Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
Читать онлайн книгу.ich manchmal den Dummen spielte, um sie zu einem ihrer Trostsprüche zu veranlassen oder um sie loszuwerden. Später bin ich ein Opfer dieser Rolle und meiner Torheit geworden, aber was weiß ein Knabe von der Tragik des Weiblichen, nach Schnitzler, wenn er meint, im weiblichen Wesen das ihm nahe und angenehme gefunden zu haben.
Eines Tages also nahm mich Mama bei der Hand und besuchte mit mir das altehrwürdige Gymnasium. Um es gleich zu bemerken, die Schule selbst habe ich nie betreten, weil das Rektorzimmer in einem gesonderten Haus untergebracht war, in dem auch die Wohnung des jeweiligen Herren über einige Generationen Pennäler lag, allerdings nur, solange er bedienstet war. Danach hatte er die Wohnung für seinen Nachfolger zu räumen, falls man ihn nicht gnadenhalber weiter wohnen ließ.
Unterwegs beim Gang unter den alten Bäumen des Stadtwalls wurde mir flau; ich wäre am liebsten wieder umgedreht. Auf dem trüben Wasser tummelten sich Enten, wie gern hätte ich mit ihnen getauscht. Das Steintor auf dem Wall stand fest da wie eh und je, und ich empfand, um wie viel Sachen dauerhafter sind als menschliche Wesen, denn dieses steinerne Ding hatte alle und alles überlebt.
Wir warteten im Flur, um vorgelassen zu werden. Dunkel stand Mamas Profil gegen das Fenster und mir fiel auf, dass ihre Nase ein wenig aufwärts gebogen war, zum Himmel zeigte, und dass sich ein Doppelkinn zu bilden begann, was ihr nicht übel stand. Ihre hohe, hinten aufgesteckte Frisur erlaubte es ihr, den kleinen Hut weit ins Gesicht zu ziehen. Endlich durften wir ins Zimmer des Direktors eintreten, eines kleinen dicken Menschen mit einem Kugelkopf. Zwischen seinen Lippen sahen zwei große Schneidezähne hervor, wie die Nagezähne eines Kaninchens, er konnte offenbar den Mund nicht ganz schließen, und ihn übrigens auch nicht halten, wie sich schnell erweisen sollte. Überhaupt erinnerte der Mann ein wenig an einen Rammler, vielleicht weil er den Kopf einzog und die Ohren an den Kopf legte, wenigstens meinem Eindruck nach, wenn er eine seiner hinterhältigen Fragen an uns gerichtet hatte. Eilfertig notierte er meinen Namen, als wolle er sich meiner unwiderruflich versichern. Eher beiläufig ließ er sich meine Zeugnisse der Volksschule zeigen; ich hoffte allerdings, dass ihn meine elenden Leistungen abschrecken, und dass er mich zurückweisen würde, allein dem war nicht so …
»Soweit bei Jakobs Leistungen die Einschulung in ein Gymnasium überhaupt möglich ist«, sagte Mama heuchlerisch; sie würde mich gegen alle Widerstände hier eingeschult haben, falls sie es sich in den Kopf gesetzt hatte. »Er soll eine klassische Bildung erhalten«, setzte sie nach. Ich fand es nur dumm, mich herauszustreichen, denn ich sah mehr als sie; dieser Mensch interessierte sich nicht für die Benotung meiner Leistungen; er hatte offenbar andere Gründe Schüler zu angeln. »Ah, ja, natürlich. Sie sind gewerbetreibend?«
»Meine Eltern sind es«, erklärte Mama. »Wie mein Gatte, Herr von Oe, gehöre ich augenblicklich der Luftabwehr bei der Außenstelle Weimar an«.
Der Direktor nickte, als habe er vorausgesehen, dass Mama von der Gewerbetreibenden zur Gräfin aufgestiegen war und gerade die Feindflieger am Himmel aufspürte, um sie der Vernichtung durch unsere Nachtjäger auszuliefern, was freilich leider nur noch selten gelang. Dann wechselte der Direktor das Thema. »Hat bei dem jungen Mann die Pubertät schon eingesetzt?«
Ausgeschlossen, das müsse sie als Mutter doch wissen, sagte Mama entschieden, die im Grunde ja nichts von mir wusste, die kaum sich selber kannte und der meine Entwicklung ebenso ein Rätsel gewesen seine dürften wie mir selber. Nebenbei bemerkt war ich bei der Entdeckung einiger Haare an den in Betracht kommenden Körperstellen von selbst darauf gestoßen, dass sich in mir etwas fürchterlich Neues abspielte.
»Glauben Sie einem alten Schulmann, es gibt mehr Dinge in einem Pennälerleben, als wir uns träumen lassen«, erklärte der Direktor überzeugt. Da es Zeit wurde einzugreifen, weil ich plötzlich Lust verspürte, in dieser Einrichtung aufgenommen zu werden, wenn auch nur, um zu erfahren, was Pubertät bedeutete, sagte ich mit fester Stimme, dass ich mich freuen würde auf die Hohe Schule zu kommen, dass es immer mein sehnlichster Wunsch gewesen sei, der höheren Bildung teilhaftig zu werden. Misstrauisch beäugte mich der Schulmensch; er traute mir sichtlich nicht, womit er durchaus recht hatte. Ein solches Schülerexemplar mag ihm in vierzig Jahren nicht vorgekommen sein. Er zog einen Fragebogen aus der Schublade, legte ihn vor sich hin und trug die Daten unserer äußeren Verhältnisse ein, Adresse und Geburt, was alles in einen Fragebogen gehört. Bis zu der Frage, ob ich schon Mitglied des Deutschen Jungvolkes sei, ging alles gut. Es entstand eine Pause und ich dachte, was kommt nun noch? Sich zurücklehnend, beherrscht aber siegesgewiss mit dem Bleistiftende auf die Tischplatte klopfend, sprach der Direktor leichthin verschlagen genug, es fehle nur noch eine Kleinigkeit, der arische Nachweis, wie er nunmehr laut Gesetz von jedem vollwertigen jungen Deutschen verlangt werde, zum Schutze des deutschen Blutes. Anders gehöre der jeweilige Kandidat in eine Konfessionsschule, ja wenn sich denn hier noch eine finde, was man im Schulamt beim Rathaus erfragen könne. Wie sie wisse, dürften Juden und Mischlinge in keine deutsche Schule mehr aufgenommen werden. »Aber«, sagte er still, »es ist ja noch Zeit genug, bis zu seiner Umschulung, das Rassezeugnis zu beschaffen.«
Bestürzt blickte Mama zur Seite; um Zeit zu gewinnen, entnahm die ihrer Handtasche ein kleines umhäkeltes Tuch und tupfte sich die Mundwinkel, aber ich sah, dass ihre Hände zitterten. Dann steckte sie es wieder ein und knipste die Tasche zu, was ein scharfes Geräusch gab, und wie eine Kampfansage klang. Von diesem Augenblick an konnte ich in diesem Schulfuchs nur einen persönlichen Feind sehen. »Nun, ich kenne ihr Geschäft am Markt, ihre alteingesessene geschätzte Familie. Ihren Herrn Vater, einen Parteigenossen, kenne ihn von der Liedertafel; wie ich schon sagte, beschaffen Sie den Nachweis, bei Ihren Verbindungen eine reine Formsache natürlich«, wiederholte der Direktor. »Ihr jetziger Gatte ist aber nicht der Vater ihres Sohnes, wie?« Hieraus ersah ich, dass Mama mit ihrem Fehltritt der Stadt einen dauerhaften Gesprächsstoff geliefert hatte, was dieser Hasenmann gewissenlos ausnutzte, um uns bloßzustellen. »Nein«, sagte Mama kalt, »aber ich werde mich bemühen, Ihnen das verlangte nachzureichen.«
Im Stadtpark auf dem Rückweg entlud sich ihr Zorn. »Was denkt sich dieser Affe eigentlich? Woher soll ich für dich einen arischen Nachweis nehmen?«
»Vielleicht von Doktor Wilhelmi«, schlug ich nichts ahnend ahnungsvoll vor, womit ich zwar auf dem richtigen Wege war, ohne einen Grund für diesen Vorschlag bei der Hand zu haben, aber nicht gut bei Mama ankam. »Werde nicht unverschämt«, rief sie aus, »du hast ja keine Ahnung, um was es hier geht.« Doch ich hatte diese Ahnung und sprach aus, was alle dachten oder wussten, unter Umständen der unerwünschte Spross eines schäbigen Hebräers zu sein, somit ein Mischling. Will noch hinzufügen, dass ich mich nicht etwa schämte, sondern mich eher für einen interessanten Sonderfall hielt.
»Bist du verrückt? Seh’ ich aus wie eine Jüdin?« Obschon ihre Person nicht infrage stand, zeigte sie auf ihre Nase und auf ihre langen seidenbestrumpften und sehenswerten Beine. »Sind meine Beine vielleicht krumm wie bei den Juden? Mein Haar ist blond, früher war es sogar hellblond. Innerlich war ich überhaupt immer blond. Jetzt trag ich das Haar ein wenig gebleicht, wie in der Reichhauptstadt üblich. Seinerzeit ist in diesem verfluchten Nest viel geklatscht worden. Also halte besser den Mund und warte alles ab.« Ich schwieg, als ich sah, dass sie mich nicht verstehen wollte, da es ja nicht um sie ging, bei der die Beschaffung des Ariernachweises keine Schwierigkeiten gemacht hätte, sondern um jenen Herrn, dem ich meine Existenz verdanken sollte.
Am Abend tagte der Familienrat. Hochwürden, von dem sie Zuspruch erwarteten, sah gedankenverloren hinunter auf dem Markt. »Nun sagen Sie was«, fuhr ihn Großmutter an, »da unten finden Sie keine Antwort, was soll aus Jakob werden? Was soll Maria tun? Seien Sie jetzt kein Dummkopf und halten Sie keine Kanzelrede. Geben Sie einen praktischen Rat«, drängte ihn Großmutter. »Soll dieser Graf Jakob adoptieren? Ja, wenn es ihn denn gibt.« Aber mein Wahlvater schwieg und blickt weiter hinunter auf den Mark und sagte nachlässig, wer weiß, wie lange alles noch dauere. Man könne ja tatsächlich kaum etwas anderes machen als abwarten …
Mama fuhr endlich zurück nach Weimar; ihr Fall wie auch der meine blieb also vorerst ungelöst. Eines Tage stand eine Frau mit einem zu groß geratenen Knaben im Laden und zeigte ein amtliches Schreiben vor, die Einweisung in unsere Wohnung, gegen die Großmutter im Rathaus zwar sogleich Sturm lief, weil wir selbst schon beengt genug seien, aber gar nichts ausrichtete, trotz ihrer trefflichen Beziehungen