Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt

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Kalter Krieg im Spiegel - Peter Schmidt


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Busses noch verstärkte, die rasende Fahrt der Kreuzung entgegen (neben der mein Wille nur wie ein belangloser, machtloser Gedankenblitz erschien, die Selbsttäuschung, dass er mehr bewirke, als mit ihm und durch ihn bewirkt werde – als stünde es wirklich in meiner Macht, Koflers Leben zu retten), und F., der immerfort seine Mütze abnahm und sich den Schweiß abwischte von seinem runden Schädel.

      Und dann erkannte ich plötzlich meine Chance: Der Bus hielt unversehens, die Falttüren vor mir zischten – zwei, drei unsicher tastende Schritte, und ich taumelte hinaus auf den Gehsteig an der Haltestelle. Vorbei der Spuk!

      Benommen blickte ich dem abfahrenden Wagen nach. Seine Länge war auf das gewöhnliche Maß zusammengeschrumpft. Ich lehnte mich an die Hauswand und schloss die Augen. Tief durchatmen, die Aufmerksamkeit zur Nasenspitze … es war das einzige Mittel, wenn ich eine zu hohe Dosis geschluckt hatte. Ein Psychiater hatte mir irgendwann den Rat gegeben – zusammen mit der Warnung:

      »Wenn Sie Ihre Krisen weiterhin mit dieser Rossmethode kurieren, garantiert ich für nichts«.

      Die Halluzinationen würden jetzt bald nachlassen. Wahrscheinlich noch ein wenig Übelkeit, ein Kribbeln in den Beinen und Fingerspitzen, dann setzte die Phase der Stabilität und der inneren Sammlung ein. Und sie würde zwei, vielleicht sogar drei Tage anhalten …

      Ich tastete mich an der Hauswand entlang. Noch waren meine Knie weich, und die Beine wollten nicht gehorchen. Das Kribbeln in den Fingerspitzen wurde unerträglich, griff auf den ganzen Körper über. Die Ruhe nach dem Sturm wurde nicht etwa künstlich erzeugt – wie bei einem Schlaf- oder Beruhigungsmittel –‚ sondern beruhte auf der vorangegangenen »Geröllabfuhr« aus dem Nervensystem.

      Sie entstand nach einer erzwungenen Traumphase, die von den Schlacken des Unterbewusstseins befreite, ganz ähnlich unserer alltäglichen, gewöhnlichen Verrücktheit, die vielleicht nichts anderes ist als ein in den Tag verlegter Traum.

      Ich war ein paar Haltestellen zu früh ausgestiegen: an der Kreuzung Gatower- und Heerstraße. Diese Gegend kannte ich nur flüchtig. Der Straßenbelag hatte sich in die alte Ebene zurückgewölbt. Rechts vor mir lag das Postamt. Seine Pforte war bereits geschlossen. Ich sah durch das Gitter in den erleuchteten Vorraum. Dann ging ich weiter. Einige Schritte an der frischen Luft würden mir gut tun. Die Straße geradeaus führte in den Stadtteil Kladow. Eine magere alte Dame mit einem Handtäschchen am Arm kam mir entgegen; ich stieß sie unsanft an. »So ein Stoffel …«, beschwerte sie sich, als ich weiterging, ohne mich zu entschuldigen. Sie blieb stehen und blickte mir lange nach. Ich sah es aus den Augenwinkeln, ohne darauf zu reagieren. Ich kam mir vor, als hätte ich den unsicher tappenden Schritt eines jungen Hundes. Doch meine Zunge war schwer – zu schwer zum Bellen –, und ich war alt, unendlich alt, und das Ampheton ließ mich noch schneller altern.

      In einer Schaufensterscheibe betrachtete ich das Spiegelbild meiner gedrungenen Gestalt, den überlangen, dünnen Hals, und überlegte, welche Chancen ich mir bei F.s Mädchen hätte ausrechnen können ohne die Lügen, die er ihnen erzählte. Dann ging ich weiter (ich verzichtete großzügig, mir selbst eine Antwort darauf zu geben).

      An der nächsten Straßenecke kaufte ich ein Päckchen Zigaretten und eine Zeitung (ich war Nichtraucher, aber wenn sie Raucherin war, würde es einen guten Eindruck machen, vorgesorgt zu haben; außerdem war es lästig, wenn sie nachts noch einmal mit dem Vorwand aufstanden, sich unbedingt vom Zigarettenautomaten unten an der Ecke eine Schachtel ziehen zu müssen – die meisten waren ausgehungerte Wölfe wie mich nicht gewohnt, es schockierte sie). Ich blätterte die Zeitung flüchtig durch; über Kofler stand nichts darin. Auch in der Zeitung, die er morgens von seinem Spaziergang mitgebracht hatte, war kein Hinweis gewesen.

      Als ich an einer leeren Telefonzelle vorüberkam, zögerte ich kurz. Ich hatte F. noch nicht wegen des Zwischenfalls vor der Bäckerei angerufen; doch dann verschob ich das Gespräch auf später. Gewöhnlich lähmte das Ampheton für eine Weile meine Zunge, das Sprechen wurde schwerfällig, die Wortflüssigkeit ließ nach, und F. würde merken, dass ich eine zu hohe Dosis geschluckt hatte. Er würde fuchsteufelswild werden – vermutlich zu Recht.

      Es war Koflers Ausflug gewesen, der mich ein wenig aus dem Konzept gebracht hatte. Genauer: seine Rückkehr. Denn seine Flucht hätte mich mit einem Schlage des Problems entledigt, ein weiteres Urteil fällen zu müssen.

      Ich warf die Zeitung in einen Abfallkorb und ging weiter bis zur Bushaltestelle. Auf dem Fahrplan las ich, dass der nächste Wagen in zehn Minuten fuhr. Der Kladower Damm, in den hier die Gatower Straße einmündete, war lang – ich wusste nicht wie lang, aber sicher mehr als zwei Kilometer –‚ und ich fühlte mich noch zu schwach auf den Beinen, um ihn zu Fuß zurückzulegen. Außerdem musste ich mich beeilen, wenn ich rechtzeitig dort sein wollte. Es war Viertel vor sieben.

      Sie saß an einem der Fenstertische links vom Eingang – genau wie F. es angekündigt hatte. Jedenfalls nahm ich an, dass sie es war, denn sie blickte fragend auf, als ich den Laden betrat. Es war eines dieser kleinen, gemütlichen Speiselokale, die jetzt überall wie Pilze aus dem Boden schießen: mit abgeteilten Sitzecken, dunklen Holzbalken, viel Messing und dekorativer Täfelung. Die Lampen waren englisch – oder sahen wenigstens so aus.

      Sie hatte ein volles Glas vor sich stehen. Ich nahm an, dass es Martini war. Ihre Haltung schien mir ein wenig zu gerade, kerzengerade (Betschwester, dachte ich), und sie trug eine jener geschwungenen goldenen Brillen mit nach oben gezogenen Spitzen – verlängerten Augenbrauen – wie die amerikanischen Filmdivas der fünfziger und sechziger Jahre, wenn sie nicht erkannt werden wollten.

      Das Gesicht hinter der Brille allerdings war beinahe klassisch schön. Kein Dummerchen, wie F. behauptet hatte. Eher der kühl distanzierte Cathérine-Deneuve-Typ als das verheißungsvolle Gesicht einer Marilyn Monroe. Ihre Gestalt war klein, zierlich, und ich verspürte sofort einen ausgeprägten Beschützerinstinkt.

      Mit einem freundlichen Kopfnicken steuerte ich auf sie zu, und während ich mich in die Mahagonibank zwängte, sah ich, dass ihre Knie – makellose weiße Knie – sich unter dem Tisch schlossen: schlechtes Zeichen (Versagungsomen) und eine unbewusste Reaktion, die mehr aussagte als Worte. Vermutlich war ich nicht ihr Typ.

      »Ich nehme an, F. hat Ihnen …«

      »Sie haben sich verspätet.«

      »Ich stieg unterwegs aus – um Luft zu schöpfen – und nahm den nächsten Bus.«

      »Den Bus …?«, fragte sie ungläubig. »Ah, richtig, Leute Ihres Schlages benutzen öffentliche Verkehrsmittel. Aus Sicherheitsgründen.« Sie reichte mir achselzuckend ihre kleine Hand herüber. »Barbara Falkner. Ich nehme an, Sie sind ein wenig überrascht, oder?«

      »Überrascht? Nein, wieso?«

      »Nun, weil ich – « Sie musterte mich erwartungsvoll.

      »Weil Sie‘s kaum erwarten konnten?«, fragte ich.

      Sie errötete weder, noch sah sie mich sprachlos an. Ihre eigentümlichen Augen musterten mich nur ruhig – sekundenlang –‚ dann trat ein kaum merkliches Lächeln in ihren Blick. Sie sah der Deneuve so verteufelt ähnlich, dass ich ganz schwach wurde. Es war das feine, schon fast aristokratische Spiel ihrer Mimik, das mich mit einem Male wie versteinert dasitzen ließ. Sie hatte mittelblondes Haar – etwa die Tönung, die ich als Farbe meiner Wahl bezeichnen würde. Die Falle, die uralte Falle, hatte wieder mal zugeschnappt!

      Herrgott, dachte ich, nicht noch mehr Probleme. Ich schüttelte ihren Eindruck ab wie der Elefant die junge Raubkatze, die auf seinen Rüssel gesprungen ist, und winkte dem Kellner.

      Ihre Brille war ausgesprochen hässlich. Ich versuchte mich auf die Hässlichkeit dieser Brille zu konzentrieren. Bisher hatte ich durch sie hindurchgesehen.

      »Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie nichts davon wissen«, meinte sie. »Ich dachte, Sie suchen sich Ihre Mädchen nach den Bildern im Personalkatalog aus.«

      »Nicht wissen – was?«

      »Dass ich nicht Regina bin. Regina ist meine Freundin, ich vertrete sie nur.«

      »Sie


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