Die Philosophie des Denkens. Johannes Schell
Читать онлайн книгу.ansammeln, die man in chronologischer Reihenfolge aneinanderreihen könnte, um ein genaues Anschauungsbild der Entwicklung bis zum endgültigen Produkt zu erhalten. Und ein solches Anschauungsmaterial gibt es tatsächlich, vor allem für die Erzeugnisse großer Firmen. Und wenn Sie diese Bilderfolgen gerne genießen wollen, dann betrachten Sie einmal sorgfältig die internen historischen Werksberichte oder die öffentlichen Prospekte über die Entwicklung z.B. des Fahrrads, des Automobils, des Computers oder der Betriebsmaschinen, und Sie werden eine Reihenfolge von Bildern finden, die als Vorstufen des Endproduktes eine ausdrucksvolle Sprache sprechen; beim Automobil etwa vom Postkutschengefährt bis zum modernen windgeschnittenen, rasanten Fahrzeug, in das die begriffliche Arbeit von Jahrzehnten eingegangen ist, und zwar mit allem Drum und Dran, angefangen mit den simpelsten physikochemischen Überlegungen, über den mehrfach geprüften Einbau verschiedenster Materialien auf genau berechneter ökonomischer Basis, des weiteren über die optimalen Anpassungsformen an alles und jedes - bis hin zum bestausgeklügelten Optimum des Endproduktes, in dem alle Umweltfaktoren, Naturgesetze und Stoffe sachgerecht und rationell ineinandergreifen. Das ist der langwierige Weg, auf dem sich die erste Vorstellung des geplanten Werkstücks so präzise wie möglich verwirklicht. Machen Sie sich die Mühe, einen solchen scheinbar harmlosen, historisierenden Bilderbogen in Augenschein zu nehmen, und Sie werden erkennen, wie sich der Rhythmus der Denkbeobachtung in sichtbaren Erscheinungen vor Ihnen abspielt. Jede Veränderung in den einzelnen Bildern offenbart die Begriffsbildung, die kleinen Zurücknahmen des Ichs und die immer neuen Zuwendungen zu den Objekten der Erkenntnis und Gestaltung. Und die Leerräume zwischen den einzelnen Bildern markieren die großen Totalzurücknahmen, die produktiven Gesamtunterbrechungen, also jene Vorgänge, die sich innerhalb des Geistes der Ingenieure abspielen und nicht unmittelbar in die visuelle Sichtbarkeit des konkreten Werkstücks übergehen können. Nur die herausdestillierten Resultate werden sichtbar. Natürlich greifen alle diese Prozesse tausendfach ineinander, aber immer nach demselben Grundmuster: als Spiel und Widerspiel der Denkbeobachtung. In der Bilderfolge der Produkte präsentiert sich ein Entwicklungsablauf, der sich in konzentrischen Stufen vollzieht, zwischen denen die Nullpunkte der Selbstbesinnung, der Pendelschläge zum Ich-Pol liegen, mit denen die neue Arbeit in der erweiterten Begriffssphäre ihren Anfang vorbereitet, deren Ergebnisse erst später ihren Niederschlag im Werkstück finden. Dieser Nullpunkt ist wichtig und wird uns später noch ausführlich beschäftigen.
Damit haben wir auch die praktische Seite dessen, was wir Denkbeobachtung nennen, andeutungsweise miterwähnt. Aus allen diesen Überlegungen und Schilderungen wird ersichtlich, dass es keinen gleichförmig-linearen Entwicklungsgang gibt. Alle organisierten Werdeprozesse, die der Mensch in sich selbst und in seinen Schöpfungen in Gang setzt, verlaufen intermittierend, d.h. in rhythmischen Unterbrechungen, von Pol zu Pol, vom Beobachten zum Gegenüberstellen, von der Enträumlichung zur Verräumlichung, von der „Zusammenziehung“ zur „Ausdehnung“, von der „Involution“ zur „Evolution“ - und wieder zurück. Dem Deutschen Idealismus waren diese Phänomene bekannt, ganz besonders dem großen Philosophen Hegel, der sie in mystisch logifizierender Weise in eine objektive Weltdialektik verwandelt hat. Aber nirgends lässt sich eine „Selbstbewegung der Begriffe“ wahrnehmen. Der Fall liegt so, wie wir ihn beschrieben haben: es ist einzig der Mensch, der seine Begriffe erzeugt und bewegt, und zwar in der angegeben Weise.
Wir wollen diesen Prozess des menschlichen Geistes die „intermittierende Denkbeobachtung“ nennen und versuchen, sie nach und nach genauer kennenzulernen. Sie werden auch immer besser begreifen, warum wir den Begriff „Philosophie der Denkakte“ verwenden.
11. Das bestimmungslose Denken und seine Kogitate
Natürlich werden Sie sich mit diesen Ausführungen nicht zufrieden geben und eine weitergreifende Darstellung dessen, was wir das „Denken“ nennen, erwarten. Dazu bedarf es der Hereinnahme eines neuen Begriffs.
Dazu bedarf es noch einmal einer kurzen Betrachtung dessen, was wir die „Kogitate“ genannt hatten. Nach unseren bisherigen Überlegungen sind Kogitate nichts anderes als die Resultate des Denkprozesses, die sich, so hatten wir (metaphorisch) festgestellt, auf einer psychischen „Bildwand“ eingravieren und dort wie Erinnerungen und Vorstellungen beobachtet und abgelesen werden können. Das ist natürlich eine Vereinfachung, die wir gleich korrigieren werden, aber an der Tatsache des Übergangs vom unbewusst ablaufenden Denkprozess bis hin zur bewussten Gegenüberstellung lässt sich nicht rütteln, auch wenn wir die konkreten Abläufe nicht analysieren können. Wir beschäftigen uns mit unseren Gedanken und Begriffen wie mit allen anderen Wahrnehmungen, wie mit Objekten der Außenwelt, auch wenn es uns unüberwindliche Schwierigkeiten macht, ihre substantielle Existenzform zu bestimmen. Ob wir nun „Nominalisten“ oder „Realisten“ sind, ob wir von „Fiktionen“ oder „Realwesen“ reden - sie besitzen immer die Gestalt des Gegenüber, mit dem wir uns als einer unabweisbaren Erscheinungsform unserer Welt auseinandersetzen müssen, auch dann, wenn nichts da ist, was wir mit Händen greifen können. Die Schwierigkeiten liegen in der Tatsache, dass wir, wie es den Anschein hat, gar nicht in der Lage sind, einen Begriff oder Gedanken ohne die Mitwirkung einer psychischen Vorstellung zu bilden. Daher kommen ja die diversen Ansichten von der angeblichen Identität der Vorstellungen mit den Begriffen und als Folge davon die zunehmende Bereitwilligkeit, dem Denken jede Realität abzusprechen. Schon der Begriff „Abstraktion“ suggeriert eine Philosophie des fiktionalistischen Theoretisierens, obwohl jeder Mensch weiß, dass unsere Begriffe etwas mit der realen Welt zu tun haben müssen, sonst wäre dem Menschen keine sinnvolle Orientierung in seiner Umwelt möglich. Auch kann der Begriff der „Fiktion“ nicht in sich selbst fiktiv sein, oder man hebt das Denken auf. Bei Rudolf Steiner lesen wir:
„Durch das Denken entstehen Begriffe und Ideen. Was ein Begriff ist, kann mit Worten nicht gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, dass er Begriffe habe.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 15. Auflage 1987, S. 57)
Wir gehen also mit einem Etwas um, von dem wir nur wissen, dass es in uns entsteht; und vielleicht sagt uns dieser Entstehungsprozess etwas mehr über das Denken aus, als es die einzelnen Begriffe können. Begriffe sind nicht einfach da: sie werden hervorgebracht. Diese Tätigkeit des Hervorbringens, so haben wir bereits endgültig festgestellt, lässt sich aber nicht beobachten. Damit fallen wir in ein Fass ohne Boden, das für alle Spekulationen offensteht. Was geschieht in diesem Abgrund des Unbewussten? Sind es geheime Führungen, die uns eine Fata Morgana der Freiheit vorgaukeln, vielleicht sogar nur Reflexe von sog. „Gehirnprozessen“, wie uns der positivistische Zeitgeist einreden möchte, oder geschehen höhere Dinge in Form von „Eingebungen“, „Inspirationen“ und dergleichen? Keine dieser Annahmen ist berechtigt. Gehirnprozesse und Inspirationen erklären sich nicht aus sich selbst: sie sind, sofern wir uns ihrer bewusst werden, bereits Gedachtes, sind produzierte Kogitate, enthalten also, wie wir später genau analysieren wollen, das Element des Ideellen, ohne das es keine Erkenntnis gibt. Dasselbe gilt für alle metaphysischen Konstruktionen, in denen die Begriffe ohne Wahrnehmungsgrundlage mit sich selber spielen. Wir besitzen also, nach dem jetzigen Stand der Dinge, nichts, um den Abgrund der Denktätigkeit, von der wir gesprochen haben, mit greifbaren Erfahrungsinhalten zu besetzen. Aber das brauchen wir auch gar nicht. Der kausalistische Ableitungsgedanke stößt irgendwann einmal auf seine methodologischen Grenzen, oder er siecht im unendlichen Regress dahin. Es gibt logischerweise nichts vor dem Denken als das Denken selbst. Wie wir uns auch anstellen mögen, wir kommen aus dem Denken niemals heraus, ebenso wenig wie aus der Wahrnehmungswelt, ohne die wir überhaupt nicht denken könnten. Damit klärt sich ein wichtiges Verhältnis zwischen Begriff und Wahrnehmung in rein formaler Hinsicht. Den ontologischen Aspekt lassen wir noch beiseite. Begriffe beziehen sich immer und ausnahmslos auf das Besondere, auf das Individuelle, auf spezifische Objekte, die sich voneinander unterscheiden, wobei es völlig gleichgültig ist, wo und wie sie als Gegenüberstehendes auftreten, ob als Begriffe, Gedanken, Formeln, ob als Stimmungen, Gefühle und Triebe oder als raumzeitliche Gegenstände der materiellen Umwelt. Mit Hilfe des Begriffs treffen wir unsere Unterscheidungen, um ein Objekt als dieses und kein anderes identifizieren zu können. Und wenn wir ideelle Relationen (Synthesen aller Art) herstellen, dann stehen wir wieder in ganz individuellen Bezügen, die nur im jeweiligen Fall gültig sind. Daran ändert auch der „allgemeine“ Charakter der Begriffe nichts: jeder Allgemeinbegriff - und das sind alle außer den Namen - hat immer