Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar Wallace

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Edgar Wallace - Gesammelte Werke - Edgar Wallace


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stand. Es war nur so verstaubt, daß man es von dem Rahmenwerk des Kastens nicht unterscheiden konnte. Als er das Päckchen herauszog, riß das Papier ein, das sich hinter einen Nagel geklemmt hatte. Dadurch erklärte sich auch, daß das Päckchen beim Leeren des Briefkastens nicht herausgefallen war. Leon blies den Staub vorsichtig ab; auf der Adresse fand er den aufgedruckten Stempel des Pasteur-Institutes. Er steckte das Päckchen in die Tasche und verließ das Haus auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Er war über zwei Stunden ausgeblieben, und Manfred war in ernster Sorge um ihn.

      »Hast du etwas entdeckt?«

      »Dies hier.« Leon zog das Päckchen aus der Tasche und erzählte, wo er es gefunden hatte.

      »Vom Pasteur-Institut?« fragte Manfred erstaunt: »Aber natürlich, das Serum, das er für die Injektion brauchte! Das wird nur im Pasteur-Institut hergestellt. Ich entsinne mich, in den Prozeßberichten darüber gelesen zu haben.«

      »Er machte zweimal in der Woche Einspritzungen – wenn ich mich recht erinnere, am Mittwoch und am Sonnabend. Es wurde auch durch Zeugenaussage im Prozeß festgestellt, daß am Mittwoch vor dem Mord die Injektion unterblieb. Es ist mir damals schon aufgefallen, daß niemand fragte, warum er an dem letzten Mittwoch keine Injektion gab.«

      Er öffnete den Papierumschlag und zog eine längliche, hölzerne Schachtel daraus hervor, um die ein Brief gewickelt war. Auch dieses Schriftstück, das in Französisch abgefaßt war, trug den Stempel des Pasteur-Instituts.

      ›Sehr geehrter Herr,

      wir senden Ihnen, umgehend das Serum Nr. 47, das Sie verlangt haben. Bedauerlicherweise wurde Ihnen durch das Versehen eines Angestellten das Serum in der vergangenen Woche nicht geschickt. Wir haben heute Ihr Telegramm erhalten, in dem Sie uns mitteilten, daß Sie kein Serum mehr besitzen, und senden Ihnen dieses als beschleunigte Eilsendung.«

      »Kein Serum mehr besitzen«, wiederholte Gonsalez. Er nahm den Papierumschlag auf und sah nach der Marke.

      »Paris, den vierzehnten September«, las er. »Und hier haben wir auch den Poststempel des Eingangs. Newton Abbott, den sechzehnten September sieben Uhr morgens.« Er runzelte die Stirn. »Dieses Paket wurde also am Morgen des sechzehnten in den Briefkasten gesteckt«, sagte er langsam. »Mrs. Twenden erhielt ihre letzte Einspritzung am Abend des fünfzehnten. Der sechzehnte war ein Sonntag, an dem nur früh morgens einmal Post ausgetragen wird. Begreifst du die Zusammenhänge?«

      Manfred nickte.

      »Offensichtlich konnte er keine Injektion machen, weil ihm das Serum ausgegangen war, und diese neue Sendung kam an, als seine Frau im Sterben lag. Wie wir sehen, hat er das Päckchen überhaupt nicht geöffnet.«

      Er zog eine dünne Glastube aus dem Holzkästchen hervor und kontrollierte den versiegelten Verschluß.

      »Hm, nun werde ich den Schlüssel für das Baxeter-Gefängnis also doch brauchen. Warum machte er am Mittwoch keine Einspritzung? Weil er kein Serum hatte. Offenbar wartete er darauf, hat es aber schließlich vergessen. Wahrscheinlich hat der Postbote am Sonntag morgen an die Tür geklopft, keine Antwort erhalten und deshalb das kleine Päckchen durch den Einwurf in den Briefkasten gesteckt. Zufällig ist es an einem Nagel hängengeblieben, wo ich es heute entdeckte.«

      Er legte das Umschlagpapier auf den Tisch und holte tief Atem.

      »Ich werde mich jetzt daranmachen, den Schlüssel auszufeilen.«

      Zwei Tage später kam Manfred mit neuen Nachrichten nach Hause.

      »Wo ist mein Freund?«

      Mrs. Martin lächelte bedeutungsvoll.

      »Der Herr arbeitet im Gewächshaus. Ich dachte, daß er neulich einen Scherz machte, als er mich fragte, ob er einen Schraubstock an dem Arbeitstisch anbringen dürfe. Aber er ist tatsächlich an der Arbeit.«

      »Er arbeitet an einem neuen Radioapparat.« Manfred hoffte, daß die Wirtin von solchen Dingen keine Ahnung hatte.

      »Er ist sehr eifrig. Eben kam er heraus, um ein wenig Luft zu schöpfen – ich habe noch niemals einen Menschen so schwitzen sehen! Er scheint den ganzen Tag mit der Feile zu hantieren.«

      »Sie dürfen ihn bei der Arbeit nicht stören.«

      »Das würde mir im Traum nicht einfallen«, erwiderte Mrs. Martin etwas verletzt.

      Manfred ging in den Garten hinaus, und Leon sah ihn näherkommen. Das Gewächshaus war ein idealer Arbeitsplatz, denn er konnte von weitem beobachten, wenn sich die Wirtin näherte, und konnte den Schlüssel immer rechtzeitig verbergen. Er arbeitete nun schon den zweiten Tag daran.

      »Er reist heute ab, genauer gesagt, heute abend«, erklärte Manfred. »Er fährt nach Plymouth und will dort den Dampfer der Holländisch-Amerikanischen Linie nach New York besteigen.«

      »Heute abend?« fragte Leon erstaunt. »Das könnte ja ganz gut klappen. Mit welchem Zug fährt er denn?«

      »Das weiß ich nicht.«

      »Bist du deiner Sache auch ganz sicher?«

      Manfred nickte.

      »Er hatte verschiedenen Bekannten erzählt, daß er erst morgen früh fährt, aber er macht sich heute abend aus dem Staube. Die Leute sollen nichts von seiner Abreise erfahren. Ich habe es nur zufällig durch eine Unvorsichtigkeit des Doktors selbst entdeckt, denn ich war heute auf der Post, als er ein Telegramm abschickte. Seine Brieftasche lag offen auf dem Schalterbrett, und ich sah, daß einige Gepäckzettel daraus hervorschauten. Es waren Gepäckzettel für Dampfer, und ich las das Wort ›Rotterdam‹. Sofort schaute ich in den Zeitungen nach und erfuhr, daß der Dampfer ›Rotterdam‹ morgen früh abfährt. Als ich dann später hörte, daß er den Leuten gesagt hatte, er würde morgen früh Newton Abbott verlassen, war ich meiner Sache ganz sicher.«

      »Das trifft sich vorzüglich, George. Diese Tat wird die Krone unseres Lebenswerkes sein. Ich sage ›unsere‹, aber ich fürchte, ich muß die Sache ganz allein ausführen, obgleich du dabei eine bedeutende Rolle zu spielen hast.« Er lachte leise und rieb sich die Hände. »Wie fast alle anderen Verbrecher hat auch Twenden einen ganz dummen Fehler begangen. Er hat nach einem alten Testament das Vermögen seiner Frau geerbt. Es blieb ihm ihr ganzer Besitz mit Ausnahme von zweitausend Pfund, die sie auf einer Bank deponiert hatte. Diese sollten an ihren Neffen, einen Ingenieur in Plymouth, fallen. In seiner Habgier hat Twenden sicherlich diese Testamentsbestimmung vergessen und hat das ganze Geld auf seine Bank in Torquay eingezahlt. Vor einigen Tagen wurde es von Newton Abbott aus überwiesen, die ganze Stadt sprach darüber. Fahre also sofort nach Plymouth und suche den jungen Mr. Jackley auf, besuche auch seinen Rechtsanwalt oder irgendeinen anderen. Sollte Dr. Twenden die zweitausend Pfund nicht an seinen Neffen gezahlt haben, so soll er einen Haftbefehl gegen Twenden ausstellen lassen. Der Doktor ist unter diesen Umständen ein Treuhänder, der sich heimlich durch Flucht seinen Verpflichtungen entziehen will, und die Justizbehörden werden den Verhaftungsbefehl ausstellen, wenn sie erfahren, daß der Mann morgen mit der ›Rotterdam‹ das Land verlassen will.«

      »Wenn du ein gewöhnlicher Mann wärest, Leon, würde ich denken, daß deine Rache ein wenig ungenügend ist.«

      »Das wird sie nicht sein«, entgegnete sein Freund ruhig und gelassen.

      Abends um neun Uhr dreißig bestieg Dr. Twenden mit hochgeschlagenem Mantelkragen und herabgezogenem Hut ein Wagenabteil erster Klasse auf dem Bahnhof in Newton Abbott. Der Detektivsergeant, den er kannte, trat an ihn heran und klopfte ihm auf die Schulter.

      »Folgen Sie mir, Doktor.«

      »Warum denn, Sergeant?« Twenden wurde plötzlich bleich.

      »Ich habe einen Haftbefehl für Sie in der Tasche.«

      Als dem Doktor die Anklage auf dem Polizeirevier vorgelesen wurde, wütete er wie ein Wahnsinniger.

      »Ich werde Ihnen das Geld geben, jetzt sofort! Aber ich muß heute abend noch abfahren. Morgen früh fährt mein Dampfer nach Amerika.«

      »Das kann ich mir denken«, erwiderte der Polizeiinspektor trocken.


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