Hau ab! Flüchtlingskind!. Birte Pröttel

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Hau ab! Flüchtlingskind! - Birte Pröttel


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verfügbaren Lagen Kleidung trägt er übereinander. Es treibt ihn auch die Sorge um seine Familie um.

      Mutter liest uns wieder einen Brief vor:

       Meine Gedanken sind so oft bei Euch und am liebsten möchte ich gleichfalls bei euch sein, weil man ja nicht weiß, was alles noch kommt... Ich hoffe, dass der Widerstand im Osten doch noch halten wird und ich im Februar einige Tage bei dir verbringen kann. Freue mich schon jetzt sehr darauf und dann kannst du mir unser Töchterchen zeigen. Also, anliegende Oh­ren hat sie dann ja doch von dir. Und von mir sind keine Merkmale zu sehen? Na das können wir ja dann zusammen feststellen. Gut, dass sie nun schon früher gekommen ist, da kannst du doch schon bald nach Binz aufbrechen und Dich und die Kinder in Sicherheit bringen...

      Die Zweifel, ob Anne seine Tochter ist, lassen Vater noch immer nicht los.

      Abschied vom Pommernland

      Ich finde es doof, dass wir ein neues Baby haben. Mutter muss noch im Krankenhaus bleiben. Das Baby ist kränklich, schwach und kann die Milch nicht bei sich behalten. Niemand glaubt, dass das zarte Frühchen überleben wird. Mutter geht es auch nicht gut, sie hat eine schmerzhafte Brustentzündung und große Sorgen um unsere Zukunft

      „Vati, Vati!“ die Freude ist groß, als plötzlich unser Vater in Eichenwalde erscheint. Vater sieht in seiner Uniform flott aus und der Dienstwagen ist beeindruckend groß. Ausnahmsweise hat Vater Urlaub und er kommt, um Mutter und das Neugeborene Töchterchen in der Klinik zu besuchen. Eigentlich hat er vor, uns alle zusammen nach Binz in Sicherheit zu bringen. Aber Hanna fiebert und das Baby leidet unter Magenpförtnerkrämpfen. Was auch immer man ihm einflößt, es erbricht es. Mutter und die kleine Schwester müssen noch in der Klinik bleiben.

      Mutter schaut Vater prüfend an:

      „Ich merke schon, du magst Anne nicht! Dir wäre es nur recht, wenn sie stirbt!“

      Hans windet sich, er möchte die Kleine genauer anschauen, um Ähnlichkeiten zu sich zu finden. Mutter packt das kleine Bündel fest zu, man kann nur die kleine rote Nasenspitze erkennen.

      „Die Kleine ist ein Siebenmonatskind, glaub mir. Sieh doch, wie unreif sie noch ist.“ Sie neigt sich dem Kind zu und Hans wird von zärtlicher Reue erfüllt. Natürlich kann Vater nicht beurteilen, ob die Kleine ausgereift ist oder nicht. Er muss glauben, was Hanna sagt. Aber wenn er in seinen Urlaubskalender schaut, weiß er genau, dass der Geburtstermin erst in ein paar Wochen gewesen wäre. Und unter den Soldaten kursieren die schrecklichsten Eifersuchtsgeschichten. Das Gift des Misstrauens schleicht sich in viele Beziehungen.

      Vater hat Schokolade und Spielsachen mitgebracht. Für Arne ein Malbuch, ich bekomme einen süßen kleinen Stoffhund und Christian einen bunten Ball.

      Meine Eltern hatten sich ihr Leben umgeben von einer großen Kinderschar vorgestellt. Jetzt sind es vier geworden. Sie sind kinderreich, aber bitterarm ohne Garten oder ein kleines Häuschen. Alles verloren.

      Nicht nur meine Eltern, sondern auch der „Führer“ wollte Kinder. Und für das vierte soll Mutter das Mutterkreuz erhalten. Empört lehnt sie ab:

      „Ich bin doch keine Zucht Kuh, die prämiert wird.“

      Vater bringt Arne und mich nach Binz zur Großmutter. Christian, der Kleine bleibt mit Emma in Eichenwalde bis Mama reisen kann.

      „Wo sind denn eure Sachen? Trödelt nicht so rum, wir müssen los!“

      Vater ist eigentlich immer auf Hilfe angewiesen, wenn es um Praktisches, Naheliegendes geht. Er flüchtet sich gerne in Erhabenes und nicht so niedrige Dinge, wie Handschuhe suchen, Butterbrote schmieren und verschmierte Münder und Pos abwischen. Dafür hatte er immer jemand.

      Jetzt packt Emma die wenigen Habseligkeiten. Arne und ich, wir bekommen je zwei bunte, selbst genähte Rucksäcke, einen vorne, einen hinten umgehängt. Mit nur einem würden wird umkippen. Die beiden bleischweren Säcke halten uns im Gleichgewicht. Unter den drei übereinander gezogenen Pullovern und den dicken Mänteln haben wir beide ein Schild, mit Namen und Adressen der Verwandten in Dänemark, für den Fall, dass wir unterwegs verloren gehen.

      „Ich will die Rucksäcke nicht, die tun mir weh!“ zetere ich.

      „Du bist ein Jammerlappen!“ Arne kneift mich in den Arm.

      „Du tust mir weh! Vati, Vati, Arne kneift mich!“

      Vater ist überfordert mit den zankenden Gören. Fast sehnt er sich nach seiner ruhigen Bürostube. Das mit Kindern und so, sollte man den Frauen überlassen, denkt er sich. Aber nun geht es halt nicht anders. Die beiden Omas, die helfen sollten, konnten nicht kommen. Es fahren keine Züge mehr in Richtung Osten.

      Wir verabschieden uns in Eichenwalde. Die Ukrainer winken stumm, sie hoffen auf baldige Befreiung. Annika flüstert mir ins Ohr: „Keine Sorge, alles wird gut!“ Ein Lächeln huscht über ihr mageres Gesicht. Karl-Hans, der Freund und Spielkamerad der letzten beiden Sommer und Winter steht stumm auf der obersten Stufe der Außentreppe. Ein paar Schneeklumpen stecken in den Ecken der Freitreppe. Wir drehen uns nicht noch mal um, winken nicht. Karl-Hans sinkt in unser Vergessen mit jedem Schritt, den wir uns von ihm entfernen.

      So geht es uns mit vielen späteren Kinderfreundschaften. Aus den Augen aus dem Sinn. Leider. Heute hätte ich gerne noch Freunde aus den Kinderzeiten. Aber keiner hat uns gesagt, dass man Freundschaften pflegen muss.

      Vater nimmt uns an die Hände, er wird ungeduldig. Wir müssen jetzt los. Emma will auch so schnell wie möglich zurück zu ihrer Familie. Emma ist seit meiner Geburt bei uns. Sie ist wie eine zweite Mutter. Sie sieht, dass ich Fieber kriege, bevor ich mich noch erkältet habe. Sie tröstet, bevor man traurig ist. Sie kann die schönsten Gute Nacht Geschichten erzählen. Und jetzt will sie zu „ihrer“ Familie. Ich verstehe das nicht, das sind doch wir: ihre Familie.

      Ich will meine neue, geliebte Puppe mit den plumpen, rosafarbenen Gliedern oben in den Rucksack stecken. Mit einer heftigen Bewegung zerrt Vater die Puppe heraus: „Die kann nicht mit! Dafür haben wir keinen Platz!“

      Ich weine bitterlich: „Mutter nimmt das neue Baby doch auch mit!“

      „Sei jetzt still und leg es in die Schublade, wenn wir wiederkommen, holen wir die Puppe da raus!“

      Ich hasse Vater. Wütend stampfe ich mit dem Fuß auf. Immer sind die Erwachsenen stärker.

      Die Puppe muss in die kalte, harte Lade und ich bin untröstlich, schmeiße mich an Emmas weiche Brust.

      „So wein doch nicht so!“

      „Er hat die Puppe in die Schublade gesteckt. Vati ist so gemein!“

      „Wein nicht, ich passe gut auf sie auf.“ flüstert Emma in meine Wollmütze.

      „Und jetzt lauf zu Vater, er wartet schon. Ihr müsst doch weg von hier, der Russe kommt ... und der holt kleine Mädchen.“ Über Emmas Wangen kullern Tränen.

      „Holt der denn keine liebe Emma????“

      „Lauf Kind, lauf und pass gut auf dich und Arne auf.“

      Ich renne, stolpere noch schnell zurück in die Gutsküche. Schlinge meine Arme um die Großmutter von Karl-Hans. Ich rieche ihr traniges Haar, schnuppe­re an ihrer Altfrauenhaut.

      Großmutter steckt mir ein knusperiges Haferplätzen in den Mund.

      Ich verschlucke mich und huste: „Hol meine Puppe aus der Schublade und lege sie ins Himmelbett!“

      Großmutter schluckt auch und nickt: „Ja, Kind, komm bald wieder. Ich passe auf deine Puppe ganz doll auf und jetzt lauf, sonst schimpft dein Vater!“

      Ich renne raus, werfe noch einen Blick in den warmen Stall auf die dicke Kar­la. Ich durfte sie manchmal füttern und einmal sogar auf ihr reiten. Ich sauge den warmen, scharfen Stallgeruch tief in mich ein. Einen Geruch, den ich mein Le­ben lang liebe.

      Mutig und trotzig stapfe ich durch den hohen flockigen Schnee zu Vater.


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