Hau ab! Flüchtlingskind!. Birte Pröttel

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Hau ab! Flüchtlingskind! - Birte Pröttel


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einladen?“

      Es fällt Hanna schwer zu antworten, aber einem Gänsebraten kann sie nicht widerstehen. „Gerne liebe Inge, ich freue mich sehr. Aber die Kinder lasse ich wohl drüben.“

      „Nein, nein, bring sie ruhig mit, sie können ja in der Küche essen.“

      Es war im Herbst und wir treffen uns zu dem köstlichen, seltenen Schmaus in der Gutsküche. Alle stehen erwartungsvoll vor dem schwarzen gusseisernen Herd, um die fette, knusprige Gans zu bewun­dern. Tante Inge lässt es sich nicht nehmen, die Gans selbst zu begie­ßen. Elegant taucht sie die silberne Kelle in die blaue Emaille Pfanne und da geschieht das Unglück. Sie schüttet sich das heiße Fett über die schlanken seidenbestrumpften Beine. Gellende Schreie. Meine Ohren tun weh.

      Da ist es dann aus mit Gänsebraten. Ich weiß nicht, ob ein Doktor kam oder wie Tante Inge behandelt wurde. Wir Kinder müssen di­rekt ins Bett. Ich hab doch gar nichts getan! Gänsebraten wird nicht mein Lieblingsessen.

      Vaters Autobahn

      Später werden sie sagen: „Der Hitler hat ja auch was Gutes gemacht. Autobahnen zum Beispiel.“ Aber das weiß ich besser, die Autobahn hat mein Vater gemacht, nicht Herr Hitler. Und Vater war auch mächtig eingebildet auf die neue Autobahn, die von Stettin nach Danzig führte. Einmal, als Vater Urlaub vom Krieg hat, holt er uns in Eichenwalde mit seinem Dienstauto ab und fährt zu seiner Autobahn. Der weiße Beton in gleißender Sonne blendet mich. Weiß wie platt gewalzter Schnee. Wir stehen mitten darauf. Auf der Autobahn.

      Ich drehe mich um die eigene Achse, kreisele, bis mir schwindlig wird. Vater lacht. Gut sieht er aus. Blitzende himmelblaue Augen spiegeln sich in meinen ebenfalls himmelblauen Augen, strohblonde Haare fallen ihm in die Stirn, auch um mein Gesicht kräuseln sich hellblonde Haare und sein Kinn hat ein Grübchen, mei­nes nicht. Der lange Uniformmantel sitzt wie angegossen. Ich vergöttere mei­nen Vater, und wenn ich groß bin, heirate ich ihn.

      „Er hat sie gemacht, sagt Mutter, diese Autobahn nach Danzig, da werden meine Freundinnen neidisch sein.“ Er hat sie gemacht, mein Vater. Und Mutter lächelt ihr süßes Lächeln mit den niedlichen Grübchen. Noch glaubt sie, hofft sie, dass alles gut wird.

      „Und dann haben wir auch wieder eine schöne eigene Wohnung!“ strahlt sie meinen Vater an. Der wird verlegen und möchte, dass wir die Autobahn be­wundern.

      Wo sind die Autos?

      Jetzt sind wir drauf. Vater, Mutter, Arne und ich. Mutter schaut ihn nach­denklich an, sie weiß, warum sie so oft allein sein muss. Eines Tages werden hier die tollen Autos fahren, wie das von Onkel Kurt. Adler Triumph. Sagt er.

      Mir ist schwindlig. Arne wünscht sich Rollschuhe für die Autobahn. Mir ist heiß. Es gibt keinen Schatten. Rechts und links der Betonpiste ist kein Baum, kein Strauch. Aber ich muss mal.

      „Setz dich in den Graben.“

      Ich kullere die steinige Böschung runter. Es riecht nach Brennnesseln und Minze. Ich will nach Hause. Und dann steigen wir in den Dienstwagen und ich soll stolz auf Vater sein. Aber der muss wieder in den Krieg. Der Urlaub vom Krieg ist vorbei. Komisch eigentlich. Wie kann man bloß Urlaub vom Krieg haben? Wenn Krieg ist, ist doch Krieg. Und sonst nichts. Und später, wenn der zu Ende ist, fahren wir hier mit dem eigenen Auto nach Königsberg verspricht Vater.

      Aus dem Versprechen wurde leider nichts, wie aus vielen anderen Träumen, die meine Eltern geträumt haben.

      Vater beim Vermessen der Welt in Norwegen

      Er hatte zunächst im Frankreich Feldzug gedient. Nach kurzer Zeit wurde er abgerufen, um seine Arbeit an der Autobahn nach Königsberg fortzusetzen. Er war mit sogenannten „kriegswichtigen“ Arbeiten beschäftigt. Dadurch konnte er 1942 des Öfteren zu uns auf Besuch kommen.

      Als die Front im Osten näher kommt und eine Weiterarbeit an

      der Autobahn nun nicht mehr vorangeht, wird Vater wieder eingezogen. Er kommt zu Organisation Todt. OT genannt, einer Einheit, die sich mit dem Bau von Bunkern, z. B. mit dem Westwall beschäftigte. Er wurde nach Norwegen geschickt. Vater muss in Norwegen schreckliche Dinge erlebt haben, von denen er nie erzählte. Außer einer Begebenheit, die uns Kinder erschauern ließ. Er berichtete, dass er das Land rings um Hammerfest vermessen sollte. Norwegen war von den Truppen Hitlers ohne großen Widerstand erobert worden. Aber es gab im Untergrund viele Norweger, die gegen die Nazis kämpften.

      Bei seinen Erzählungen erstand ein Bild vor mir: Vater auf der Schulter einen Theodolit, auf der anderen ein Sturmgewehr. Der lange, schwere Wehrmachtsmantel schleift über den Schnee, die Langschäfter sinken bei jedem Schritt bis über den Rand in den Harsch. Der Wind zerrt an den Fellklappen über den Ohren, die anderen beiden Soldaten stöhnen, schleppen schwere Kisten mit sich. Vater freut sich, bald die Unterkunft zu erreichen, heißen Tee zu schlürfen, ausruhen. Die vorausgeschickten Soldaten haben die Unterkunft bestimmt geheizt. Diese Vision treibt die drei Landvermesser voran. Sie fühlen sich wie Amundsen, Bering und Nansen beim Erforschen neuer Länder.

      Der Wind kämpft mit den Männern, er drückt die Tür zu, die sie zu öffnen versuchen. Plötzlich reißt die Tür quietschend auf. Der Raum ist dunkel, Schnee ist hereingeweht, die Fenster sind zerbrochen. Am Boden liegen erschossen die drei Männer der Vorhut. Wenn Vater an diese Stelle seiner Erzählung kam, stockt uns der Atem, wir erschauern und Vater verstummt. Mehr hat er nie erzählt.

      Er war so geschockt, dass er am liebsten den Dienst quittiert hätte. Aber da gab er uns eine Lektion in Vasallentreue. Wer auf die Fahne geschworen hat, darf nicht einfach so desertieren. Das wäre Hochverrat und darauf steht die Todesstrafe.

      Nach dem Erlebnis in Norwegen ließ er sich zurückversetzen. Er blieb bei der OT und bekam einen Posten im noch sicheren Heidelberg.

       Die Hütte in Nordnorwegen

      Es gibt Nachwuchs: eine kleine Schwester

      Im Kriegswinter 1944 versinkt Eichenwalde in tiefem Schnee, klirrende Kälte dringt durch Fenster und Türritzen. Alles ist lautlos und wattig. Wir Kinder sind be­geistert, toben im Schnee bis Handschuhe und Stiefel steif gefroren und die Nasen knallrot sind. Von Ferne hört man hin und wieder Schüs­se und danach das Kläffen der Hunde. Sonst liegt Totenstille über der Gegend. Das letzte Weihnachten in der Hei­mat steht bevor. Eichenwalde ist nicht unser zu Hause. Mutter wartet ungeduldig auf die Möglichkeit, wieder in eige­ne vier Wände zurückzukehren. Tante Inge und Mutti sprechen kaum mehr miteinander. Ich schäme mich für Mutti, sie ist so dick geworden in letzter Zeit und Tante Inge so schlank. „Sie bekommt doch ein Baby“, flüstert Arne in mein Ohr. Der dicke Bauch wurde damals im Gegensatz zu heute, so gut es geht, versteckt. Heute sind die jungen Mamis stolz, ein Baby zu bekommen und alle Welt soll das deutlich sehen. Ich will nicht, dass Mutter ein neues Baby bekommt, mir reichen meine Brüder. Ich will lie­ber eine schicke

      Mutter und eine Puppe zu Weihnachten. Man fragt sich, wie die Frauen im Krieg alle immer wieder schwanger wurden. Die Männer sind im Krieg, die zurückgebliebenen in der Regel nur alte Greise, hohe Offiziere oder Männer in kriegswichtigen Betrieben. Die Offiziere in Eichenwalde waren für Tante Inge reserviert. Kriegswichtige Betriebe gab es weit und breit nicht. Kam also nur Vater und seine Urlaube vom Krieg infrage, den Grundstein für ein neues, viertes Kind gelegt zu haben. Im

      Herbst besucht uns Bestemor, sie macht ihrer Tochter Vorwürfe: „Wie kannst du in solchen Zeiten noch Kinder in die Welt setzen? Kann denn dein idiotischer Mann nicht aufpassen?“

      Mutter war dann immer beleidigt: „In solchen Zeiten ist einem alles egal und außerdem sind Kinder ein Reichtum.“ Ich kann mir heute gut vorstellen, dass meine Eltern sich verzweifelt geliebt haben im Angesicht des allgemeinen Untergangs, dass es ihnen völlig egal war, was später ist. Jetzt und hier lieben


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