Hau ab! Flüchtlingskind!. Birte Pröttel

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Hau ab! Flüchtlingskind! - Birte Pröttel


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ziehen bereits endlose Flüchtlingstrecks über die pommersche Ebene aus Ostpreußen „heim ins Reich“ nach Westen. Der Russe treibt sie vor sich her.

      Der Wind bläst Mutter fast vom Fahrrad. Immer wieder muss sie anhalten, absteigen. Sie krümmt sich vor Schmerzen. Irgendwas stimmt nicht. Sie fürchtet, dass das Baby schon zur Welt will. Acht Wochen zu früh! Sie spricht mit sich, mit dem Kind: Halt durch, wir schaffen es. Bleib bei mir, dann wird alles gut. Ob nur der scharfe Wind ihr die Tränen in die Augen treibt in dieser Januarnacht 1945? Wer weiß es?

      Mit letzter Kraft erreicht sie die Stufen des Krankenhauses. Hier stauen sich Menschenmassen. Flüchtlinge aus dem Osten. Erfrorene Zehen, wund gelaufene Füße, todkranke Babys, sterbende Alte. Alles erhofft Hilfe.

      Auch Hanna. Aber es ist zu spät, die Fruchtblase platzt. Das Baby, ein kleines, unreifes Mädchen, will mit aller Gewalt leben, will in diese kalte, grausame Welt. Niemand gibt dem Baby eine Überlebenschance. Aber es will da sein, bevor die Russen da sind. Kaum aus dem warmen Mutterleib geschlüpft, muss es bei Bombenalarm in den Krankenhauskeller mit all den anderen Kranken und Verwundeten.

      Kindliche Aufklärung

      Für uns ist Mutter seit Tagen wie vom Erdboden verschluckt. Niemand uns erklärt, dass in Mutters Bauch ein Geschwisterchen wächst. Oder dass wir gar den Bauch anfassen und die Bewegungen unseres neuen Babys fühlen dürften, war einfach undenkbar. Aufklärung gab es zu keiner Zeit. Mich klärte später mein großer Bruder auf. Er erzählte, dass Männer „ihre Tage“ bekommen und dass sie dann am Popo bluten. Den Rest an Aufklärung hab ich mir dann Jahre später aus Knaurs-Lexikon und aus dem Missgeburtenbuch meiner Freundin Suse geholt. Suses Mutter war Hebamme. Wir haben heimlich auf dem Dachboden diese gruseligen Bücher studiert. Dazu naschten wir eingemachte Pfirsiche aus den Gläsern im Regal. Damit wir besser lesen konnten, wurde ein Dachziegel aus dem Dach gezogen. Die Bücher waren später nicht nur vom Pfirsichsaft, sondern auch vom Regen ziemlich ramponiert. Gott sei Dank, hat man uns nicht verdächtigt. Eines Sonntags morgens, ich hatte mich schon, wie oben gesagt, über alles Wichtige von den Bienchen und Blümchen selber aufgeklärt, da rief Vater mich zu sich.

      „Setz dich, Kind! Ich muss was Wichtiges mit dir besprechen. Du weißt doch, dass die Babys im Bauch der Mutter wachsen ...“

      Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich.

      „Ja..?“

      „Ja und weißt du auch wie sie ...“ Vater stammelte. Mir war das peinlich für ihn und schnell unterbrach ich ihn:

      „Vati, ich weiß alles!“

      „Dann ist ja gut!“ Vater fiel sichtlich ein Stein vom Herzen. Aber wie es wirklich war mit dem Kinderkriegen, davon hatte ich keine Ahnung und wollte es gar nicht wissen.

      Aber ich schweife ab. Emma passt auf uns auf, versorgt uns und verspricht, dass bald die Großmütter kommen. Die Großmütter sind in Stettin und Binz und haben keine Ahnung, dass Hanna ihr Kind jetzt schon bekommen wird.

      Aber wo ist Mutter?

      Es ist bitterkalt und wir sitzen fast immer in der gemütlichen mit dunklem Holz und weißblauen Kacheln geschmückten Gutsküche. Der Herd geht dort niemals aus und in der Luft hängt immer der Duft von leckerem Essen. Die einquartierten Offiziere sorgen ja dafür, dass hier keine Not herrscht.

      Plötzlich kommt Tante Inge reingestöckelt, sie fuchtelt mit ihrer Zigarettenspitze wild herum und ruft ganz aufgeregt:

      „Das Krankenhaus in Gollnow hat angerufen. Ihr habt eine kleine Schwester!“

      Emma und Tante Inge sehen aber nicht so fröhlich aus, wie man bei solcher Nachricht sonst aussieht. Hans und Grete stecken die Köpfe zusammen und flüstern. Sie sehen besorgt aus:

      „Es ist doch noch viel zu früh!“

      Es ist der 12. Januar 1945, der letzte Januar dieses Krieges. Aber keiner weiß, dass der Krieg bald vorbei ist und niemand ahnt, welche Not danach herrschen wird.

      „Wenn das nur gut geht!“ Keiner der in der warmen Küche Geborgenheit Suchenden kann sich über die „freudige“ Nachricht freuen. Ein Siebenmonatsbaby jetzt zu bekommen, das ist nicht wirklich ein freudiges Ereignis. Ich, mit meinen fünfJahren kann die Sorgen nicht verstehen, ein Baby mehr oder weniger, wGrafik 22 as solls?

       VaterGlückwünsche zu meiner Geburt

      Telepathie

      Vater erzählt uns später oft von Telepathie und Gedankenübertragung und dass er in der Nacht, in der Anne geboren wurde so arge Bauchschmerzen hatte, dass er am nächsten Morgen zum Arzt musste.

      „Ich hab das Baby auch bekommen. Obwohl ich nicht wusste, dass Mama im Krankenhaus war!“

      Ich hab diese Telepathie sehr bestaunt und mache Versuche mit Arne, aber bei mir hat es nie geklappt.

      Vater ist in Heidelberg im Hauptquartier der Organisation Todt. Ihm gefällt es dort einigermaßen, das Kriegsgeschehen ist nur noch ein ferner, böser Traum. Abends flaniert er mit Kollegen durch die romantische Altstadt, trinkt hier einen Schoppen Wein und isst dort sein Lieblingsgericht, Kalbsrouladen. In seiner freien Zeit schreibt er Briefe an seine Hanna.Vater hat dann von der Geburt meiner kleinen Schwester durch eine Nachricht via Kriegsministerium erfahren. Er schreibt an seine Frau einen liebevollen Brief, niedlich mit Blümchen verziert.

       19.1.1945 Heidelberg-Ziegelhausen Organisation Todt Einsatzgruppe Rhein (Original mit Blümchen bemalt)Mein geliebtes kleines Muttilein. Heute bekam ich durch die Vermittlung Berlins Deine Nachricht, dass du nun am 12.1.45 ein kleines Mädchen geboren hast. Hoffentlich geht es dir sehr, sehr gut. Wie glücklich mich die Nachricht gemacht hat, kann ich dir gar nicht sagen, besonders weil ich in den letzten Tagen sehr in Unruhe war. ...Nun weiß ich auch, warum ich am Freitag und Samstag solche Leibschmerzen hatte und so habe ich viel an dich denken müssen. Ich habe halt das kleine Mädel mit­bekommen. Freust du dich, dass wir nun zwei Mädchen haben?

       Wenn im Osten die Offensive wieder losgeht, werden wir unse­re Heimat wiederbekommen? Wie sieht nun unser Pfützchen aus? Ist sie auch blond und blauäugig? Na, ich werde mich hoffentlich bald selbst informieren können ob sie Va­ters oder Mutters Tochter ist.

       Nun meine geliebte, süße und nun wieder schlanke Mutti sei sehr innigst gegrüßt und bedankt in herzlicher Liebe Dein Hans .

      Zwischen die Zeilen schleicht sich Vaters Verdacht, dass das kleine Neugeborene nicht seine Tochter sein könnte. Und dann die Bemerkung „süße nun wieder schlanke Mutti“ erinnert an die Drohung in der Verlobungszeit. Damals hatte Vater gemeint, wenn Hanna mehr als 120 Pfund wiegt, würde er sich scheiden lassen.

      So lange ich denken kann, hat meine Mutter später immer gehungert. In diesen Kriegs- und Nachkriegsjahren bestand keine Gefahr, dass einer von beiden überhaupt übergewichtig werden könnte. Aber das wussten die beiden damals im Januar 1945 noch nicht. Der Hunger hatte bei ihnen noch nicht an die Tür geklopft.

      Vater kommt nach Plassenburg

      Mutter berichtet, dass Vater nicht mehr ganz so weit weg ist von uns. Er wurde auf die Plassenburg bei Kulmbach versetzt, um dort Rekruten auszubilden. Frischfleisch für die letzten Kriegsmonate. Rekruten sind jetzt nötiger, als die Konstruktion und Vermessung neuer Bollwerke.

      Hans glaubt nicht mehr daran, dass er mit seiner Familie die pommersche Heimat wieder sehen wird und er rät Hanna dringend, mit den Kindern Eichenwalde zu verlassen und zu seiner Mutter nach Rügen zu reisen.

      Die Plassenburg ist eine der imposantesten Burganlagen Deutschlands über der Stadt Kulmbach. Während der Nazizeit wurde das Renaissancegebäude für Schulungszwecke benützt.

      Hans


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