Von Jerusalem nach Marrakesch. Ludwig Witzani

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Von Jerusalem nach Marrakesch - Ludwig Witzani


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Dolorosa. Finstere Blicke aus den Hauseingängen. Wohin ich auch kam: nichts als gähnende Leere auf den Straßen. Kein Teeausschank an den Straßenecken, kein Gewürz- oder Mandelduft an der Nähe der Moscheen. Sogar die Souvenir-Shops waren geschlossen.

      Ich ging in mein Zimmer am Jaffator zurück, lege mich unter die dicken Decken ins Bett, bis es mir warm wurde und begann ein wenig in meinen Reiseführern zu lesen. Wo immer ich das Buch auch aufschlug, die Nachricht war immer dieselbe: Die Geschichte des Heiligen Landes war eine lückenlose Aufeinanderfolge von Blut und Tod. Folgte man der Bibel, begann alles mit der langen Wanderung Urvaters Abrahams vom Zweistromland nach Palästina. Hier ließen sich die Israeliten in der Stadt Hebron nieder, weswegen sie in den ersten Jahrhunderten ihrer Geschichte auch als „Hebräer“ bezeichnet wurden. Die archäologische Forschung zeigte ein etwas anderes Bild: Demnach erreichten die Israeliten als versprengte Reste der Seevölker Palästina im 13. oder 12. vorchristlichen Jahrhundert. Ein mörderischer Vernichtungskampf gegen die einheimischen Philister und Amalekiter führte zur Einigung der jüdischen Stämme und zur Einführung des Königtums. Dieser Vorgang aus altvorderen Zeiten war den Palästinensern heute noch gegenwärtig, denn sie erkannten darin nicht mehr und nicht weniger die Blaupause der zweiten jüdischen Landnahme im 20. Jahrhundert.

      Im Zuge dieser frühgeschichtlichen Kämpfe hatte König David um 1000 vor der Zeitrechnung Jerusalem erobert und die Stadt zur Hauptstadt Israels erhoben. Sein Sohn König Salomo baute den ersten Tempel, der 587 vor Christus von den Babyloniern zerstört wurde, ein traumatisches Ereignis der jüdischen Geschichte, weil im Zusammenhang mit der Zerstörung des großen Tempels die Bundeslade verloren ging. Da nicht ganz auszuschließen ist, dass auch jugendliche Leser dieses Reisebuch studieren werden, hier nur zur Erklärung: Die Bundeslade ist das geheimnisvolle Objekt, dem Harrison Ford in „Jäger des verlorenen Schatzes“ nachspürt. Für alle anderen: Die Bundeslade war der mythische Behälter der zehn Gebote, die Gott auf dem Sinai Mose übergeben hatte.

      Wie immer es auch gewesen sein mochte, auch ohne Bundeslade wollten die Juden auf ihren Tempel nicht verzichten. So errichtete Serubabel, der letzte Spross der davidischen Dynastie, unter der Herrschaft der Perser den zweiten Tempel, den der Seleukide Antiochos IV 169 vor Christus in Schutt und Asche legte. Herodes der Große ließ kurz vor der Zeitenwende den dritten Tempel errichten. Ganz fertig wurde er erst im Jahre 64, nur wenige Jahre, bevor er von den Römern 70 nach Christus zerstört wurde. Als Kaiser Hadrian im Jahre 130 auf dem verwaisten Tempelberg einen Jupitertempel errichten ließ, erhoben sich die in der Stadt verbliebenen Juden unter der Führung des charismatischen Pseudomessias Bar-Kochba zu ihrem letzten Aufstand. Diesmal machten die Römer reinen Tisch. Eine halbe Million Juden wurde erschlagen, der Rest wurde versklavt oder aus dem Land gejagt. Weil es den in Palästina verbliebenen Juden verboten war, Jerusalem zu betreten, wurde Tiberias am See Genezareth durch Verlegung des Sanherib (des großen Rates) zum neuen Zentrum des Judentums.

      Mit dem Siegeszug des Christentums in der Spätantike verbesserte sich die Lage der Juden kaum, auch wenn ihnen Kaiser Konstantin wieder erlaubte, an besonderen Festtagen Jerusalem zu betreten. Gedankt haben die Juden den Christen das nicht. Als die persischen Sassaniden im Jahre 618 Jerusalem eroberten, unterstützten die Juden die Perser bei der Zerstörung sämtlicher christlicher Kirchen der Stadt. 629 nahm der siegreiche byzantinische Kaiser Herakleios dafür grausame Rache: Alle Synagogen Jerusalems wurden zerstört, und die Christen kippten ihren Müll auf den Tempelberg. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass all diese Ereignisse nur Intermezzi waren oder besser: nur das Vorspiel eines viel fundamentaleren Wandels, der das Gesicht der gesamten bekannten Welt in weniger als einem Jahrhundert fundamental verändern sollte: der Expansion des Islam.

      Schon 638, sechs Jahre nach dem Tod des Propheten, eroberte der Kalif Omar Jerusalem, und es dauerte nicht lange, da wurde die Stadt auch für die Moslems heilig, weil man den Ort der Himmelfahrt des Propheten kurzerhand von Mekka nach Jerusalem verlegte. Mit dem Bau des Felsendoms und die Errichtung der Al-Aqsa-Moschee auf dem jüdischen Tempelberg veränderten die Moslems die religiöse Geometrie der Stadt für immer. Eine dritte Weltreligion hatte ihre Hand auf die Stadt gelegt, fest entschlossen, sie nie mehr aus ihrer Kontrolle zu entlassen.

      Trotzdem lebten die Juden während der gesamten Zeit der Diaspora unter der Herrschaft der Muslime freier und unbedrängter als unter den Christen, die die Juden als „Jesusmörder“ verfolgten. Ein wirklicher Bevölkerungszuwachs des Judentums im Sinne einer ersten zaghaften Rückwanderung aus der Diaspora setzte erst unter der türkischen Herrschaft ein, als der Sultan den aus ihrer Heimat vertriebenen spanischen Juden im Jahre 1492 die Ansiedlung im Heiligen Land (und hier vor allem in Zefad) gestattete. Damit wurde Zefad zur vierten heiligen Stadt der Juden, zum Ort der Neuinterpretation des Talmuds und zum Sitz des Großen Rates. Unter Sultan Suleiman dem Prächtigen entstanden im 16. Jahrhundert sogar Pläne für die Etablierung eines halbautonomen jüdischen Staatswesens unter osmanischer Oberhoheit.

      Die Gründung Israels vollzog sich aber dann doch ganz anders, und zwar als Folge des Zusammenspiels von europäischem Nationalismus und moderner Antisemitismus. Als Pogrome und Judenhass Europa am Ende des 19. Jahrhunderts erschütterten, entstand der Zionismus als politische Reformbewegung und propagierte die Etablierung eines eigenen jüdischen Nationalstaates - und zwar nirgendwo anders als im Land der Väter! In mehreren Einwanderungswellen kehrten die die Juden seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nach Palästina zurück, kauften das Land von reichen Scheichs aus Damaskus und Beirut, machten es urbar und wussten es gegen die gleichzeitig einsetzende Zuwanderung von Arabern aus den Nachbarregionen zu verteidigen.

      Die eigentliche Staatsgründung Israels nach dem Zeiten Weltkrieg wurde für den arabischen Kulturkreis dann zu einem traumatischen Ereignis. Die kleine Streitmacht des neuen Staates besiegte scheinbar mühelos fünf arabische Armeen und etablierte aus der Perspektive der Moslem einen Stützpunkt des Kolonialismus erneut im Herzen der arabischen Welt. Damit waren die traditionell eher guten Beziehungen zwischen Judentum und Islam auf einen Schlag beendet. Die israelisch-arabische Feindschaft wurde zu einem unverrückbaren Eckpfeiler der Weltpolitik.

      Am nächsten Tag schien eine zaghafte Sonne über Jerusalem. Mein Frühstück nahm ich im Teehaus auf der anderen Straßenseite, ehe ich die Klagemauer besuchte. Ich erreichte einen großen freien Platz im arabischen Viertel, an dessen Stirnseite sich eine streng bewachte Mauer aus großen Quadern befand. Sie war neunzehn Meter hoch und galt als der letzte Überrest des alten Tempelberges. Vor der Mauer standen zahlreiche Besucher und steckten kleine Zettelchen in die Ritzen der Klagemauer. So hatte es auch der israelische General Mosche Dayan gemacht, der 1967 nach der Eroberung Ost-Jerusalems zur Klagemauer gegangen war und einen Zettel mit dem Wort „Schalom“ zwischen die Steinritzen gesteckt hatte. Dieser Wunsch hatte sich nicht erfüllt, im Gegenteil: gerade an der Klagemauer hatten sich in den letzten Jahren immer wieder neue Konflikte entzündet. Mal verlangten radikale Israelis Zutritt zu den moslemischen Moscheen auf dem Tempelberg, mal warfen Moslems Unrat und Dreck von oben auf die jüdischen Besucher der Klagemauer. Aber auch an der Klagemauer selbst flogen die Fetzen. Ich saß gerade erst entspannt auf einer Brüstung und betrachtete die betenden Männer und Frauen, die nach Geschlechtern getrennt vor der Klagemauer standen, als plötzlich ein Trupp jüdischer Frauen unter großem Geschrei in den Männerbezirk eindrang. Keine Geschlechterdiskriminierung an der Klagemauer, das war ihre Forderung. Ehe sich die Frauen versahen, hatten die würdigen alten Herren, die gerade noch inbrünstig vor der Klagmauer mit Jahwe kommuniziert hatten, ihre Krückstöcke ergriffen, um damit umstandslos auf die Frauen einzuprügeln. Geschrei, Getümmel und Gekreische an einem der heiligsten Plätze des Judentums. Erst der Armee, die immer im Umkreis der Klagemauer in Alarmbereitschaft stand, gelang es nach einiger Zeit, die Parteien zu trennen. Unter lautstarkem Protest, mit Stinkefingern und Flüchen mussten die Frauen den Männerbezirk wieder verlassen.

      Nach dem Besuch der Klagemauer bestieg ich den Tempelberg. Er war über vier Treppen zu erreichen, und ebendort, wo sich die alten Tempel der Juden befunden hatten, erhob sich nun der große mohammedanische Felsendom. Er wirkte weder mohammedanisch, jüdisch oder christlich, sondern er war ein Gebäude ganz eigner architektonischer Ordnung, eine berauschende Synthese aus byzantinischer und arabischer Formensprache. Ein Oktagon mit zwei Reihen von Trägerblöcken und Säulen umschlossen im Innern des Doms den heiligen Felsen, der einige Meter aus dem Boden ragte. Dieser heilige Felsen


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