Flucht aus dem Morgengrauen. Marc Lindner

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Flucht aus dem Morgengrauen - Marc Lindner


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die Masse, irgendetwas störte den Strom. Die Menschen flossen nicht mehr inein­ander, wurden fast aufgewirbelt. Sie drängten sich immer mehr auf die Seite, auf der ich mich näherte. Vorsichtig ließ ich mich Richtung Mitte treiben, denn ich wollte mich nicht durch diese Menge drängen. Wieder stürzte eine Frau von der and­eren Seite her und tauchte nickend nein sagend in der Masse unter. Es sah irgend­wie gestört aus, so als hätte sie vor etwas Angst. Ich fragte mich, was das nur sein konnte. Etwas, das eine solche Macht ausübte, dass es die Ströme der Menschen gar zu lenken vermochte. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, zu gespannt war ich auf die Geschichte, die ich dort würde lesen können. Wie bezaubert ließ ich mich weiter nach rechts treiben. Ich hatte keine Angst, nicht wie die Menschen vor mir. Und dann sah ich es. Auf dieser Seite kam mir niemand entgegen. Alle hatten sie sich bereits auf die andere, nun über­füllte Seite zusammen­gerottet.

      Dort stand eine Frau mit geschmeidigem langem Haar. Oder besser, sie irrte umher, ständig im Kreis, und versuchte sich einen der Passanten zu angeln, doch diese strömenden Fische wichen ihr unentwegt aus. Manche geschickt und unauffällig, andere mit heftig rudernden Armbewegungen, und wieder andere zögerlich und den Kopf nach unten senkend. Und ich las voller Genuss. So viele einzelne Geschichten, die sich zu einem Roman zusammenfügten. Nur eine Person konnte ich ausmachen, nur diese eine Frau, wie sie dort tanzte. Einzig ihr Gesicht konnte ich in der sich lichtenden Masse erkennen. An­sonsten waren es nur namenlose Rücken, die wie Statisten ihre Rolle ausfüllten. Die vielen dahin fließenden Menschen drohten ihre zierliche Gestalt zu ver­bergen, doch so wie bei einem Feuerwerk in der Nacht, strahlte die Frau mit ihrem gewinnenden Lächeln dazwischen. Die Geschichte reizte mich immer mehr, denn obwohl sie so anziehend wirkte, flohen die Leute, wie vor einem Feuer. An sich mochte ich Feuer, wie es so aufbegehrend seinen Platz bean­spruchte. Vielleicht war es, weil es solch einen Gegensatz zu meinem Wesen dar­stellte. Ich war eher wie friedlich fließendes Wasser, ein stiller See. Wir beide wollten unsere Freiheit, doch so, wie es sich das Feuer stets an der Oberfläche suchte, so tauchte ich in die Tiefe.

      Immer weiter ging ich, wie durch einen Wald und immer besser konnte ich das Feuer erkennen, das dort tobte. Die Frau wirkte nicht aggressiv und doch schien sie niemanden vorbei lassen zu wollen. In ihrer Hand hielt sie einen schwar­zen Stab, doch noch konnte ich nicht erkennen, was es war.

      Von ihr in die Flucht geschlagen, stoben die Passanten auseinander und so ließen die Schatten, die sich mir in dieser Geschichte präsentieren wollten, meinen Blick frei und ich erkannte noch einen Mann, der stets hinter der Frau herlief. Auf seiner Schulter trug er eine schwere Kamera, die er den Passanten ins Gesicht drückte. Jetzt verstand ich die Leute, jene, die davon liefen.

      Die wollten hautnah dabei sein, diese Medien, da wurde einem schnell kalt, wenn die einem seine Geheimnisse stahlen und einen nackt zurück ließen, aus­ge­beutet, wie ein Schlachttier.

      Doch ich ließ mich nicht jagen. Mich versteckend, senkte ich den Blick. Fast wie ein Strauß, dachte ich und musste für mich lachen. Um mich herum wurde es schnell leer, doch ich wollte nicht einlenken, nicht nachgeben, diesem Druck, den die Anderen mit ihrer Angst auf mich ausübten. Ich blieb mir und meiner Linie treu. Ich wollte ein neues Leben, da konnte man nicht jeden an einem zer­ren lassen, wo käme ich dann hin? So schlich ich weiter und glaubte mich an dieser Inbrunst vorbei, als eine zierliche und doch erschreckend kräftige Hand sich fast freundschaftlich auf meine Schulter legte. Da meine Füße bisher den Weg bestimmt hatten, konnte ich es nicht ändern, als diese beschlossen stehen zu bleiben. Noch ehe ich mich umdrehen konnte, begann die Frau damit ihren Text herunter zu spulen. Es ging bei mir zu einem Ohr rein und ohne, dass es sich die Mühe gemacht hätte, den Umweg über mein Kurzzeitgedächtnis zu be­strei­ten, empfahl es sich gleich, und schlich, auf der anderen Seite des Kopfes, am Trommelfell vorbei, ohne eine Visitenkarte zurückgelassen zu haben. Lang­sam, beinahe schwerfällig drehte ich mich um und mich traf fast der Schlag, als ich mich einer jungen, ausgesprochen hübschen Frau gegenübersah. Mit einem aben­teuerlustigen Lachen auf den blutroten Lippen und einem feurigen Glanz in ihren tief braunen Augen strahlte sie mich an. Mein Herz schlug mir gegen die Kehle, da ich nicht wusste, was mich erwartete. Mit meinem dürftigen Wis­sen über solche Überfall­kommandos vermutete ich, dass sie sich und den Sender eben vorgestellt haben musste. Mit einem Blick auf die Kamera im Hinter­grund, die nun auf mich gerichtet war, gewann ich die Kenntnis über den Namen des Senders. Doch selbst ein weiterer Blick oberhalb ihrer wenig be­deck­ten Brüste ließ mich kein Namensschild entdecken, das mich über ihre Identität hätte aufklären können. So entschloss ich mich zu einem passiven Ge­spräch und beabsichtigte es nicht, sie anzureden.

      Doch noch wartete sie und ihre Lippen vollführten merkwürdig verwirrende Beweg­ungen, während sie mich mit interessierten Blicken durchleuchtete. Sie wartete auf etwas, doch ich beließ es bei einem etwas neugierigen Blick, den ich ihr und ihrem Kameramann schenkte. Ich wusste genug über diese Medien­vertreter, um mir sicher zu sein, dass sie bald wieder reden würde. Die hatten einfach keine Geduld, ich aber schon. Sie wollten alles wissen, und am besten sofort. Doch diesen Dienst war ich nicht in der Lage ihr zu erfüllen. Und so lächelte sie mich nochmals an, und ich glaubte, dass sie der Meinung war, mich mit diesem Benehmen an sich binden zu können. Von ihrem Selbst­vertrauen be­ein­druckt, dachte ich nicht einmal daran hier weg zu wollen und machte mich sogleich daran, in ihrem bepinselten Gesicht zu lesen. Es war wie eine übereilte Zusam­menfassung von vielen Büchern und ich konnte mich nicht entsinnen, einmal eine Geschichte gelesen zu haben, die sich mit einer solch beein­druck­enden Anzahl von Fragezeichen hatte schmücken können. Ihre Augen hatten keine Ruhe, ständig waren sie am Suchen und ihr Mundwerk, außerordentlich ge­schwungen, war es nicht gewohnt, in einer Position zu verharren. Allmählich drang die Wärme ihrer Hand durch meinen dünnen Pullover, da sie diese noch im­mer auf meiner Schulter ruhen hatte. Fast wie eine Umarmung, nur dass sich die Kamera noch dazwischen zu drängen versuchte.

      «Würden Sie für eine Million Euro zu Fuß um die Welt gehen?», wiederholte sie endlich und strahlte mich dabei an, doch ich merkte, dass es mehr der Kamera galt als mir.

      «Ja», antwortete ich spontan. Doch sie ließ sich nicht beirren.

      «Bedenke doch, wie viel du dir dafür leisten könntest», wollte sie mich weiter über­reden. Mir gefiel die Show und so ließ ich sie weiter laufen und erwiderte ihr ein Lächeln, ohne mich daran zu stören, dass wir nun bei einem fast brüder­lichen «Du» waren.

      «Und wie schön das wäre, das alles zu sehen, wie ein richtiger Abenteurer. Willst du es dir nicht doch überlegen», fragte sie abermals und zeigte der Kamera die volle Pracht ihrer Zähne.

      «Ja, ich mach es!» Zu meinem Erschrecken stellte ich fest, wie gefasst ich blieb.

      «Und die schöne Wüste, tiefe Wälder ...», wollte sie weiter­fahren, als ein korpu­lenter Herr neben sie trat und sie fast gebieterisch zur Seite stieß.

      «Er hat doch ja gesagt», fuhr er sie an.

      «Konrad Hartmann, mein Name, von der Intexacon AG», stellte er sich mir vor und musterte mich von oben bis unten, und die lange Zigarre, die er immer nur kurz aus seinem Mund nahm, hüllte mich gleich in dicke Rauchschwaden. Er brauchte nicht viel zu sagen, damit ich ihn kennenlernte. Sein breites Gesicht war wie ein offenes Buch. Und ich las bereitwillig, und erkannte, wie gerne er mit mir spielte. Und ich wollte ihn nicht enttäuschen.

      «Also für die Tante hier zum Mitschreiben: Du willst allen Ernstes für eine Million die Welt umrunden? Weißt du eigentlich, wie weit das ist?», fragte er mich, da er zwar seinen Ohren, nicht aber mir glaubte.

      «40 000 km längs dem Äquator. Und ja, für eine Million würde ich es tun», grinste ich ihn an und erntete als Reaktion viel zum Lesen.

      «Aber du wirst gut zwei Jahre unterwegs sein», meldete sich die Moderatorin zu Wort.

      «Das macht 500 000 pro Jahr, das ist doch nicht schlecht», hielt ich ihr völlig ge­las­sen entgegen.

      «Hast du ein Glück, dass wir nur testen wollten, ob sich einer kaufen lassen würde, sonst müsstest du jetzt wirklich gehen», lachte sie hörbar verunsichert.

      Darauf zuckte ich mit den Schultern und setzte ein enttäuschtes Gesicht auf.


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