Die Philosophie des Denkens. Johannes Schell

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Die Philosophie des Denkens - Johannes Schell


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Systematik finden nichts Vergleichbares in der gesamten Geschichte der Philosophie. Aus der Fülle dieses Denkens wollen wir nur einen einzigen Begriff herausnehmen, der mit unserem Thema in direkter Verbindung steht. Aber zunächst eine Vorbemerkung. Thomas stand wie alle zeitgenössischen Denker vor der berühmt gewordenen Frage, wie sich die Wahrheiten des menschlichen Denkens mit den Wahrheiten der göttlichen Offenbarung vertragen. Gibt es eine Versöhnung dieser anscheinend so feindlichen Brüder, oder muss man mit dem großen Scholastiker W. v. Occam einen radikalen Trennungsstrich ziehen: nämlich auf der einen Seite die nichtssagenden „voces“, die Namen, Laute und Wörter, die angeblich keinen realen Wahrheitsgehalt besitzen, auf der anderen Seite das göttliche Offenbarungswissen, das alle Vernunft übersteigt? Eine solche Lösung befriedigt natürlich nicht, sie zerschneidet das Problem wie Alexander den gordischen Knoten: zwei Teile bleiben übrig, von denen jeder auf seine Art das Denken entwertet. Die Glaubenswahrheit entzieht sich unserem Denken, und unser Denken erfasst nicht einmal die irdischen Realitäten, in denen wir leben. Was übrigbleibt, ist der reine Glaube. W. v. Occam begründet damit den sog. „Nominalismus“, der heute unser Bewusstsein in einer Weise bestimmt, die W. v. Occam wahrscheinlich das Fürchten gelehrt hätte: es gibt nicht nur keine realen „Ideen“ mehr („Realismus“), auch die Offenbarung ist mittlerweile zum sinnentleerten Wortkram entmachtet worden, zu einer Sammlung von „Scheinproblemen“, die philosophisch nicht mehr ernst zu nehmen sind. Der „Realist“ Thomas geht den Weg der Synthese, und zwar im überlieferten Geiste einer spirituellen Seinsordnung, nach der im menschlichen Verstande bereits ein natürliches Wahrheitslicht angelegt ist, ein sog. „lumen naturale“, mit dessen Hilfe wir die irdischen Wahrheiten, den Abglanz der Ideen Gottes, erfassen können. Und für die Erfassung der überirdischen Wahrheit des Unendlichen wird uns eine göttliche Hilfe zuteil, die uns auf eine höhere Stufe hebt und uns erlaubt, die Offenbarung als die Wahrheit Gottes zu erkennen. Ein himmlischer Funke muss einschlagen, damit wir den Gottesbegriff überhaupt denken können, ein Gnadengeschenk von oben, das ein Unendliches im Endlichen erfahrbar macht. Dieses Gnadengeschenk Gottes, das uns zur untersten Stufe der Hierarchie der Engelswelt erhebt, so weit es die Erkenntnis betrifft, ist ein übermenschliches veritatives Element, dem wir unsere begrenzte Einsicht in die Wahrheit der Offenbarung verdanken, es ist das sog. „lumen gloriae“, das „Glorienlicht“, das Gott und seine Hierarchien in uns eingesenkt haben, um die transzendentale Wahrheitswelt überhaupt denken zu können, ohne die menschliche Kreatürlichkeit aufzuheben. Auch die Engel verfügen über abgestufte veritative Erkenntnisweisen, je nach dem Rang, den sie einnehmen: je näher „Gottvater“, desto vollkommener das geistige Auge, das „lumen gloriae“, aber immer derart, dass die Geschöpflichkeit der Engel eine unübersteigbare Grenze setzt. Nur Gott allein lebt in der absoluten Erkenntnis seiner selbst.

      Sie werden mir jetzt entgegenhalten, dass solche Spekulationen heute, im Zeitalter der kritischen Philosophie, unannehmbar sind. Natürlich haben Sie recht. Und doch sollten wir vorsichtig sein. Es ergeht uns mit Thomas ganz ähnlich wie mit Spinoza. Was uns beide vom „göttlichen Verstand“ berichten, entpuppt sich als die theologische Umschreibung unseres eigenen, allerdings immer noch vorläufigen Wahrheitsbegriffs. Wir wandern tatsächlich durch ein gestuftes und stufbares Reich von differenzierbaren Wahrheitsebenen, und zwar immer in der Richtung nach „oben“, zum „göttlichen“ Urgrund dessen, was wir „Selbstbegründung“ genannt haben, d.h. zur „causa sui“, zur „Substanz“ und zum „Unendlichen“. Unsere spezifischen Kogitate tragen sich im Einzelfall selbst, aber nicht in ihrer Gesamtheit, sie sind immer auf der Suche nach universeller Harmonie, nach absoluter Selbsttragekraft, nach unbefragbarer Evidenz, nach „Gott“, weil Gott die Wahrheit ist. Und dennoch wissen wir genau, dass die Wahrheit über allen Kogitaten steht, also im gegenwärtigen Zustand des Menschen unerreichbar bleibt. Unser nicht verdinglichtes „Glorienlicht“ ist das „bestimmungslose Denken“, die „Evidenz“ als evidentieller Weg und das unmittelbare Erlebnis eines „Absoluten“, das wir als konkrete übersinnliche Erfahrung besitzen und anwenden. Wir müssen damit methodisch arbeiten, um Mensch bleiben zu können. Allerdings heben wir damit alle theologischen Umschreibungen des Wahrheitsproblems auf.

      Aber da ist noch ein anderes Moment, das wir nicht außer acht lassen wollen. Es bleibt immer erhebend zu beobachten, wie früher mit einem heiligen Ernst um die Wahrheit gerungen wurde, weit tiefer und menschlicher, als das gemeinhin heute der Fall ist. Wir sind der Wahrheit gegenüber, um es sarkastisch zu sagen, schon zu philosophischen Snobs geworden, die sich bestenfalls mit den Formalisierungen logischer Beziehungen zufriedengeben, wenigstens in den führenden Zirkeln, und damit der Wahrheit zu genügen glauben. Aber diese Entwicklung war notwendig. Wenn es dem Gläubigen unmöglich scheint, ohne Gott zu Gott zu kommen, so könnte es doch sinnvoll sein, im Verlust der Wahrheit die Wahrheit wieder zu entdecken.

      Und vielleicht gibt es auch einen Weg, den erwähnten Ernst in der Wahrheitssuche auf seine ursprünglichen Quellen zurückzuführen, damit wir sie wieder zum Fließen bringen können. Allerdings wird nichts mehr ohne den „Freiraum“ der menschlichen Freiheit gehen.

      F. DER „MONISTISCHE WAHRHEITSBEGRIFF“

       17. Die Erfahrbarkeit der Welt. Der Seinsentzug

       Bisher bewegten wir uns in Begriffen des reinen Denkens, in selbstständigen „Kategorien“, deren Ursprung nicht in den Tatsachen des raumzeitlichen Weltpanoramas aufzufinden sind. Alles, was wir gedacht haben, von der umgangssprachlichen Hinführung abgesehen, bezieht sich ausschließlich auf sich selbst, lebt von eigenen Gnaden - und wäre doch nicht existent, wenn es nicht die reale Welt des Seins gäbe, also die reiche Vielfalt der Dinge, Gestalten, Farben und Düfte, die wir als unsere eigentliche Welt betrachten und deshalb verstehen wollen. Aber alle Fragen, die sich auf sie beziehen, haben wir so systematisch ausgeräumt, dass es den Anschein hat, als hätten wir an die Stelle der „Realität“ rein geistige Abstraktionen setzen wollen. Wir sprachen lediglich von „spezifischen Kogitaten“, um auf raumzeitliche Zusammenhänge hinzuweisen, also von Gedankenbildungen, die der „Wirklichkeit“ entnommen und nur innerhalb ihrer gültig sind. Noch radikaler ausgedrückt: wir haben das Sein hinausgeworfen, um Platz für die Wahrheit zu bekommen - und dabei möglicherweise das eine wie das andere verkannt. Wenn ich von „Sein“ spreche, dann nur in volkstümlichem Sinne, als naive Bezeichnung dessen, was uns umgibt und hervorgebracht hat, und nicht im philosophischen Sinne berühmter Seinslehren, die mit unserer Philosophie des Denkens nur wenig zu tun haben. Trotz der bekannten Begriffe des „Soseins“ und des „Seienden“ möchte ich bei der Reduzierung auf den schlichten Begriff „Sein“ bleiben, der dem Laien unmittelbar verständlich ist. Deshalb möchte ich unsere bisherige Ausgestaltung einer speziellen „Epoche“ mit einem Begriff belegen, der als Parallele zu einem späteren Ausdruck nützlich ist: ich spreche von „Seinsentzug“ und meine damit den Versuch einer nahezu absoluten Abgrenzung der Idealität von der Realität, des Unableitbaren vom Ableitbaren, der Wahrheit von der Welt. Diese Unterscheidung hat natürlich nur methodologische Bedeutung, in Wirklichkeit besteht eine solche Trennung nicht, jedenfalls nicht in dieser radikalen Form. Welt und Wahrheit gehören auf irgendeine Weise zusammen, oder sie bilden so etwas wie eine Einheit, die wir aus Konvention zu zerlegen gewohnt sind, obwohl wir die Problematik dieses Vorgehens kennen. Wahrscheinlich ist das naive Bewusstsein daran schuld, dass wir so häufig zwei ganz verschiedene Sphären konstruieren, und zwar in ontologischem Sinne, als hätten wir zwei prinzipiell selbstständige Welten vor uns, die uns vor die Aufgabe stellen, ihr Zusammenwirken zu erforschen. Sie erinnern sich an unsere Ausführungen über die alltägliche Erfahrung, dass wir Selbstschöpfer unserer Begriffe sind und deshalb dem naheliegenden Bedürfnis verfallen, alles, was als Ideelles erscheint, entweder gläubig zu hypostasieren, weil es nicht in die raumzeitliche Welt passt, oder es aus demselben Grunde zu nominalisieren, um es loszuwerden. Wir sind immer geneigt, das „Vorgegebene“, wie wir es nannten, also das, was wir nicht selbst produziert haben, als ein Autochthones zu betrachten, von dem wir ausgehen müssen, wenn wir die Wahrheit erforschen wollen. Wir sehen das etwas anders. Uns ist bekannt, dass wir den Begriff des „Vorgegebenen“ nur in Korrelation zum Begriff des „Selbstproduzierten“ bilden können. Keiner ist für sich allein denkbar. Doch damit befasst sich das ursprüngliche Bewusstsein noch nicht: es bleibt beim naiven Subjekt-Objekt-Verhältnis stehen und


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