mentalitäten und Entwicklungsstufen, unter allen geographischen, klimatischen und hygienischen Bedingungen, das Resultat der Bilanz wäre immer und überall dasselbe, natürlich die Fähigkeit zum Rechnenkönnen vorausgesetzt. Würden wir uns die Mühe machen, diesen Sachverhalt unserer Hausfrau ins Bewusstsein zu heben, dann wäre sie wohl erstaunt darüber, dass wir ihr so etwas „Selbstverständliches“ klarmachen wollen, aber es dürfte einige Zeit kosten, ihr die Bedeutung ihres natürlichen Wissens („das weiß man doch“) zu erklären: nämlich die überraschende Tatsache, dass sie in ihrem Inneren einem objektiven Element begegnet, das gar nicht so privat ist, wie sie angenommen hatte. Im Extremfall könnte ihr naives „Ich denke“- Erlebnis in eine „Es denkt“- Erfahrung umschlagen, mit der sie kaum etwas anzufangen wüsste. Wir alle besitzen dem Denken gegenüber ein schier unverwüstliches Eigentumsgefühl, das wir gar nicht gerne aufgeben. Es will uns nicht in den Kopf, auch nicht in die Köpfe vieler Philosophen, dass so etwas Privates wie unsere täglichen Denkoperationen mit einer objektiven Realität verbunden sind, die weit über das Subjekt hinausragt und sogar die Kraft hat, uns selbst zu bestimmen. Dieser wesentliche Gedanke führt zur sog. „philosophischen Besinnung“, wenn er richtig angewandt wird. Natürlich melden sich sofort die erprobten Einwände, vor allem der simpelste, der überall ins Feld geführt wird: alle diese Überlegungen mögen für rein logische Zahlenoperationen ihre partielle Gültigkeit besitzen, aber was geschieht, wenn man sich sprachliche Formulierungen, also „Sätze“, gegenüberstellt und nach objektiven Gedankeninhalten sucht? Wir landen in einem Meer von Missverständnissen und Unklarheiten, die genau das vermissen lassen, was unsere Bilanz ausgezeichnet hatte. Wir fühlen, wie wir in der eigenen Subjektivität versinken, und reißen das scheinbar so unabhängige Denken mit in den Strudel höchstpersönlicher Seelenprozesse. Denken Sie nur an die berühmten Verführungen durch die Sprache, die uns von einer Falle in die andere lockt und uns Probleme vorspiegelt, die keine sind. So wenigsten sagen die Grunderkenntnisse der zeitgemäßen Sprachanalyse und Linguistik. Auch unsere Hausfrau, die wir nun verlassen wollen, weiß das instinktiv und wendet sich ihren realistischen Sorgen zu, die ihr auf den Nägeln brennen.
Ich habe gerade von „Sätzen“ gesprochen, die wir denken, reden und schreiben können, und zwar mit der tatsächlichen Absicht, so etwas wie die „Wahrheit“ zu sagen, aber mit dem Ergebnis, dass sie die Wahrheit entweder verschleiern oder gar nicht enthalten. Hinzukommt, dass wir nicht einmal Kriterien besitzen, nach denen wir die Wahrheit bestimmen können. Gewiss, das Erlebnis der „Objektivität“ erfährt jeder, der sich mit dem Denken beschäftigt, aber sobald er den Inhalt seiner Gedanken kritisch behandelt, verliert er sehr schnell den Boden unter den Füßen. Wenn es möglich wäre, alle Wissenschaftsgebiete nach dem Vorbild der Naturwissenschaft mit exakten mathematischen Methoden zu bearbeiten, dann könnten wir Hoffnung schöpfen und uns im Weltzusammenhang weit sicherer bewegen als bisher. Aber leider sind alle Versuche dieser Art fehlgeschlagen oder nur zum Schein erfolgreich. Die geistreichen und sinnvollen Impulse eines Leibniz oder Carnap, so etwas wie eine universelle wissenschaftliche Kunstsprache zu schaffen, sind im Sande verlaufen, obwohl diese Forderung in der Luft liegt. Das hat schwerwiegende Gründe, die wir noch kennenlernen werden. Es wäre vom heutigen Standpunkt ein Segen gewesen, wenn wir uns ganz aus den Unklarheiten der Umgangssprache zu lösen vermocht hätten. Aber das alles ist Wunschdenken. Unser Weltverständnis wird niemals die brillante Simplizität der Bilanz unserer braven Hausfrau erreichen - und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dann die Evolution des Menschen methodologisch präjudiziert wäre, d.h. nach logischem Schema ablaufen müsste. Auf der andern Seite sind aber Ausdrücke wie „Erlebnis“, „Wahrheitsgefühl“ u.a. so verschwommen, dass sie jedem ernsten Wissenschaftler suspekt sein müssen, wenn er Wert auf unverzerrte Gedankenbildung legt, auf Präzision im intersubjektiven Austausch der Ideen. Damit scheinen wir uns selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Aber ich sage das nur, um Ihnen die Problemlage klarzumachen. Natürlich werden wir keine Gefühlsphilosophie entwickeln, auch nicht in der hohen Gefühlsgeistigkeit eines Jaspers, die bewundernswert ist, aber das Wissen verneint. Wir wollen das analytische Element nicht verleugnen und uns nicht mit rein „menschlichem Niveau“ begnügen, weil wir wissen, dass die Entwicklung zur „Humanitas“ mitten durch die Wissenschaft gehen muss. Unsere weiteren Beobachtungen werden diese Auffassung belegen.
13. Die Wahrheit und ihre Kogitate.
Die folgenden Ausführungen wenden sich bewusst gegen die weitverbreiteten und zweifellos bewundernswerten Formalisierungskünste unserer Tage, nicht aus Abneigung, sondern aus der Erkenntnis ihrer Unzulänglichkeit. So geistreich und neuartig zum Beispiel die Überlegungen eines Tarski sind; an dem, was wir Wahrheit nennen, gehen seine formalistischen Betrachtungen vorbei. Auch wir meinen das „true“ und nicht das „frue“ und sind der Meinung, dass es Wege gibt, die Wahrheit so aufzufassen, dass Tarskis Formalismen überhaupt erst in das rechte Licht gerückt werden können. Die logischen Seitenkanäle führen zu keinen brauchbaren Ergebnissen.
Wenn wir das Ganze des Denkens zu erfassen suchen, und damit den Begriff der Wahrheit, stehen wir vor beträchtlichen Schwierigkeiten. Auf diese Wendung vom Denkresultat zur Denktätigkeit kommt es Rudolf Steiner an. Er schreibt:
„Ich muss einen besonderen Wert darauf legen, dass hier an dieser Stelle beachtet werde, dass ich als meinen Ausgangspunkt das Denken bezeichnet habe, und nicht Begriffe und Ideen, die erst durch das Denken gewonnen werden. Diese setzen das Denken bereits voraus... (Ich bemerke das hier ausdrücklich, weil hier meine Differenz mit Hegel liegt. Dieser setzt den Begriff als Erstes und Ursprüngliches.)“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 15. Auflage 1987, S. 57f.)
In einer anderen Schrift zitiert er Sätze eines zeitgenössischen Autors, um das Problem des Denkens in seiner zentralen Bedeutung und Schwierigkeit drastisch vor Augen zu führen; sie lauten:
„Zu welcher Philosophie man sich bekenne: ob zur dogmatischen oder skeptischen, empirischen oder transzendentalen, kritischen oder eklektischen, alle ohne Ausnahme gehen von einem unbewiesenen und unbeweisbaren Satz aus, nämlich von der Notwendigkeit des Denkens. Hinter diese Notwendigkeit kommt keine Untersuchung, so tief sie auch schürfen mag, jemals zurück. Sie muss unbedingt angenommen werden und lässt sich durch nichts begründen; jeder Versuch, ihre Richtigkeit beweisen zu wollen, setzt sie immer schon voraus. Unter ihr gähnt ein bodenloser Abgrund, eine schauerliche, von keinem Lichtstrahl erhellte Finsternis. Wir wissen also nicht, woher sie kommt, noch, wohin sie geht. Ob ein gnädiger Gott oder ein böser Dämon sie in die Vernunft gelegt, beides ist ungewiss.“ (Gideon Spicker: Philosophisches Bekenntnis eines ehemaligen Kapuziners. Zit. nach Rudolf Steiner: Freiheit, Unsterblichkeit und Soziales Wesen. Dornach 1990, S. 33)
Mit