Von Jerusalem nach Marrakesch. Ludwig Witzani

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Von Jerusalem nach Marrakesch - Ludwig Witzani


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nach der moslemischen Überlieferung der Prophet Mohammed in der Nacht seines Todes von diesem Felsen aus auf seinem Pferd Buraq gen Himmel geritten sein soll. Ich war fast ein wenig enttäuscht darüber, dass der Islam, diese vornehme Religion der Anschauungsenthaltung, nicht darauf verzichtet hatte, einen vermeintlichen Fußabdruck von Mohammeds Pferd auf dem Felsen zu hinterlassen. Dafür waren die Schönheit der Ornamente und die Farbenpracht der Innenausstattung unbeschreiblich. Die Kuppel hoch über dem Felsen erschien mir für einen Moment tatsächlich wie der Eingang zum Himmel, als ein magisches Licht durch die bunten Glasfenster in die Halle fiel.

      Und doch war diese Pracht kein Spiegel der geschichtlichen Wirklichkeit sondern das Element einer großen historischen Manipulation. Als der arabische Kalif Abd el-Malik im Jahre 683 einen Aufstand in Mekka hatte niederschlagen müssen, war die Kaaba zerstört worden. Da die muslimische Weltgemeinde bis zur Wiederrichtung der Kaaba ein neues kultisches Zentrum benötigte, war der Kalif auf die Idee verfallen, Mohammed mit dem Tempelberg in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise war, von offizieller Propaganda unterstützt, die Mär von Mohammeds Himmelfahrt vom Tempelberg aus direkt ins Paradies entstanden. Schmälerte diese rückwirkende Neugestaltung der mohammedanischen Überlieferung den Wert des Felsendoms? Natürlich nicht. Er stand als eine der großen Offenbarungen der Kunst ganz für sich, denn die meisten großen Bauwerke der Weltkulturen beruhen auf Vorstellungen aus der geschichtlichen Fantasie.

      Das Kidrontal zwischen den Stadtmauer und dem Ölberg ist die wichtigste Adresse der Welt - jedenfalls nach dem Verständnis eines orthodoxen Juden. Es handelte sich um jenen Ort, an dem nach jüdischem Glauben das Jüngste Gericht stattfinden soll – kurz nachdem in Meggido die letzte Schlacht der Weltgeschichte geschlagen worden wäre. Kein Wunder, dass sich die Juden gerne in der Umgebung des Kidrontals begraben ließen. Wenn es soweit war, würden sie sich nur noch aus ihren Gräbern erheben müssen und befänden sich sofort mitten im Geschehen.

      Als ich den Berg Zion erkundete, stieß ich auf das Grab König Davids, das als jüdisches Nationalheiligtum wahrscheinlich alles Mögliche beherbergte, nur nicht die sterblichen Überreste des ersten Judenkönigs. Gleich nebenan konnte man ein Gewölbe besichtigen, von dem allen Ernstes behauptet wurde, in ihm hätte das letzte Abendmahl stattgefunden. Am Ende brach ich meinen Rundgang ab, denn es war fast zu viel für einen Tag: das Jüngste Gericht, Davids Grab und das letzte Abendmahl – in Palästina purzelten die Epochen und Bezüge derart durcheinander, dass alles scheinbar Geschichtliche seinen Kontext abstreifte um als Kitsch, Fake oder Streitobjekt gleich in die Gegenwart zu springen. Zu viel Geschichte und Religion an einem einzigen Ort.

      Große Hinweistafeln verlangten am Eingang des Stadtteils Mea Shearim von den Besuchern ordentliche Kleidung und zurückhaltendes Betragen. Jeder, der sich nicht daran hielt, musste mit rüden Reaktionen der Anwohner rechnen. Es gab kein Fernsehen, keine Jugendkriminalität, keine Waschmaschinen und Kühlschränke, dafür jede Menge Kaftane, Kohlsuppen und gefillte Fisch. Willkommen in der Parallelgesellschaft der ultraorthodoxen Juden im Jerusalemer Neustadtviertel von Mea Shearim, der Hauptstadt von Bigotterie und Schmarotzertum unter der Tarnkappe weltentrückter Gläubigkeit. Selbstverständlich verweigerten die Ultraorthodoxen von Mea Shearim den Wehrdienst in der israelischen Armee, nahmen aber gerne die Unterstüzungszahlungen des Staates an. Mit ihren knöchellangen schwarzen Mänteln, den gestreiften Kaftanen und den schwarzen Strümpfen wirken die Gestalten, die mir in den Gassen Mea Shearims begegneten, wie Karikaturen aus den osteuropäischen Ghettos der frühen Neuzeit. Die meisten Bewohner von Mea Shearim sprachen jiddisch, weil ihnen das Hebräische heilig war und ihrer Ansicht nach für die kultischen Verrichtungen reserviert bleiben sollte. Das ganze Viertel wirkte ärmlich und bizarr, aber das Befremdlichste, was ich in Mea Shearim zu sehen bekam, waren die Kinder, die mit ihren Schläfenlöckchen zu beiden Seiten ihrer Köpfe wie kleine Teufel aussahen und die den Besuchern frech und selbstbewusst entgegentraten. Trotzdem machte der Sittenverfall auch vor Mea Shearim nicht halt. Ein orthodoxer Jude mit Kaftan und Zottelbart schwankte mit angesäuselt entgegen und lallte: „Gib mihr a Scheeekel“ Ich ging weiter und verstand plötzlich, warum die orthodoxen Juden bei den normalen Israelis so unbeliebt waren, denn es musste sie nerven, in ihrer Gestalt noch immer mit einem Zerrbild der eigenen Identität konfrontiert zu werden.

      Einen ganzen Tag lang wandelte ich auf den Spuren der Christuspassion. Mein Cicerone war meine Fantasie, denn allzu viel vom Leidensweg Christi war nicht mehr erhalten geblieben. Um die Wahrheit zu sagen: es war überhaupt nichts Originales zu sehen, sondern nur ein Sammelsurium zweitrangiger Kunstwerke und Orte, deren Authentizität alles andere als gesichert war. Trotzdem fiel jedem Besucher in den engen Gassen der Altstadt die Orientierung leicht, denn die Araber säumten nicht nur mit ihren Shops die gesamte Länge des Weges, sondern versahen ihre Läden dankenswerterweise mit Anspielungen auf den Namen der jeweiligen Passionsstation. An der Station IV „Jesus begegnet seiner Mutter“ konnte sich der Tourist im Andenkenshop „Spasm of Holy Maria“ nach passenden Souvenirs umsehen. Gleich neben der Station VI „Die heilige Veronika trocknet Jesu den Schweiß“ lud der Kaffeeshop „Holy Veronica“ zum Verweilen ein. Überall verlockende Angebote wie „We print one T-Shirts in 10 Seconds“ oder „Buy one Jesus Skulptur and get one Paulus for free.“ Sogar auf der Rückseite des Jesusgrabes kroch ein armenischer Priester herum und bot den Gläubigen „Holy Candles“an.

      Insgesamt passierte ich in dieser Weise folgende vierzehn Stationen des Leidesweges:

I Jesus wird zum Tode verurteilt
II Jesus nimmt das Kreuz auf sich
III Jesus stürzt unter dem Gewicht des Kreuzes zusammen
IV Jesus begegnet seiner Mutter
V Simon von Kyrene hilft Jesus
VI Die heilige Veronika trocknet Jesus den Schweiß
VII Jesus stürzt zum zweiten Mal
VIII Jesus spricht zu den weinenden Frauen
IX Jesus stürzt zum dritten Mal
X Jesus wird entblößt und mit Galle getränkt
XI Jesus wird ans Kreuz genagelt
XII Jesus stirbt am Kreuz
XIII Kreuzabnahme
XIV Grablegung

      Die Stationen X bis XIV befanden sich bereits in der Grabeskirche, vor deren Eingang sich die Touristengruppen zu allen Tageszeiten stauten. Die Grabeskirche von Jerusalem war die heiligste Kirche der Christenheit, aber es war ein Heiligkeit, die derart profaniert war, dass sich Jesus, wäre er nicht längst wieder auferstanden, vor Widerwillen im Grab umdrehen müsste. Eingezwängt im Muslimviertel an der Grenze zum Christenviertel, umlagert von Geldwechslern und Tschaiverkäufern, immer von Bauarbeiten verunstaltet und so verwinkelt gebaut, dass sich von keinem Punkt aus eine Gesamtansicht ergab, im Innern zentimeterweise zwischen den einzelnen christlichen Konfessionen parzelliert, glich sie eher einem religiösen Rummelplatz als einem Ort der Andacht und der Besinnung. Rechts neben dem Eingang befand sich der Platz des muslimischen Auf- und Zuschließers, es folgte der Salbungsstein, rechts davon der Ort der Kreuzigung und des Todes. Wandte man sich nach links, gelangte man unter eine große Rotunde, in der man einen Blick auf die leere Grabkapelle werfen konnte. Gebückt bewegten sich die Pilger im Entengang durch den Grabraum, argwöhnisch beobachtet von bärtigen Hierokraten, ehe sie einen vollkommen verkitschten kleinen Raum mit dem leeren Grab erreichten, dessen Inneres aber nicht zu sehen war, weil zwei Marmorplatten


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