Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt

Читать онлайн книгу.

Kalter Krieg im Spiegel - Peter Schmidt


Скачать книгу
der Eigensucht und Machterhaltung, mit dogmatischen Lehren, bürokratischen Verknöcherungen, Meinungsmanipulationen und überflüssigen Indoktrinierungen. Wenn ich aber dort nicht einsehe, welche Notwendigkeit das alles hervorbringt – wegen der vollen Töpfe müsste es in Ihrem Lande um so humaner zugehen …«

      Kruschinsky hatte den Tisch abgedeckt. Ich blätterte in meinen Unterlagen – dann fragte ich:

      »Es gab Verbindungen Ihrer Universitätszirkel zu russischen Dissidentengruppen im Grenzbereich, oder? Zwei ihrer Führer sitzen zur Zeit in sibirischen Konzentrationslagern – einige untergeordnete Persönlichkeiten wurden verbannt –‚ einer starb bei einem Autounfall auf mysteriöse Weise, und ein vierter, den man lange zu den führenden Köpfen gerechnet hatte, verschwand spurlos.«

      »Dolgoruki aus Brest«, nickte er etwas voreilig. Schwieg dann aber nach einer kleinen Pause – und das dünne Lächeln um seinen Mund erstarb …

      »Sie sind näher bekannt mit ihm?«

      »Ich … nein.«

      »Sein Schicksal ist Ihnen nicht vertraut?«

      »Nein, wieso?«

      »Weil er Ihrem Kreis sehr nahestand.«

      »Schon möglich«, sagte er achselzuckend. »Vielleicht habe ich gelegentlich etwa darüber gehört und es dann wieder vergessen.«

      »Das ist kaum anzunehmen.«

      »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen«, meinte Kofler. Seine Stimme hob sich ungeduldig.

      »Ist es nicht wahr, dass gerade jene Kontakte mit Dissidenten im russischen Grenzbereich zu Ihrer Abschiebung führten? Die damals vergleichsweise liberale polnische Regierung wäre ohne diesen Einfluss und den Druck Moskaus kaum so rigoros verfahren.

      Doch kehren wir zu Dolgoruki zurück. Er verschwand. Schon bald erkannte er, dass es sich um einen Spitzel der Behörden handelte, wenn nicht sogar um einen Agenten des KGB. Sie gerieten selbst in den Verdacht, weil er monatelang in Ihrem Haus ein und aus gegangen war. Ich glaube, er hatte ein Verhältnis mit einer Ihrer Töchter.«

      »Das ist eine Denunziation«, erklärte Kofler scharf und fuhr sich mit einer nervösen Gebärde über das Gesicht. »Er machte meiner Tochter Anträge, um sich bei uns einzuschleichen. Zu jener Zeit trafen sich in unserem Haus viele Gleichgesinnte und Dolgoruki war daran interessiert, komplette Namenlisten zu erstellen, weil es unter den russischen Dissidenten der Gegend ein weitverzweigtes Netz von Kontakten gab, in das kaum jemand genügend Einblick besaß.«

      »Merkwürdigerweise fanden sich in der Namenliste – sie wurde später vollständig vor Gericht zitiert – einige Personen, die nachweislich erst nach Dolgorukis Zeit in Ihrem Haus verkehrt hatten. Das heißt, Dolgoruki hatte gar nichts von ihnen wissen können, und die Liste der Denunzierten musste entweder von jemand anderem stammen oder ergänzt worden sein.

      Trotzdem gab man sie unter seinem Namen aus. Ein peinlicher Fehler der Behörden. Ein weiterer Umstand scheint den Verdacht zu bestärken, dass Dolgoruki nicht der wirkliche Spitzel war, dass man ihn nur vorschob, um einen Agenten zu decken, dessen Name nie bekannt geworden ist.

      Dolgoruki lebt heute in einem Arbeitslager bei Petobirsk, wie wir nicht ohne Mühe herausfanden – kaum der Ort für einen verdienten Mitarbeiter des KGB.«

      »Und Sie glauben, ich sei dieser andere Denunziant?«

      »Natürlich sind Sie nicht der einzige Verdächtige.«

      »Warum sollte man mich abschieben, wenn ich für die Regierung arbeitete?«

      »In der Tat, das ist eine interessante Frage«, bestätigte ich.

      »Ein etwas obskurer Verdacht. Haben Sie keine überzeugenderen Hinweise?«

      »Dergleichen sollten Sie sich besser nicht wünschen.«

      »Ist das der wahre Grund, warum man mich hier festhält?«

      »Ich sagte schon – es handelt sich nur um eine Routineuntersuchung. In erster Linie aber will man Sie davor bewahren, für Tage oder Wochen zu einem Vorzugsobjekt der Presse zu werden, die Ihren Fall sofort über Gebühr hochgespielt hätte. Sie kennen die Gepflogenheiten des hiesigen Journalismus nicht.«

      6

      Der Bus nach Kladow schien sich zu dehnen und länger und länger zu werden – die Länge eines Personenzugs zu erreichen –, durch dessen Mittelgang ich weit entfernt und winzig den Mann am Steuer sehen konnte …

      Aber in Wirklichkeit war das Ganze, jetzt erkannte ich es immer deutlicher, eine Raupe mit grünlich schimmernder Haut, die sich, ein verwelktes Blatt im Maul, durch die Straßen wand …

      Ihre Scheiben vibrierten, die Türen zischten, die lange Röhre verformte sich wie ein Schuhkarton, während der Fahrer mit dem Rücken zur Fahrtrichtung beruhigende Worte an die Passagiere richtete …

      … und als eine Bodenwelle meinen Sitz über der Achse hochwarf, glaubte ich für einen Moment, durch das transparente Lüftungsfenster in der Decke hinausgeschleudert zu werden …

      Ich segelte über die Oberleitungen, spürte den Luftzug an Armen und Beinen und sah mich zugleich dort unten am Fenster sitzen: vorgebeugt, das Kinn auf der Lehne des Vordersitzes – ein untersetzter Mann mit dünnem Hals und ausgeprägter Hakennase. Doch das Merkwürdigste daran war, dass seine rechte Gesichtshälfte zu lachen schien, während die linke, als ich zur anderen Fensterseite herabstieß – es bestätigte meine Ahnung –, eher trübsinnig, weinerlich dreinschaute …

      Ich schlug von außen mit der flachen Hand gegen die Scheibe, um ihn zu warnen, aber der Mann auf dem Hintersitz schien mich nicht zu sehen.

      Er blickte mich mit leeren Augen an.

      Dabei stürzte der Bus durch die abschüssige Straße auf das größer und größer werdende Menschenpünktchen an seinem Ende zu, in dem ich mit Entsetzen Leo Kofler erkannte …

      Er stand in der Mitte der Kreuzung, beide Arme ausgebreitet, als empfange er einen guten Freund. Ich sah das Kreuz in ihm, das Symbol, das Opfer, das Lamm – und ich versuchte mich von meinem Sitz zu erheben …

       Das Ampheton, durchfuhr es mich siedendheiß – zu hohe Dosis!

      Doch meine Muskeln reagierten nicht mehr. Etwas, über das ich keine Gewalt hatte, hob meinen Arm und verscheuchte das bizarre Spiegelbild draußen vor der Scheibe, dessen Hakennase sich in den Rahmen krallte, während die Beine wie eine heraushängende Gardine im Fahrtwind flatterten …

      Noch immer sprach der Fahrer – den Rücken zur Fahrtrichtung und gegen das Lenkrad des rasenden Wagens gewandt – beruhigende Worte. Er war völlig haarlos, ohne jeden Flaum – es war F., ja, tatsächlich F.! –, wie ich jetzt erkannte, als er die Mütze abnahm und sich über den glänzenden Nacken wischte.

      Dann endlich erwachte ich – langsam, unendlich langsam – aus meiner Starre. Aber nicht ich war es, der sich erhob, sondern irgend etwas anderes in mir, eine unbekannte, fremde Kraft. Ich sah so deutlich, als stände ich neben mir, die Trennung meiner Gedanken, meines Entschlusses von der Kraft, die meine Muskeln bewegte. Ich winkte, gestikulierte – die Kreuzung, der Mann auf ihr … Ein Unglück würde geschehen.

      Doch immer, wenn ich annahm, der Fahrer entdecke mich endlich, entschwand das Ende des Busses durch eine Biegung meinem Blick.

      Ich versuchte mich zu ihm vorzuarbeiten. Vergeblich! Alles schien eine runde Form anzunehmen: die sich unaufhörlich verformende Röhre, die Fenster der Häuser draußen, selbst der Gehsteig wölbte sich auf (es war, als blicke man durch ein Fish-Eye-Objektiv), das Licht hatte die schlierig verzerrende Transparenz eines unreinen Glasstücks.

      Es dämmerte, doch nur wenige Fenster waren beleuchtet. In einem dieser Fenster entdeckte ich, unwirklich, als sei es eine Sinnestäuschung, Pysiks Hinterkopf mit dem kreisrunden Loch, das die Kugel der Schwarzpulverwaffe bei ihrem Austritt


Скачать книгу