Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt

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Kalter Krieg im Spiegel - Peter Schmidt


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trug eine zusammengefaltete Zeitung unter dem Arm. »Herauszukommen ist leichter als herein«, lachte er. »Von dieser Seite aus braucht man einen Schlüssel.«

      »Wo, zum Teufel, waren Sie?«

      »Spazieren. Und eine Zeitung kaufen.«

      »Wissen Sie nicht, dass ein halbes Dutzend Journalisten und Bildreporter in West-Berlin mit nichts anderem beschäftigt ist, als Sie aufzustöbern?«

      »Na wenn schon«, sagte er. »Ich habe den Sozialismus überlebt und werde es schon noch schaffen, es mit ein paar von diesen Meinungsverdrehern im Westen aufzunehmen.«

      »Da bin ich nicht so sicher.« Ich fluchte leise durch die Zähne und trat beiseite, um ihn in den Fahrstuhl zu lassen. Während wir hochfuhren, fragte ich: »Wie haben Sie die Tür aufbekommen?«

      »Das war einfach«, grinste er. Der gewöhnlich gradlinige Ruck seines Kopfticks beschrieb einen fast unmerklichen, vergnügten Schlenker.

      »Wie, verdammt noch mal?«

      »Also – Kruschinsky schlief, und da ich ihn nicht wecken wollte – Sie wissen schon: ich war früher Kriminologe, und bin es immer noch in gewisser Weise; ich glaube, ich habe ein übernormal gutes Gedächtnis, das es schwerer hat, etwas loszuwerden, als es festzuhalten. Vielleicht sogar eine eher pathologische Angelegenheit … Aber Sie wollen erfahren, wie ich den Kode entschlüsselt habe, nicht wahr?«

      »Spannen Sie mich nicht auf die Folter.«

      »Ich werd‘s ihnen zeigen.«

      Kruschinsky musterte uns ungläubig, als wir hereinkamen. Kofler ging an das Tastenfeld und drückte gegen die überstehende Abdeckscheibe.

      »Wenn man jetzt in den Sichtschacht sieht, sind die Zahlenfelder so weit versetzt, dass man die Birnchen darunter erkennen kann. Sehen Sie, dass einige schwärzer sind als andere? Nur ganz leicht, aber wenn man genauer hinschaut, kann man es deutlich erkennen. Die geschwärzten sind es, die öfter gebraucht werden: vier Zahlen. Drei, vier, fünf, neun. Dafür gibt es nur vierundzwanzig mögliche Kombinationen, wenn ich richtig gerechnet habe – und man versuchsweise davon ausgeht, dass keine der Zahlen sich in der Viererkette wiederholen darf. Es war die sechzehnte Kombination«, erklärte Kofler nicht ohne Stolz und zog einen zerknitterten Zettel aus der Manteltasche.

      Er hielt ihn mir grinsend unter die Nase.

      Die möglichen Kombinationen waren säuberlich in vier Sechser-Blöcken aufgeführt: jeder mit einer anderen Anfangszahl, dann die Variationen der zweiten, der dritten Zahl und so weiter.

      Nachdem er mir den Zettel gereicht hatte, kehrte er mit der Zeitung unter dem Arm in sein Zimmer zurück. Ich beobachtete, wie seine leicht vorgebeugte Gestalt noch in der halb geöffneten Tür den dünnen Popelinemantel auszog.

      Kruschinsky begann Kaffee aufzubrühen. Fast mechanisch folgte mein Blick seinen Handgriffen – wie er den Filter einsetzte, sechs gehäufte Löffel Kaffeepulver in das Behältnis gab und den Kessel mit kochendem Wasser von der Herdplatte nahm. Nachdenklich kehrte ich in mein Zimmer zurück.

       Was hatte Kofler uns mit diesem Ausflug beweisen wollen? Dass er clever war?

      Eher das Gegenteil wäre in seiner Lage plausibel gewesen. War er einfach nur naiv, arglos?

      Oder bestand seine Gerissenheit genau darin, das Unerwartete zu tun – uns von dem konventionellen Erwartungsschema, wie sich ein Mann in seiner Situation verhielt, abzubringen?

      Aber welchen Sinn sollte das haben?

      Ich zuckte die Achseln und setzte mich auf den Holzstuhl am Schreibtisch.

      Nach einer Weile kam Kruschinsky herein.

      »Er bittet uns, mit ihm zu frühstücken.«

      »In Ordnung«, nickte ich. »Gehen Sie schon vor.«

      Gewöhnlich frühstückten wir nicht mit unseren Klienten, obwohl es eine persönliche Atmosphäre erzeugt hätte, die der Verständigung dienlich war. F. besaß sehr genaue Vorstellungen darüber, wie solche Verhöre abzulaufen hatten. Er sah eine Gefahr darin, dass seine Kandidaten versuchten, den gegnerischen Agenten mit ihrer persönlichen Masche des Mitleids, der Sympathieübertragung und Anteilnahme einzulullen und übers Ohr zu hauen. Wenn Koflers Spaziergang einen ähnlichen Effekt hatte, dann wohl den, durch seine Rückkehr dem Verdacht ein wenig an Boden zu entziehen, Zweifel auszustreuen.

      Womöglich hatte er aber auch draußen mit seinen Leuten Kontakt aufgenommen, neue Order eingeholt und über Komplikationen berichtet? Der Tag war günstig dazu. Wegen des Nebels war die Sichtweite gering, und für einen Verfolger wäre es schwierig gewesen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, wenn Kofler es darauf angelegt hätte.

      Als ich in sein Zimmer kam, hatte Kruschinsky gedeckt. Das Ganze erinnerte an eine mittelgroße, etwas biedere Frühstückspension mit seiner billigen karierten Wachstuchdecke. Sogar eine Vase mit gelben Osterblumen stand auf dem Tisch, Plastikblumen, nahm ich an.

      Kofler goss sich Kaffee ein. Er forschte in meinem Gesicht, als ich mich setzte. Und als ich nicht reagierte, spielte ein dünnes Lächeln um seinen Mund …

      »Sie beide hier in diesem öden Gefängnis – denn ein Gefängnis ist es doch, oder? – erledigen Sie Ihre Arbeit eigentlich aus Überzeugung?«

      »Was bitte …?«, fragte ich.

      »Vielleicht ist es ja eine indiskrete Frage. Aber ich bin doch wohl nicht der erste hier? Und ich kenne auch nicht den genauen Grund, warum Sie Ostflüchtlingen auf den Zahn fühlen.

      Gut, man will mich vor neugierigen Reportern schützen. Ihre Leute scheinen das mehr zu fürchten als ich! Aber es setzt doch auf Ihrer Seite – bei Ihnen persönlich – ein gewisses Maß an Überzeugung, Konformität voraus, und darüber würde ich gern etwas mehr erfahren. Ich versuche die westliche Mentalität zu verstehen. Es hat ein wenig mit meinem neuen Buch zu tun, mit der Frage, welche Kräfte uns – auf beiden Seiten – in den Konflikt treiben.«

      Kruschinsky setzte entgeistert seine Tasse ab.

      »Wenn es wahr ist, dass man immer wählen kann«, fuhr Kofler fort, » – und ich glaube daran, unter allen Umständen –, dann ist das, was Sie hier praktizieren, doch selbst nach minimalsten moralischen Gesichtspunkten nicht jene offene und freie Gesellschaft, von der man auch im Osten träumt?

      Einer meiner Kollegen im Westen hat einmal gesagt, wenn ich mich recht erinnere, war es in einem Interview, dass jeder letztlich dafür verantwortlich sei, was man aus ihm mache, selbst dann, wenn ihm später nichts anderes übrig bleibe, als nur noch die Verantwortung auf sich zu nehmen.

      Er sei davon überzeugt, dass der Mensch immer etwas aus dem machen könne, was man aus ihm mache – oder zu machen versuche. So gesehen frage ich mich, was Sie beide eigentlich dazu bewogen hat, für ein Regime zu arbeiten, dem man zwar ein beachtliches Maß an Demokratisierung und Wohlstand bescheinigen kann, aber nur wenig humanitäre Impulse, und das bei seinem Reichtum allenfalls einen mehr oder weniger trägen, erzwungenen und kapitalistisch verwässerten Sozialismus praktiziert – obwohl doch gerade ein Land mit Ihrer wirtschaftlichen Kraft am ehesten in der Welt in der Lage sein müsste, der Humanität eine Bresche zuschlagen.«

      Kruschinsky starrte ihn mit halbgeöffnetem Mund an. Er mochte alles erwartet haben – aber keinen akademischen Vortrag über politische Moral.

      »Welche Humanität meinen Sie?«, fragte ich. »Die der kommunistischen Partei?«

      Er schlürfte vorgebeugt an seinem Kaffee. »Ich habe nichts gegen Ihr Land«, erklärte er und blickte mich von unten herauf an. »Ich frage mich nur, warum die Reichsten nicht zugleich die Menschlichsten sind – warum Besitz in Habgier umschlägt und nicht vielmehr bei so günstigen Voraussetzungen die Grundlage für Vertrauen, Liebe und Aufrichtigkeit schafft …«

      »Die es in Ihrem Lande – ich weiß nicht, ob Sie sich zu den Polen oder Ostdeutschen rechnen – weder gegeben hat noch geben wird«, warf ich ein (ich hätte jetzt gern ein Ampheton


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