Hau ab! Flüchtlingskind!. Birte Pröttel

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Hau ab! Flüchtlingskind! - Birte Pröttel


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um die schöne Wohnung verschließt sie tief im Inneren. Für uns Kinder ist es spannend und aufregend die neue Umgebung auf dem Land zu erkunden. Die Ställe, die Felder, die Bauernkaten rings um den Gutshof. Alles ist Neuland. Arne erkundet es zusammen mit mir. Wir finden keinen Grund, uns zu beklagen.

      Der Hof gehört Vaters Cousin, Karl-Hans. Dieser Karl-Hans ist natürlich nicht da, sondern im Krieg wie alle Männer. Seine Frau Inge, eine todschicke, schlanke Frau mit hüb­schen dunklen Haaren und immer mit roten Lippen ist jetzt die Chefin des Gutes. Sie kümmert sich nicht um die Parole: „Eine deutsche Frau schminkt sich nicht.“ Ihre Haare sind modisch hochgesteckt, die Wimpern getuscht und die Fingernägel knallrot lackiert.

      „Wie konnte er nur diese Leute zu uns einladen?“ beklagt sich die mondäne Inge bei ihrer Schwiegermutter.

      „Das ist doch unsere Verwandtschaft, die lässt man nicht auf der Straße stehen. Denk doch mal, was sie schon ausgehalten haben. Wenn du die Wohnung verloren hättest, würdest du auch Hilfe erwarten!“ entgegnet Großmutter Sommer.

      „Dann kümmre du dich um sie, ich hab dazu keine Zeit und Lust!“ zischt Inge. Doch es ist Krieg und es bleibt Inge nichts anderes übrig. Jeder der Platz hat, muss „Evakuierte“ aufnehmen. Hanna steht mit ihren drei kleinen Kindern und dem Mädchen Emma, noch im Flur und hat sehr wohl den unfreundlichen Empfang gehört. Freundinnen werden die beiden jungen Frauen nicht.

      Wir ziehen in zwei düstere Zimmer am Ende eines langen, schreck­lich dunklen Flurs. Unser Kindermädchen Emma wohnt in dem einen Zimmer, wir mit Mutter im anderen. Die al­ten, lange unbenutzten Zimmer sind muffig und ungemütlich. Biedermeiertapeten mit zarten Streifen hängen verblichen, halb runter gerissen an den Wänden. Die ehemals schönen Räume sind vergammelt, es riecht nach Schimmel und alten Klamotten. Die Fens­ter gehen auf den Park hinaus, dessen düstere hohe Bäume die Räume verdunkeln. Den ganzen Tag brennt elektrisches Licht, damit man lesen oder stricken kann. Uns Kindern ist das egal, wir entdecken die neue Umgebung, treiben uns in den Ställen rum. Die alte Wohnung vermissen wir nicht. Außerdem durften wir in der Stadt nicht einfach aus dem Haus rennen und spielen, wo wir wollten.

      Mutter hatte ihren Volksempfänger mitgenommen. Er dudelt den ganzen Tag. Wenn aber die Fanfare von Liszt eine Sondermeldung ankündigt, erstarrt alles. Wir dürfen keinen Mucks von uns geben. Emma wickelt ihre Strickjacke fest um sich, verkreuzt die Arme und stellt sich neben den Lautsprecher. Mutter hört nicht auf zu stricken, aber ihr Kopf neigt sich angestrengt in die Richtung des Radiogerätes. Es wird immer wieder der Endsieg gegen Russland verkündet, Sieg auf der ganzen Linie! Die Flüchtlingstrecks sprechen eine andere Sprache. Emma und Mutter tauschen Blicke, sagen nichts. Und gleich danach trällert Lale Andersen „Lili Marlen“.

      Besonders attraktiv ist die große Gutsküche, wo es meist so le­cker duftet. Die rundliche Köchin Grete mit der blütenweißen Schürze hat für uns Kinder immer was zum Naschen. Wir setzten uns gerne zu ihr und Hans, dem Faktotum an den blank gescheuerten Tisch in der Mitte. Wenn’s nichts zu naschen gab, gab’s was für die Ohren. Hans und Grete erzählten gerne und viel und immer klatschten sie über Tante Inge und die Offiziere „oben“. Einmal, als sie Tante Inges ausschweifendes Liebesleben lang und breit diskutierten, kam Mutter rein: „Was redet ihr denn da! Kleine Töpfe haben auch Henkel!“

      Grete und Hans verstummten auf der Stelle und ich musste lange nachdenken, warum Mutter so etwas Selbstverständliches gesagt hatte:

      Kleine Töpfe haben auch Henkel. Ist doch klar, weiß doch jedes Kind. Aber dass daraufhin die beiden verstummten, war mir ein Rätsel.

      Der rothaarige, sommersprossige Sohn von Tante Inge heißt wie sein Vater Karl-Hans und ist etwas älter als mein Bruder Arne. Ich hänge wie eine Klette an Arne und Karl-Hans. Christian hätte das auch gern gemacht, aber seine Beine waren zu kurz, um uns zu folgen. Ich will einfach nur mit den Großen mitspielen. Und wenn es den beiden mit mir zu viel wird, spielen sie Indianer und binden mich kurzerhand an den Marterpfahl. Ich lasse das klaglos geschehen. Hauptsache dabei sein, und dazu muss man schon mal was aushalten. Und auf keinen Fall petzen, denn sonst ist man aus dem Spiel.

      Es war da an dem Baum im Park, an den sie mich fesselten, durchaus nicht langweilig. Ich beobachtete Käfer, Eidechsen und Rehe. Einmal auch Annika und Boris, wie sie im Gras kullerten, schmatzten und stöhnten.

      „Wo ist Birte?“ Wenn dann am Abend ein kleines Mädchen fehlte, fiel des den beiden hoffnungsvollen Knaben wieder ein, wo sie mich stillgelegt hatten.

      „Ach, im Park!“

      „Im Park?“

      „Am Marterpfahl!“

      Kleinlaut rannte Arne dann raus und befreite mich.

      „Zeig ja nicht die roten Striemen, an den Armen, sonst darfst du nie wieder mitspielen!“ drohte er und zog meine Ärmel bis zu den Fingerspitzen runter.

      Christian, der damals so zwischen zwei und drei Jahren gewesen sein muss, wird immer weggeschickt, wenn wir spielen. Brav trabt er dann zu den ukrainischen Zwangsarbeitern. Da wird er beschmust und verwöhnt. Sicher hatten sie Heimweh nach ihren eige­nen kleinen Kindern. Es gibt viele Zwangsarbeiter und im Haus, auch Zwangsarbeiterinnen. An eine, die dünne Annika, erinnere ich mich beson­ders, denn immer wenn sie mich sah, nahm sie mich in den Arm und weinte.

      „Warum weint Annika?“

      „Das verstehst du nicht, du bist noch zu klein!“ Erst viel später wurde mir klar, dass das moderne Sklaven waren, die als Kriegsbeute und kostenlose Arbeitskräfte aus ihrer Heimat verschleppt wurden.

      Für mich ist Eichenwalde das reinste Paradies. Fliegeralarm gibt es fast nie. Nur hin und wieder müssen wir in den Schatten der Scheunen oder des Hauses rennen, wenn Jagdbomber im Anflug sind. Ich finde das spaßig, wie Verstecken spielen, denn ich weiß ja nicht, dass die Piloten auf Menschen, die sich am Boden unter ihnen bewegen, schießen.

      Karl-Hans besitzt glitzernde, gläserne Murmeln, die in den Untiefen der Taschen seiner speckigen Lederhose klapperten. Nur Arne darf mit diesen Murmeln spielen. Eines Tages kommt Annika lächelnd zu mir, sie hat wohl gesehen, wie ich sehnsüchtig dem Murmelspiel zuschaute. Sie holt aus ihrer Schürzentasche eine Handvoll erdfarbener Murmeln und schenkt sie mir. Glücklich falle ich ihr um den Hals.

      „Musst spielen, musst spielen!“ fordert sie mich in ihrem gebrochenen Deutsch auf. Und ich spiele mit den Jungs, bis die Murmeln in eine Pfütze kullern und weg ist die Pracht. Die Murmeln zerfallen zu dem Lehm, aus dem Annika sie gemacht hatte. Aber eine ziemlich lange Zeit war ich ziemlich glücklich.

      Frohe Feste

      Tante Inge hat mehrere smarte, schlanke Offizie­re einquartiert und feiert mit ihnen jeden Abend lustige Feste. Mutter wird natürlich nie zu diesen Feiern eingeladen. Sie bleibt auch lieber in unserem kleinen Zimmer. Wenn sie auf dem Sessel beim Socken stopfen eingenickt ist, schleichen Arne und ich durch den langen gruseligen, dunklen Flur nach vorne. Der Salon, wo die Tante mit den Offizieren feiert, hatte große Flügeltüren mit Glasscheiben. Da spicken wir beide heimlich durch und finden es toll, wie Tante Inge als einzige Frau mit den Männern zu den Tönen des Grammofons tanzt.

      „Vor der Kaserne, vor dem großen Tor ...“ singen alle mit. Inge wackelt mit den Hüften im engen, seidenen Rock. Heimlich übe ich diesen Hüftschwung. Das Lied mit der „Lili Marlen“ kann ich auswendig und gebe es noch lange zum Besten. Die Erwachsenen wollen es immer wieder hören und ich träume davon, später einmal Halbweltdame, Soubrette, Schauspielerin oder Gutsbesitzerin zu werden.

      Die Glasscheiben haben am Rand einen besonderen Facettenschliff und die Szenen innen vervielfachen sich, wenn man schräg darüber in den Raum schaut. Inge raucht Zigaretten durch eine meterlange Zigarettenspitze und trinkt Prickelndes aus langen, hohen Gläsern. Dass das Champagner ist, weiß ich damals noch nicht. Ich finde das jedenfalls ganz toll und will später so werden wie Tante Inge: mondän und elegant und nicht so sorgenvoll wie Mutter in ihrer Kittelschürze.

      Der Gänsebraten


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