Die Ketzer von Antiochia. Alexander L. Cues
Читать онлайн книгу.Alexander und seine Schwester in den syrischen Bezirk, um frisches Gemüse und Bohnen zu kaufen. Deshalb beauftragten sie Hygieia, die gerade fünfzehn geworden war, die Geschwister zu versorgen: „Bitte denk´ daran, dass sie viel trinken müssen, und mach´ ihnen alle zwei Stunden kalte Umschläge, um das Fieber zu senken. Und hier ist die Arznei, die die Eltern vor Monaten einmal aus Daphne mitgebracht haben.“ Nachdem sie die Kinder gut versorgt wussten, brachen sie auf. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie bemerkten, dass heute mehr Leute unterwegs waren als an anderen Markttagen. Von Simon, dem Synagogenvorsteher der Christusanhänger, erfuhren sie schließlich, warum die große Menschenmenge zum Markt strömte. Er berichtete ihnen, dass zwei syrische Sklaven entflohen waren, die man gestern wieder eingefangen hatte. Heute sollten sie auf dem Markt öffentlich ausgepeitscht werden. „Wessen Eigentum sind die Sklaven?“ wollte Alexander wissen. „Sie gehören zur Familia des Commodus. Er ist Mitglied der Ratsversammlung. Seine Frau besucht unsere Gottesdienste.“ Der Marktplatz, der zwar freigeräumt, aber noch immer von Trümmern gesäumt war, schien vor Menschen beinahe überzuquellen. Es herrschte eine Feststimmung, wie man sie hier lange nicht mehr erlebt hatte. Betreiber von Garküchen boten Fladen mit Kräutern an, andere Händler Wein, mit Wasser vermischt. An einer Seite des Platzes hatte man große Steine zusammengeschoben, so dass ein Podium entstanden war, auf dem die Auspeitschung stattfinden sollte. Als man die beiden Sklaven herführte, spürte Berenike, wie sie nach Atem ringen musste. Sie waren noch sehr jung, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Die Delinquenten wurden entkleidet und über einen Block gelegt. Zwei muskulös gebaute, wegen ihrer Verdienste freigelassene Gladiatoren, mit Lederriemen bewaffnet, in die Metallsplitter geflochten waren, traten hinzu und begannen, das Urteil zu vollstrecken: jeweils hundert Peitschenhiebe auf den Rücken. Nach etwa zwanzig Hieben verstummten die Schmerzensrufe der Gemarterten und es entstand eine fast gespenstische Geräuschkulisse. Man hörte nur noch die vor Anstrengung stöhnenden Gladiatoren, das klatschende Geräusch der Peitschenhiebe und die nach jedem Schlag einsetzende Reaktion der Menge, die zwischen euphorischer Anfeuerung und mitfühlendem Entsetzen schwankte. Die Verurteilten waren ohnmächtig geworden und merkten nicht mehr, wie sich auf ihren Rücken eine blutige Masse bildete. So trug man sie fort, als die Strafe vollzogen war. Berenike spürte, wie ihr übel wurde, und bat ihren Bruder, mit ihr den Marktplatz zu verlassen: „Wie kann man sie nur so zurichten? Sie sind doch noch jung.“ Alexander meinte: „Sie gehören ihrem Herrn. Er kann sie bestrafen, wie er es für richtig hält. Wir wissen nicht, was vorgefallen ist.“ Berenike jedoch gingen die Bilder dieses Tages nicht mehr aus dem Sinn. Das Geräusch der Peitschen und das Stöhnen der Gladiatoren hatten sich bei ihr eingebrannt. Bei der Versammlung am Abend nach dem nächsten Sabbat war auch die Frau des Commodus, Silvia, anwesend. Berenike nahm all ihren Mut zusammen und fragte sie nach dem Ergehen der beiden Sklaven. „Sie haben versucht, davonzulaufen. Commodus überlegt noch, ob er ihnen das Leben schenkt. Vielleicht verstößt er sie auch, weil er sie nicht mehr gebrauchen kann. Sie können noch nicht wieder laufen.“ „Und warum sind sie davongelaufen?“ „Sie haben miterlebt, wie die Schwester von einem nach dem Abendessen in unserem Haus von einem Senatsmitglied vergewaltigt wurde. Sie wollten ihn daraufhin zur Rede stellen. Der aber beschwerte sich beim Hausherrn über das ungehörige Verhalten der Sklaven. Commodus versprach ihm, sie zu bestrafen.“ „Habt ihr nichts dagegen tun können?“ „Ich fühle genau wie ihr, aber wie können wir einem hohen Gast seinen Wunsch beim Symposion verwehren?“ Die Glaubensgeschwister waren empört über das Unrecht, das den Sklaven angetan worden war. Sie bedrängten Silvia und forderten Wiedergutmachung: „Sie haben kein Unrecht getan, sondern ihr Leben für eine wehrlose Sklavin riskiert.“ Silvia versprach: „Ich werde mich bei Commodus für die beiden einsetzen.“ Nach dem Gottesdienst gab es großen Jubel, als die Gläubigen erfuhren, dass man ihren Armenpfleger freigelassen hatte. Er hatte nachweisen können, dass er die Tempelsteuer, die die Judäer für ihr Heiligtum entrichteten, gezahlt hatte. Kleopas war Judäer aus Syracus, ein gebildeter Mann, der neben Griechisch auch Aramäisch und Syrisch sprach. Über seine Freilassung freuten sich alle und stimmten in ein Gotteslob ein, das wieder mit dem „Kyrios Jesous“ endete. Ihre Freude wich aber bald der bangen Frage, ob nicht noch weitere Verhaftungen folgen könnten. Was würde wohl sein, wenn ein Zyprer, ein Syrer oder eine Phönizierin, die keine Judäer waren, verhaftet werden würde? Kleopas berichtete ihnen von seinen Erlebnissen während der Inhaftierung. Er schilderte, dass die Männer, die ihn verhört hatten, sich in der Folter gut auskannten: „Sie haben damit gedroht, mich an einen Felsen zu ketten und mich meinem Schicksal zu überlassen, wenn ich den Göttern nicht opfere.“ Ausgelöst durch die jüngsten Ereignisse entbrannte in der Folge unter den Christianern eine emotionale Diskussion darüber, wie verschiedene Menschen, insbesondere die Sklavinnen und Sklaven, zu behandeln sind. „Hat uns Jesus nicht gelehrt, dass alle Menschen vor Gott gleich sind, Griechen wie Syrer, Vornehme, Freie und Sklaven, Mann und Frau, der Landbesitzer und seine Lohnsklaven?“ fragte einer der syrischen Handwerker. „So hat er gelehrt,“ bestätigte Simon, „darum machen wir keine Unterschiede unter den Gläubigen! Sklaven und Freigelassene, Frauen wie Silvia und Berenike, Judäer wie Kleopas und Griechen wie Alexander – alle sind gleichberechtigte Heilige.“ Die mit der Diskussion einhergehende Unruhe unter den Christusgläubigen erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt beim nächsten Gemeinschaftsmahl. Die Phönizierin Lavinia, die Lea und Zippora nach der Katastrophe geborgen und zu ihrer Mutter gebracht hatte, begleitete ihre Herrin Lydia, die zum ersten Mal gekommen war, zur Versammlung. Simon, der Vorsteher, hieß beide willkommen: „Nehmt Platz am oberen Ende des Tisches, neben Silvia.“ „Kann meine Sklavin neben mir sitzen?“ fragte Lydia. „Sie kann weiter unten Platz nehmen, bei den Handwerkern und Sklaven,“ antwortete Simon, „sie kann Euch natürlich jederzeit zu Diensten sein.“ Lydia bestand jedoch darauf, dass Lavinia neben ihr saß: „Ich möchte nicht auf ihre Gegenwart verzichten.“ Simon ließ es geschehen und kam dem Wunsch des hochgestellten Gastes nach. Dieser Vorfall löste ständige Diskussionen aus um die Sitz- und Liegeordnung bei den Mählern, die auch in den folgenden Wochen nicht verstummen wollten. Der Vorsteher der Synagoge, Simon, hatte seinen Platz als Hauseigentümer immer am Kopf des Tisches. Ihm zur Seite lag der Armenpfleger Kleopas. Auf der anderen Seite waren die Plätze der Frauen. Zuoberst saß die Syrerin, die die Gabe des Lehrens und damit ein hohes Ansehen besaß, dann folgte die Frau des Commodus, Silvia. Unten am Tisch waren die Plätze der Lohnarbeiter, Handwerker und Sklaven. Berenike hatte sich bald mit Lavinia angefreundet und erfuhr, dass diese als Tochter eines Sklaven geboren war und der Familia eines Großgrundbesitzers angehörte, der beim Erdbeben ums Leben gekommen war. Sie war im Haus ihrer Familia zuständig für die Kleidung ihrer Herrin Lydia. Im Wechsel mit anderen Sklaven musste sie aber auch den Hausgöttern und dem Genius des Hausherrn am Hausschrein opfern. Als Christusgläubige war ihr dies eigentlich unmöglich, sie hatte als Sklavin jedoch keine Möglichkeit, sich dem zu entziehen. Ihre Herrin hatte ihr versprochen, sie freizulassen. Sie hatte ihr auch erlaubt, einmal in der Woche die Versammlungen der Christianer zu besuchen. Vermutlich glaubte sie, es handle sich bei dieser Gruppe um eine Kultgemeinde von Sklaven, von denen es in Antiochia eine Vielzahl gab. Die Mitglieder dieser Kulte kamen regelmäßig zu Vereinsmählern zusammen, manche sorgten sich auch um eine würdige Bestattung ihrer Mitglieder. Als Lavinia ihrer Herrin nähere Einzelheiten zu den Christusanhängern erzählte, verbot sie ihr zunächst weitere Besuche. Nach einiger Zeit bat sie Lavinia jedoch, die nächste Versammlung mit ihr gemeinsam zu besuchen, wo es zum Vorfall um den angemessenen Platz für die Sklavin kam. Die Diskussion um die Plätze beim heiligen Mahl beschäftigte auch Berenike und Alexander, die hier unterschiedliche Meinungen vertraten. So fragte sie ihren Bruder: „Kann es sein, dass wir vor Gott gleich sind und uns mit dem heiligen Kuss begrüßen, aber bei Tisch sind wir ungleich und machen Unterschiede zwischen Vornehmen und Sklaven?“ „Jeder bleibt in seinem Stand, auch in der Gemeinde,“ hielt ihr der Bruder entgegen. „Aber Jesus hat den Aposteln gedient beim Mahl, ihnen sogar die Füße gewaschen,“ hielt sie ihm entgegen. „Er hat gesagt: Wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden. Daran sollten wir uns halten,“ entgegnete Alexander. Bei der nächsten Versammlung nach dem Sabbat ergriff Simon, der Vorsteher der Synagoge, das Wort, um der Diskussion ein Ende zu setzen: „Wir alle sind Sklaven Christi, ob wir Freie sind oder Sklaven eines anderen Menschen. Darum soll jeder in seinem Stand bleiben, derjenige, der als Freier zum Glauben gekommen ist, genauso derjenige, der als Sklave Christus