Die Philosophie des Denkens. Johannes Schell
Читать онлайн книгу.fest, die eine Menge Vorurteile enthalten, die unphilosophisch sind. Greifen wir zunächst auf unsere Erkenntnis zurück, die wir vorliegen haben. Erinnern Sie sich an das Phänomen des „bestimmungslosen Denkens“, das wir als besonderen Vorgang aus dem Gesamtprozess des Denken herausgelöst haben, ohne eine reale Trennung vorzunehmen. Erinnern Sie sich auch an die wichtige Feststellung, dass alle Produktionen des Denkens, also die sog. Kogitate, sich immer und ausnahmslos auf spezifische Gegenüberstellungen beziehen, also niemals ein allgemeines Absolutum aussprechen. Auch das, was ich soeben in Worte fasse, ist natürlich ein Kogitat, das sich auf das Denken bezieht, aber nur in Form der Abgrenzung und nicht als inhaltliche Bestimmung. Darüber werden wir noch zu reden haben. Allerdings ist der Begriff des Denkens am Denken gebildet, d.h. das Denken spricht sich selbst aus, wenn auch ohne Bestimmungen. Wir verbleiben, wie Rudolf Steiner einmal sagt, „in demselben Element.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 15. Auflage 1987, S. 48.) Darin stecken natürlich eine Menge Probleme, die sich erst klären, wenn wir weitere Beobachtungen machen. Lassen Sie uns schrittweise vorgehen.
a. Da ist zunächst die „Erkenntnisbefriedigung“, von der wir bereits gesprochen hatten. Um welche Art von Befriedigung handelt es sich hier? Wenn wir einen Erkenntnisvorgang zu Ende gebracht haben, dann hören wir nicht willkürlich zu denken auf, wie es uns gerade beliebt: es ist vielmehr so, dass wir aufhören müssen, weil die ideelle Motivation wegfällt. Das Denken kommt vorübergehend in sich selbst zur Ruhe, nimmt das Ergebnis wahr und hat das Gefühl, dass der Kreis geschlossen ist. Alle Begriffe und Begriffsrelationen tragen sich gegenseitig, ein Endpunkt ist erreicht, der uns zwingt, aus unserer Arbeit zurückzutreten. Rudolf Steiner hat diesen ausgeglichenen Zustand der Denkresultate „Harmonie“ genannt, womit er natürlich keinen ästhetischen, sondern einen logischen Zustand bezeichnen will. Hören wir ihn in größerem Zusammenhang:
„Wie erscheint uns unser Denken für sich betrachtet? Es ist eine Vielheit von Gedanken, die in der mannigfachsten Weise miteinander verwoben und organisch verbunden sind. Diese Vielheit macht aber, wenn wir sie nach allen Seiten hinreichend durchdrungen haben, doch wieder nur eine Einheit, eine Harmonie aus. Alle Glieder haben Bezug aufeinander, sie sind füreinander da; das eine modifiziert das andere, schränkt es ein und so weiter. Sobald sich unser Geist zwei entsprechende Gedanken vorstellt, merkt er alsogleich, dass sie eigentlich in eins miteinander verfließen. Er findet überall Zusammengehöriges in seinem Gedankenbereiche; dieser Begriff schließt sich an jenen, ein dritter erläutert oder stützt einen vierten und so fort... Alle Einzelgedanken sind Teile eines großen Ganzen, das wir unsere Begriffswelt nennen... Tritt irgendein einzelner Gedanke im Bewusstsein auf, so ruhe ich nicht eher, bis er mit meinem übrigen Denken in Einklang gebracht ist. Ein solcher Sonderbegriff, abseits von meiner übrigen geistigen Welt, ist mir ganz und gar unerträglich. Ich bin mir eben dessen bewusst, dass eine innerlich begründete Harmonie aller Gedanken besteht, dass die Gedankenwelt eine einheitliche ist. Deshalb ist uns jede solche Absonderung eine Unnatürlichkeit, eine Unwahrheit... Haben wir uns bis dahin durchgerungen, dass unsere ganze Gedankenwelt den Charakter einer vollkommenen, inneren Übereinstimmung trägt, dann wird uns durch sie jene Befriedigung, nach der unser Geist verlangt. Dann fühlen wir uns im Besitz der Wahrheit.“ (Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Dornach 7. Auflage 1979, S. 56f.)
So weit Rudolf Steiner. In diesem Text werden mehrere Motive miteinander verbunden, aber zunächst interessiert uns der Begriff der Harmonie, die unseren Erkenntniswillen befriedigt. Ist das überhaupt ein psychologischer Begriff, wie man heute wohl meinen dürfte, oder enthält er etwas, das bis in die Erkenntnistheorie reicht?
b. Was hier in scheinbar anspruchsloser umgangssprachlicher Fassung „Wahrheit“ genannt wird, stellt zweifellos diesen Bezug her, meint aber zunächst nicht viel mehr als die tägliche Erfahrung der logischen Stimmigkeit von Sätzen aller Art, von gesprochenen und auch formalisierten Begriffsrelationen, also einen gedanklichen Zusammenhang, der durch sich selbst einleuchtet, weil er keiner äußeren Stütze bedarf. Dabei ist es gleichgültig, ob subjektive Unzulänglichkeit eine Rolle spielt und Einsichten vorgaukelt, die keine sind. Dass wir falsche Sätze für wahr halten können, beweist nur, wie unverzichtbar das Erlebnis dieser Stimmigkeit ist. Ohne das Phänomen der „Einsicht“ oder des „Einleuchtens“ gäbe es keine Wissenschaft, ja wir wären nicht einmal in der Lage, unser tägliches Leben zu führen. Die logische Stimmigkeit ist die Sonne, um die alle Begriffe kreisen, auch wenn sie selbst nicht sichtbar wird. Es genügt das Licht, das sie ausstrahlt, um Wahrheit oder Irrtum hervorzubringen. Und diese rätselhafte Stimmigkeit bewegt sich, je nach den subjektiven Randbedingungen, in Graden oder Stufen - bis hinauf zum Erlebnis der absoluten Sicherheit, die wir „Evidenz“ zu nennen gewohnt sind. Die Sache selbst bleibt in allen subjektiven Variationen unverändert. Wir wollen deshalb in Zukunft den Begriff der Evidenz in diesem Sinne verwenden: Evidenz als objektive Realität des Phänomens der Stimmigkeit, um dessen reinste Erscheinungsform wir uns bemühen müssen, wenn wir erkennen wollen, gleichviel welchen Streich uns die subjektiven Unzulänglichkeiten spielen. In welche Schwierigkeiten wir geraten, wenn wir die höchstmögliche Stufe erklimmen wollen, zeigen die berühmten „Axiome“ der Mathematik, die uns einmal als ewige Wahrheiten erschienen und dann doch problematisiert werden mussten. Wir wissen hier noch nicht, wohin der Weg führt und wie weit wir ihn gehen können.
c. Ich habe gerade das Wort „rätselhaft“ für das Phänomen der Stimmigkeit gebraucht. Der Grund ist, dass wir eine ganze Reihe von Begriffen derselben Art nachweisen können, die uns in Verlegenheit bringen. Ihr „rätselhaftes“ Charakteristikum ist die eigentümliche Tatsache, dass sie keine Merkmale der raumzeitlichen Sinneswelt an sich tragen, also den Eindruck erwecken, als seien sie Offenbarungsformen einer überirdischen Welt. Wir werden viele solcher Begriffe kennenlernen, die ihrem Wesen nach den Charakter des Über-Sinnlichen tragen und so miteinander verbunden werden können, dass eine Sphäre der Idealität entsteht, in die wir uns nur schwer einleben können. Gelingt das aber dennoch, dann sind wir versucht, diese erdfernen Resultate unseres Denkens, diese scheinbar bezuglosen „Quasi-Gegenstände“ als Fiktionen, Phantasmagorien oder subjektive Irrlichter zu bezeichnen, mit denen man alles und nichts machen kann. Wir wollen diese spezielle Art der Gedankenbildung das „reine Denken“ nennen, wie das allgemein üblich ist. Sie wissen, dass es seinen bedeutsamsten Ausdruck in den Philosophien des Parmenides und des Plato fand und schließlich in der „Logik“ Hegels seinen Höhepunkt erreichte. Am subtilsten tritt es in Erscheinung, wenn sich das Denken auf sich selbst richtet und damit alle sinnlichen Elemente ausschließt. Aber hier treten nun die Schwierigkeiten auf. Wie sollte es möglich sein, dass sich das Denken selbst ergreift und erkennt? Wir wissen ja längst, dass sich der Denkprozess nicht beobachten lässt. Eine Selbstbegegnung des Denkens kann nur in der Weise stattfinden, dass sich das „bestimmungslose Denken“ mit seinen selbstproduzierten Resultaten auseinandersetzt. Nun spricht Rudolf Steiner in seinen Büchern und Vorträgen sehr häufig von der „Anschauung des Denkens“ als einer erreichbaren Fähigkeit des Menschen, die über das bloß theoretisierende „Denken über das Denken“ weit hinausreicht. Der Begriff der „Anschauung“ kann aber nicht vom Begriff der „Beobachtung“ getrennt werden - ganz zu schweigen von dem Umstand, dass heute jede Form der Anschaulichkeit erkenntnistheoretisch verdächtig ist. Hier scheint also ein Widerspruch vorzuliegen. In Wahrheit haben wir dieses Problem schon weitgehend gelöst. Wenn die objektivierte Gegenüberstellung der selbstproduzierten Begriffe eintritt, dann beschäftigt sich zwar, wie wir wissen, das bestimmungslose Denken mit seinen eigenen Geschöpfen, aber unser Ich erlebt nun gewiss nicht den vorausgegangenen Denkprozess, sondern das Zusammenwirken der Begriffe in der geschilderten Weise: es nimmt im begrifflichen Spiel und Widerspiel den evidentiellen Charakter des Denkens wahr, der niemals aus der Betrachtung des einzelnen Begriffs hervorgehen kann. Wir machen eine übersinnliche und überbegriffliche Erfahrung, ohne die wir keine einzige Begriffsverbindung oder gedankliche Synthese jemals anerkennen könnten. Das ist der entscheidende abschließende Vorgang, der überhaupt erst das Denken zum Denken macht, wie wir es immer erfahren. Wer das nicht einsehen will, wer im logischen Positivismus stecken bleibt, hat auf genaue Beobachtungen verzichtet, verliert sich in abstrakten Logifizierungen und sitzt in einer selbstfabrizierten Falle. Er versäumt es, zumeist in hochmütiger Form, die genannte Erfahrung zu machen und dem bestimmungslosen Denken zur weiteren Verarbeitung zu unterbreiten (Denkbeobachtung). Wer den von uns vorgeschlagenen Weg geht,