Die Philosophie des Denkens. Johannes Schell

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Die Philosophie des Denkens - Johannes Schell


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evidentielle Erfahrung geht über alle spezifischen Kogitate hinaus und ergreift eine Realität, von deren Gnaden jeder einzelne Gedanke erst zum Gedanken wird. Wenn ich „Realität“ sage, dann konstruiere ich natürlich keine platonistische Hypostase, kein geistiges „Ding“, das irgendwo schwebt, sondern beschreibe eine Wahrnehmung, von der wir hier noch gar nicht wissen, in welchen ontologischen Zusammenhang sie gehört. Es ist ja die empirisch-aktologische Methode, die wir benützen und mit deren Hilfe wir lediglich feststellen, dass wir bei genauem Hinblick auf eine Phänomen stoßen, das unsere gesamte Ich-Organisation realiter bestimmt, also gar nichts mit subjektiven Phantasmagorien zu tun hat, sondern im selben Sinne wirklich ist wie Gestirne, Menschen, Tiere und Steine. Über den Begriff der „Realität“ werden wir noch ausführlich zu sprechen haben. Jetzt müssen wir aber eine interessante Schlussfolgerung ziehen, die Sie wohl schon selbst in Gedanken vorweggenommen haben: „Evidenz“ und „bestimmungsloses Denken“ sind in auffälliger Weise aufeinander bezogen. Beide stehen über allen ihren Begriffen und Kogitaten. Wir werden ausfindig machen müssen, ob sich eine einsehbare Beziehung herstellen lässt, mit der wir arbeiten können. Jedenfalls berühren sich hier Erkenntnistheorie und Psychologie in unmittelbarer Weise, d.h. wir stoßen auf ein Drittes, auf das früher erwähnte sog. „Junktim“, das Rudolf Steiner als erster erkannt hat, ohne es so zu benennen. Er spricht von der „Anschauung des Denkens“ und meint genau diesen Sachverhalt. Manchmal spricht er auch von der „Wahrheitswelt“, in der wir unmittelbar leben, ohne auf metaphysische Spekulationen oder logifizierende Formalismen angewiesen zu sein. Allein das „reine Denken“, das hier seine höchste Stufe erreicht, kann uns in die Sphäre der Wahrheit führen, aber in einer Weise, die Sie zunächst nicht ganz befriedigen dürfte.

      d. Nach diesen Vorbereitungen können wir uns der Absolutheit des Denkens zuwenden. Als Einstieg möge uns der folgende Text aus der „Philosophie der Freiheit“ dienen:

      „Insofern der Mensch einen Gegenstand beobachtet, erscheint ihm dieser als gegeben, insofern er denkt, erscheint er sich selbst als tätig. Er betrachtet den Gegenstand als Objekt, sich selbst als das denkende Subjekt. Weil er sein Denken auf die Beobachtung richtet, hat er Bewusstsein von den Objekten; weil er sein Denken auf sich richtet, hat er Bewusstsein seiner selbst oder Selbstbewusstsein. Das menschliche Bewusstsein muss notwendig zugleich Selbstbewusstsein sein, weil es denkendes Bewusstsein ist. Denn wenn das Denken den Blick auf seine eigene Tätigkeit richtet, dann hat es seine ureigene Wesenheit, also sein Subjekt, als Objekt zum Gegenstande. Nun darf aber nicht übersehen werden, dass wir uns nur mit Hilfe des Denkens als Subjekt bestimmen und uns den Objekten entgegensetzen können. Deshalb darf das Denken niemals als eine bloß subjektive Tätigkeit aufgefasst werden. Das Denken ist jenseits von Subjekt und Objekt. Es bildet diese beiden Begriffe ebenso wie alle anderen. Wenn wir als denkendes Subjekt also den Begriff auf ein Objekt beziehen, so dürfen wir diese Beziehung nicht als etwas bloß Subjektives auffassen. Nicht das Subjekt ist es, welches die Beziehung herbeiführt, sondern das Denken. Das Subjekt denkt nicht deshalb, weil es Subjekt ist; sondern es erscheint sich als ein Subjekt, weil es zu denken vermag. Die Tätigkeit, die der Mensch als denkendes Wesen ausübt, ist also keine bloß subjektive, sondern eine solche, die weder subjektiv noch objektiv ist, eine über diese beiden Begriffe hinausgehende. Ich darf niemals sagen, dass mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr selbst von des Denkens Gnaden. Das Denken ist somit ein Element, das mich über mein Selbst hinausführt und mit den Objekten verbindet. Aber es trennt mich zugleich von ihnen, indem es mich ihnen als Subjekt gegenüberstellt.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 15. Auflage 1987, S. 59f.)

      So weit der aufschlussreiche Text. Es soll uns also klargemacht werden, dass wir im Denken ein Element kennenlernen, das in die Sphäre des Überpersönlichen führt und uns dennoch einschließt und bestimmt. Und tatsächlich geschieht nichts ohne dieses Element: wir wüssten nichts von unserem Ich, nichts von unserem Fühlen und Wollen, wir könnten unser Leben nicht lenken und leiten, wir müssten auf alle Wissenschaft verzichten und mehr oder weniger animalisch vegetieren - es sei denn, dass unsere Instinkte vergeistigt wären und diesem Marionettendasein einen ideellen Inhalt geben könnten, der uns aber nicht bewusst würde. So zum Beispiel erleben wir zwar unser Ich in der harten Auseinandersetzung mit dem Widerstand der Welt, aber nur als allgemeines Ichgefühl, indessen das wache Ichbewusstsein nur aus dem Denken kommt: wir müssen uns erst den Begriff vom Ich bilden, bevor wir von ihm wissen können. Deshalb sind alle philosophischen Richtungen, die das Denken auf irgendeine Weise aus einem transzendentalen Ego hervorgehen lassen wollen, im vorhinein verfehlt. Es gibt kein Über-Ich, das Begriffe und Begriffsrelationen gebiert, aber es gibt vielleicht Ich-Strukturen, die vom Denken beleuchtet und aufgegriffen werden können. Uns geht es auf höherer Ebene genau so wie unserer philosophisch unbedarften Hausfrau mit ihrer unerbittlichen Bilanz: wir müssen uns fügen, ob es uns passt oder nicht. Leider sind wir von den materiologischen Tendenzen unseres Zeitgeistes so hoffnungslos überformt, dass wir gerne dem Glauben huldigen, alles das sei subjektiv, was in unsere Haut eingeschlossen ist. Viele suchen heute einen materiellen Platz, auf dem sich die Begriffe tummeln, aber es gibt keinen solchen Platz, das Denken kann nicht raumzeitlich geortet werden, es ist überall und nirgends, es bestimmt das Einzelne und das Ganze, den Menschen und die Welt - und sich selbst in negativer Abgrenzung, wie wir bereits festgestellt haben. Mit anderen Worten: wir erkennen die unendliche Universalität dieses in jeder Hinsicht überspezifischen Elementes, das sein Inkognito niemals aufhebt, aber alle Kogitate hervorbringt, mit denen wir leben können und müssen. Diese Universalität ist die erste sichere, unentrinnbare, aber auch undefinierbare Kategorie des Denkens, natürlich nicht in Kantischem Sinne, obwohl die begrifflich-sprachliche Ausdrucksweise zu dieser Auffassung verleiten kann.

      e. Wir können gleich eine weitere „Kategorie“ hinzufügen, von der man annehmen müsste, dass sie sofort verstanden wird. Aber das ist leider nicht der Fall. Ich meine das evidente Phänomen der Unableitbarkeit des Denkens. Ich habe bereits erwähnt, wie sehr das materiologisch orientierte Bewusstsein der beiden letzten Jahrhunderte alles daran gesetzt hat, das Denken als Sekundärphänomen zu begreifen und aus den angeblich primären Naturprozessen abzuleiten, besonders aus den Gehirnvorgängen, um die wissenschaftlich scheinbar notwendige „Reduktion“ auf die allein erkennbare Realität, d.h. auf die physikochemischen Substanzen dieser Welt zu Ende zu bringen. Alles, was wir in halbmythischer Sprache als Geist, Seele, Trieb und Liebe und auch als Denken bezeichnen, ist nach dieser Theorie eine Spezialform materieller Zustände, deren genaue Kenntnis uns dereinst dazu veranlassen dürfte, die genannten halbmythischen Begriffe in der formalisierten Sprache der Naturwissenschaft auszudrücken. Man geht von etwas aus, das es in dieser Form überhaupt nicht gibt, wie bereits die Tatsache bezeugt, dass der Substanzbegriff ins Wanken geraten ist: das Reden von „Materie“ und „Stoff“ verliert immer mehr seinen Sinn. Dieses veraltete Denken, das den Zeitgeist bestimmt, ist so sinnreich wie der Versuch, den Uhrmacher aus der Uhr, den Kraftfahrer aus dem Automobil und die Liebe aus den Hormonen abzuleiten. Aber diese Argumentation brauchen wir im Augenblick noch nicht auszuführen. Unsere bisherigen Überlegungen weisen nach, dass die sog. „Naturprozesse“ Ergebnisse des Denkens sind, also Kogitate, in denen die Natur zu dem wird, als was wir sie vor uns haben. Das denkende Betrachten aller Vorgänge, die uns gegenübertreten, unterliegt der intermittierenden Denkbeobachtung, die es immer mit Begriff und Wahrnehmung zugleich zu tun hat. Das Denken ist die ableitende Tätigkeit selbst und kann deshalb nicht abgeleitet werden. Weder aus materiellen Stoffen, noch aus der Allmacht Gottes, wenn wir es nicht aufheben wollen. Jede Reduktion auf ein Etwas außerhalb des Denkens ist selbst ein Produkt dieses Denkens und deshalb unsinnig, ist ein mythischer Glaube, der mit Wissenschaft nichts zu tun hat. Es ist sehr schwer, gegen festgefahrene, dogmatisierte Zeitevidenzen, wie ich mich ausdrücken will, zu argumentieren, denn diese Zeitevidenzen sind nichts anderes als die jeweiligen Anschauungsformen jeweiliger Zeitalter, scheinbare Grunderkenntnisse, die unbezweifelbar sind und als evident genommen werden. Man kann sie in allen vergangenen und heutigen Kulturen nachweisen. Die heutige Zeitevidenz betrachtet die materiellen Stoffe als die einzige Realität, und zwar mit gefühlsmäßiger Selbstverständlichkeit, indessen alles, was mit „geistigen“ Phänomenen zu tun hat, nicht mehr als Wirklichkeit empfunden wird. Die Wahrheit dürfte sein, dass sich unser Realitätserlebnis im Laufe der Zeit unmerklich, fast ohne erkennbare Übergänge, aber sehr intensiv verschoben hat. Im alten Indien waren gerade die inneren (spirituellen) Erlebnisse unwiderlegbare Realität,


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