Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
Читать онлайн книгу.zu meiner Erzählung.
Endlich sollte meine Cousine Helene Buder zu uns stoßen. Mama hatte sie eigentlich von Berlin abholen wollen oder sollen, sich aber anders besonnen. Sei es, weil sie auf ihren Gatten Rochus von Oe wartete oder aus einem anderen Grunde; sie überwies ihrer Schwester Geld für den Fahrschein und Helene musste die Reise nach Müllhaeusen allein antreten, aber Mama und ich sollten sie vom Bahnhof abholen. Mama legte also ihr Kostüm an, wand etwas um ihr aufgefärbtes Haar, das sie als Turban bezeichnete und schlüpfte in die Pariser Pumps. Bevor wir losgingen, bekamen wir von Großmutter Instruktionen; wir sollten uns nirgends aufhalten, keine dummen Fragen beantworten, falls wir von einem neugierigen Zeitgenossen angesprochen wurden und ohne Umweg nach Hause kommen. Die Sache war die. Mit vierzehn Jahren mussten junge Mädchen in ein sogenanntes Pflichtjahr, seit Beginn des Krieges wurde sie dienstverpflichtet und in einem Rüstungsbetrieb eingesetzt; der Staat lenkte also ihre Arbeitskraft in eine dem Krieg dienliche Richtung.
Wir gingen am Stadtwall entlang; ich fragte Mama nach Herrn von Oe, ihrem Grafen, aber sie gab ausweichende Antworten. Am Bahnhof angekommen, wurde uns gesagt, der Zug habe Verspätung, wir gingen ins Bahnhofsrestaurant. Aufgrund unserer Zugehörigkeit zur besseren Gesellschaft Müllhaeusens waren wir hier bekannt, zumindest Mama war es. Erinnere ich mich zutreffend, dann war sie im Saal erster Klasse einst zur Zwiebelkönigin gekürt worden, eines der rustikalen Volksfeste unserer Gegend. Wir bekamen also von dem knapp gewordenen Wein des Hauses, während wir auf die Ankunft des Zuges warteten. Das Lokal war schwach besucht; ein paar Landser hockten um einen Tisch und glotzten trübe in ihr Dünnbier. Schräg von uns am Nebentisch bemerkte ich einen Herrn, der im Thüringischen Boten, unserer Heimatzeitung las, und ab und zu einen Blick über den Zeitungsrand zu uns herüberschickte. Er nickte meiner Mama zu, und sie grüßte zurück; der Herr tat nichts, um mit uns bekannt zu werden. Nervös entnahm Mama ihrem Etui eine Zigarette und klopfte den Tabak fest, plötzlich warf sie ihr Glas um, stieß einen kleinen Schrei aus und nun endlich faltete der Herr seine Zeitung zusammen, stand auf und trat an unseren Tisch. Mit einer zuvorkommenden Geste bot er Hilfe an, fragte, ob man sich nicht kenne; vom Geschäft, Ponte am Markt, kam ihm Mama zu Hilfe. Erfreut nickte er; sie hielt ihm ihre Rechte, den Handrücken nach oben auffordernd hin und ich erlebte zum ersten Male das Ritual eines wahrhaftigen Handkusses. Indessen dachte ich, dass sie entschieden Glück bei Glatzköpfen hatte, denn der ihr den Handrücken geküsst hatte, war Träger einer spiegelnden Kahlkopfes. Mama bezichtigte sich des Ungeschickes, worauf er sagte, es mache nichts, komme man sich doch auf diese Weise näher; Ponte, das Uhrengeschäft am Markt; habe er sie dort nicht schon gesehen? Sie nickte und setzte sich zu ihm hinüber; ich blieb zurück, allein, nachdenklich und betroffen. Was heißt, Ponte am Markt, dachte ich. Gräfin Oe doch mit einem gräflichen Sohn, wenn auch nur adoptiert! Wenn alles gut ging. Jakob Maria Ponte von Oe? Fabelhaft.
Der Kellner kam und zog das Tischtuch ab, höhnisch bemerkend, dass die Huren immer frecher würden, und ich begriff sogleich, dass diese Injurie gegen Mama gerichtet war, und setzte mich unter Protest, ohne die Einladung abzuwarten, hinüber an ihren, also an den anderen Tisch. Mama blieb nichts übrig als mich vorzustellen, ihren lieben kleinen Jungen, einer Halbwaise, da sie so gut wie verwitwet sei, meine Mahnung überhörend, dass wir eigentlich gekommen seien, um meine Base Helene abzuholen. Gehässig blinkerte sie mich an, und blies mir ihren Zigarettenrauch ins Gesicht, und sie trank ein Glas nach dem anderen und würde in Kürze nicht mehr handlungsfähig sein, wie ich voraussah. Schließlich reagierte sie nicht einmal auf meine kühne Erfindung, ihr Gatte, Herr von Oe, erwarte sie, da er überraschenderweise auf Urlaub gekommen sei, ihrer Behauptung, ich sei Halbwaise und sie Witwe offen widersprechend. Der Kahlkopf musterte mich aufmerksam und mit abweisender Kälte; leise sprach er auf Mama ein. Ich aber, spürend, dass er mich zu entfernen trachtete, fürchtete ihn nicht, sondern blieb ruhig sitzen, stand ich doch in einem innigeren Verhältnis zu Mama als er. Auch legte er oft wie zufällig seine Hand auf ihren Arm, und sie nahm diesen nicht weg, was sie meiner Meinung nach hätte tun müssen. Hin und wieder lächelte der Kerl und sie schüttelte den Kopf, verführerisch lachend wie Marika Rökk, und ich sah, dass ihr Nein keineswegs eindeutig ausfiel. Über ihren Verrat verstimmt, sah ich ihr ins Gesicht. Auch das war also Mama. So hatte sie vielleicht mit dem Argentinier gesessen, rätselhaft und verrucht aussehend und Zigaretten rauchend, ein gefährliches unberechenbares Wesen. Sie trank immer schneller; da zog ich mich beleidigt zurück und ging auf den Bahnsteig.
Dort stand ein junges Mädchen, einen halben Kopf größer als ich, mit dünnen Unterarmen, die aus einer verschossenen Strickjacke hervor sahen; entsetzt beschloss ich, die Verwandtschaft mit dieser Vogelscheuche bis zum äußersten zu verleugnen, falls es sich wirklich um meine Cousine Helene handeln sollte. Sie suchte offenbar nach jemand, ließ aber ihr Gepäck, eine Tasche, nicht aus den Augen. Unter keinen Umständen konnte ich mit ihr bei Tageslicht durch die Stadt gehen ...
Seht, junge Menschen urteilen in der Regel oberflächlich! Die Zeit verstrich, meine Cousine stand hilflos auf dem Bahnsteig; zuletzt senkte sie den Kopf und weinte jämmerlich, was einen Umschwung in meinen Gefühlen herbeiführte. Sie war schutzlos, sie bedurfte meiner Hilfe, so trat ich näher und gab mich zu erkennen. Aufschluchzend fiel sie mir um den Hals und befeuchtete mein Gesicht. Um dieser Heulerei ein Ende zu machen, winkte ich einen alten hinkenden Dienstmann und übergab ihm die Tasche, hieß ihn vor dem Bahnhof auf uns warten und führte Helene ins Bahnhofsrestaurant, um Mama abzuholen. Der war unterdessen jedes Urteil abhandengekommen; sie hielt mit hochrotem Kopf die Hand des kahlen Herrn, oder er hielt ihre; gleichviel.
Ich sagte mir, dass sie für die nächsten Stunden ausfallen würde, gab daher keine langen Erklärungen ab, sondern verlangte einfach Geld. Sofort langte der Herr in die Tasche und gab mir einen Zwanzigmarkschein. Als Gegenleistung versprach ich ihm, zu Hause zu sagen, Mama sei dienstlich aufgehalten worden und käme später. Darauf klopfte er mir auf die Schulter und bezeichnete mich als einen brauchbaren Menschen.
»Brauchbarer Mensch? Mit dem hat alles angefangen«, rief Mama schrill und auf mich deutend. Wir traten auf den Vorplatz. Den Dienstmann schickte ich ins Knochenhauerinnungshaus mit dem Bescheid, die jungen Herrschaften kämen nach. Zielbewusst handelnd, benahm ich mich gleichmütig und überlegen, aber diese Haltung lässt sich leicht als Ergebnis meiner Selbsterziehung erklären; ich war ein junger Mensch, der seine Angelegenheiten schon mit Umsicht zu ordnen wusste. Meiner Cousine zuliebe trat ich entschiedener auf, als es mir zukam. Fremd in der Stadt, getrennt von Zuhause, ohne Freunde, das war schlimm genug. Wir schritten zum Stadtwall, indessen ich auf die Baudenkmäler, den Turm, das Gymnasium, unsere Kirchen hinwies, aber Helene hörte nicht zu. Sie war in Gedanken noch bei dem Auftritt im Bahnhofsrestaurant.
»Säuft sie immer so viel?«, fragte sie. Ich gab gemessen zur Antwort: Meine Mama sei im Allgemeinen eine Heilige, sie säuft nicht. Bedrückt setzte sich Helene auf eine Bank am Wall. Die Hände vor das Gesicht gelegt, schluchzte sie schon wieder. Das Heulen machte mich nervös; ich musste es ihr abgewöhnen. Sie fragte, ob es hier oft Fliegeralarm gebe. Ich verneinte und betrachtete ihr Gesicht aus der Nähe. Helene hatte grüne Augen, rotes Haar und einen übergroßen, gegen die weiße Haut scharf abgesetzten Mund. Freilich lag in ihren Zügen auch eine patzige und freche Herausforderung. Schließlich berührte ich ihr Haar; es knisterte wie elektrisch geladen. Überrascht sah sie mich an, verächtlich die Lippen schürzend. Kühn legte ich meinen Arm um ihre Schulter. Plötzlich weinten wir beide über das Ausgestoßensein, ich über ihre schöne Seele, sie über sich selbst, zwei verlassene Kinder im einsamen Stadtpark, deren Eltern mit anderem beschäftigt waren. Wir schlossen Freundschaft; was mich betraf, so war ich entschlossen, sie zu meiner Frau zu machen, also gelegentlich zu heiraten, was denn auch wahr wurde, als die Entscheidung herangereift war ...
Mit Helene war ein Element der Unruhe, etwas Revolutionäres in unser bürgerlich-mittelständisches Haus gekommen. Zum ersten Male lebte ein Mädchen dauernd in meiner Nähe, eines, das ich roch, fühlte und schmeckte. Unter den Strahlen, die dieses Wesen aussendete, gedieh ich wie Unkraut in einem Kornfeld. Von Helene erfuhr ich endlich etwas über meine Tante, ihre Mutter. Sie war fortgezogen, um den Siemens-Werkmeister, den Berliner Karl Buder zu heiraten, was keiner begreifen konnte. Wie vermochte ein Mensch zu existieren, ohne etwas zu verkaufen oder zu reparieren und Anspruch auf den Titel Frau und Herr zu erheben? Die Provinz verband nicht immer und nicht überall mit dem Begriff Werkmeister eine