Erwachen. Andreas Nass

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Erwachen - Andreas Nass


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bin ich dir also gut genug.« Seine feststellenden Worte waren eine Anklage. Ich sah entschuldigend zu ihm hin.

      Mein Bruder lehnte lässig im Türrahmen. Zu seinem hellen Gehrock trug er eine offene Weste und ermöglichte so einen großzügigen Blick auf den durchtrainierten Oberkörper. Seine blonden Haare waren zu vielen Zöpfen geflochten und nach hinten gesteckt worden. Zahlreiche Armreifen klimperten, als er sich von seiner Stütze löste und in unsere Richtung stolzierte. Abwechselnd musterten uns seine intensiv blau leuchtenden Augen.

      »Danke für das Asyl.« Mit meinem Lächeln überspielte ich seine kritische Anmerkung.

      »Dein Reiseziel steht kurz bevor.«

      Luzius reichte Yana die Hand, die sie sanft in die seine gab. Überraschend ruckartig zog er sie aus dem Wasser und gab ihr einen Klaps auf den Po. »Lass uns allein.« Schmollend zog sie ab.

      Ich wandte mich ihm zu. Auch die Dienerinnen hatten das Bad verlassen. Wir waren allein.

      »Um genau zu sein, es handelt sich um eine Palastrevolution.«

      »Um sicherzugehen, Luzius, von welchem Palast redest du?«

      »Um diesen hier.« Mit einer lässigen Handbewegung umspannte er den Ort. Er ging zu einem gekachelten Bord und schüttete sich Wein aus der dort stehenden Karaffe in ein Kristallglas.

      »Ich habe herausgefunden …«, er machte einen Schritt zur Seite, schnellte mit einer Hand vor und schnappte sich Imphraziel hinter einem Vorhang.

      »Was für eine Revolution?« Empört zappelte der Imp mit seinen kurzen Beinen. »Ich habe alles gehört! Ups.«

      »Keine Revolution«, beschwichtigte mein Bruder, »ich wollte nur herausfinden, wo du bist.«

      Imphraziel verschränkte die Arme und schmollte. Luzius packte dessen Schwanz und hob ihn daran hoch. Er trug ihn zur Tür, warf ihn hinaus und verschloss geräuschvoll den Eingang.

      Dem verräterischen Nachhall einer Teleportation folgte das Knistern einer magischen Falle. Unter der Decke hing eine bläulich schimmernde Kugel, die Imphraziel eingeschlossen hatte.

      »Welcher Teil von ›Raus‹ war zu schwierig für dein kleines Gehirn?«, fragte Luzius sarkastisch.

      »Kann er Lippen lesen, Luzius?«

      »Bestimmt«, antwortete mein Bruder und senkte die Kugel. Mühelos rollte er sie hinaus auf den Balkon und über die Balustrade hinab in den Garten. Kurz darauf hörte ich das freudige Kläffen der Wachhunde. Sie hatten nun ein neues Spielzeug.

      »Ich will dir ein paar Dinge zeigen.« Luzius glitt angezogen wie er war in das Wasser. Erst dort zog er Weste und Gehrock aus. Ich lehnte mich entspannt an den Beckenrand.

      In einer weit ausholenden Geste glitt seine Hand über die Wasseroberfläche, woraufhin sich der ganze Raum verdunkelte und sich meine Augen auf die Dunkelsicht umstellten.

      »Versuche dich nicht allzu viel zu bewegen, Crish, sonst ist das Bild verschwommen.«

      Er zeichnete mit seinen Fingern ein kompliziertes Muster über die schwarz wirkende Wasserfläche. Kurz darauf entstand das Abbild einer Stadt. »Das ist eine Stadt in den lichten Reichen«, erklärte Luzius und hob seine Hände an, was den Blickwinkel veränderte. Ich konnte nun wie ein Vogel auf Gebäude und Straßenzüge hinabsehen. »Das sind die Bürger in der Stadt«, sagte er und zahlreiche grüne Punkte entstanden. »Das sind die Himmlischen unter ihnen.« Einige der Punkte nahmen eine blaue Tönung an. »Das sind die Dämonen in der Stadt.« Einige grüne Punkte färbten sich rot. »Und das hier sind die Halbscheusale und Abgründige in der Stadt.« Bis auf einige wenige grüne Punkte färbten sich die verbliebenen violett. »Diese Stadt haben wir vor sechzig Jahren infiltriert.«

      »Ich bin beeindruckt, Luzius. Das ist eine große Leistung in sechzig Jahren, ohne dass es die Himmlischen herausfanden.«

      »Die für uns günstige Bevölkerungsentwicklung hängt zusammen mit Pilgern – und einem tragischen Zwischenfall.« Er schmunzelte. »Wir fanden heraus, dass die Nachfahren der Stadt nahezu alle von einer Schwesternschaft stammten, den sogenannten ›Töchtern der Sonne‹. Wir haben weiterhin herausgefunden, wohin sie gingen und sich niederließen. Es gab eine blutige Schlacht, bei der alle Angreifer den Tod fanden. Aber auch nahezu alle Anhängerinnen der Schwesternschaft konnten getötet werden. Bis auf einige wenige Ausnahmen war die ganze Stadt nun ohne Frauen, ein Umstand, den wir zu Nutzen wussten. Wir waren es, die dafür sorgten, dass zumeist junge Frauen aus der Umgebung sich dort niedergelassen haben.«

      »Handverlesen, versteht sich.«

      Luzius antwortete nicht, anstelle dessen fuhr er mit einer Hand durch das Bildnis und die Sicht wechselte. Ich erkannte die Gärten des Scharlachroten Tempels. Dutzende Frauen gingen der Gartenarbeit nach, dabei wurden sie offenbar von anderen angeleitet. Ansehnliche Bäuerinnen für ausgehungerte Städter.

      »Das ist die Fortsetzung unseres Projektes.«

      »Wesentlich subtiler als das Vorgehen der Untoten, wie deren Okkupation von Banduan, von der ich mich selbst überzeugen konnte.« Ich deutete mit einem Finger kreisend auf die Szenerie in den Gärten. »Wer sucht die Frauen aus?«

      »Mutter.« Eine kurze Pause folgte. »Es ist ihre Strategie. Eine gute Strategie. Ich habe sie selbst angewandt, in Ustan, um das Adelshaus derer von Abendstern zu übernehmen. Yana und ihre Cousine dürften als einzige lebend aus dieser Übernahme entkommen sein.« Mit einem Kopfschütteln wischte er eine Überlegung zur Seite. Er kniff seine Lippen zusammen, bevor er fortfuhr. »Jedenfalls brauchen wir uns keine Sorgen um etwaige Ausweichstädte zu machen, die wir kontrollieren können.«

      Das Bildnis wechselte und ich sah an die einhundert kleine Minotauren. Sie umringten Torvac wie Motten das Licht. Er gab ihnen Unterricht.

      »Ein stolzer Vater«, ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Die Erinnerung an den Verlust seines Sprosses schmerzte tief in mir, doch ich hielt meine aufkommenden Tränen zurück. Intuitiv streifte meine Hand den straffen Bauch, wo unser Kind hätte heranwachsen sollen. Irgendwann, dachte ich, irgendwann …

      »Die Labyrinthstadt wird bald uns gehören«, unterbrach Luzius meine Wunschträume. »Torvac wird bald von hier fortgehen und den König der Labyrinthstadt herausfordern.«

      »So kehrt der einstige Leutnant zurück um zu herrschen. Den Traum, über sein Volk zu herrschen, hatte er bereits, als ich ihn zum ersten Mal traf. Für ihn wird er bald in Erfüllung gehen.« Ich unterdrückte ein Schluchzen und verbarg so gut ich ging meine Gefühle vor meinem Bruder. Ich wollte sein Mitleid nicht. Ich wollte Torvac einen Sohn schenken.

      »Ich zweifle nicht an seinem Erfolg, Crish, doch er wird nichts sein im Vergleich zu dem Erfolg, den wir seit kurzem für uns verzeichnen durften. Einem Erfolg, den wir allein unserer Mutter zu verdanken haben.«

      »Was hat sie denn geschafft?«

      Luzius musste sich anstrengen, um ein neues Bild zu schaffen. Adern traten an seinen Schläfen hervor, und bei seinen Gesten wirkte er äußerst konzentriert. Zunächst verschwommen, dann mit zunehmender Klarheit konnte ich den Blick in ein Gemach werfen, das ich nicht kannte. Zunächst war ich irritiert, was mir mein Bruder zu zeigen versuchte, dann blickte ich in das Gesicht unserer Mutter, ihre Antlitz von Lust verzerrt, der Mund im Stöhnen geöffnet. Geräusche wurden bei der angewandten Hellsicht nicht übertragen, aber auch ohne Akustik ergriff mich ein Gefühl erotischer Spannung.

      Das Blickfeld erweiterte sich und ein Glatzkopf erschien, der nur so vor Muskeln und Ketten strotzte. Ein Freier, der sich allem Anschein nach verausgabte. Ich erkannte ihn sofort und schmunzelte breit. Mutter erfuhr grenzenlose Lust und der Mann gab sich redlich Mühe – aber sie verdrehte den Kopf und ihr hämisches Grinsen blickte uns direkt an. Das Abbild verschwand abrupt.

      »Gibt es Neuigkeiten, ob Akb’ah seine Tochter Moi’ra ausgelöst hat, Luzius?«

      »Ja, allerdings. Sie befindet sich nicht länger in der Obhut des Paschas, hat den Mönchskaiser für die Zeitdauer seines Aufenthaltes im Scharlachroten Tempel aber auch nicht


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