Edgar Wallace - Gesammelte Werke. Edgar Wallace
Читать онлайн книгу.stand oben am Eingang zur Untergrundbahn«, sagte er. »Wie immer war ein großes Gedränge dort. Aber es ist mir niemand aufgefallen. Nur Slick Smith kam in einem ganz durchweichten, dunkelblauen Mantel vorbei.«
»Wann?«
»Vor ungefähr fünf Minuten.«
In Scotland Yard waren noch keine Nachrichten eingelaufen, als Dick dort eintraf, und er machte sich daher sofort auf den Weg, um Slick Smith aufzusuchen.
Dieser war nicht in seiner Wohnung, aber der Hauswirt hatte nichts dagegen, daß Dick nach oben ging, um ihn dort zu erwarten. Die Tür war zu, ließ sich jedoch leicht öffnen. Dick trat in das Zimmer ein, hatte aber keine Gelegenheit, sich genauer umzusehen, weil der Inhaber der Wohnung ihm fast auf dem Fuß folgte.
Slick lächelte und hatte eine große Zigarre im Mundwinkel.
»Guten Abend, Captain!« sagte er vergnügt. »Wie nett von Ihnen, daß Sie mich besuchen!«
»Erzählen Sie mir bitte genau, was Sie von fünf Uhr an getrieben haben«, erwiderte Dick schroff.
»Das ist nicht so einfach. Ich weiß nur, daß ich mich um Viertel nach neun auf dem Haymarket befand. Einer Ihrer Spürhunde sah mich. Es wäre albern, es abzuleugnen. Während der übrigen Zeit bin ich herumgebummelt. Das Bequemste für Sie ist, wenn Sie sich bei der Stormerschen Agentur erkundigen. Die Firma läßt mich nämlich beobachten. Sie brauchen nur dort anzufragen. Aber ich will Ihnen etwas sagen, Captain: lassen Sie uns die Karten aufdecken. In Ihrer Wohnung ist heute eingebrochen worden – wollen Sie mich deshalb holen?«
»Ich will Sie gar nicht holen. Aber Sie sind als verdächtig bekannt und wurden in der Nähe des Haymarket gesehen, als der Einbruch stattfand. Was ist denn eigentlich mit Ihrem Gesicht los?« Er drehte ihn nach der Lampe hin. Von der Backe bis über das linke Ohr hinauf zog sich eine lange Schramme, die sogar einige Haare entfernt hatte. »Das ist ja die Spur einer Kugel! Und hier am Kinn – rührt die Wunde etwa von Glasscherben her? Hören Sie zu, Smith: Sie standen hinter einem Fenster, die Kugel fuhr durchs Glas, streifte Ihre Stirn, prallte dann an Ihrem Kopf ab, und ein Glassplitter – ach, was ist denn das?« Er zupfte einen winzigen Glassplitter von dem nassen Mantelärmel des Mannes und hielt ihn Slick vor die Augen.
Eine Weile schwiegen beide und sahen einander an.
»Alle Achtung, Shannon!« sagte Slick Smith dann. »Sie haben das Zeug zu einem tüchtigen Detektiv. Ja, man hat auf mich geschossen – durch das Fenster einer Autodroschke. Einer von diesen schäbigen Halunken in Soho hat einen heimlichen Groll gegen mich. Hier ist die Nummer des Wagens – falls Sie Nachforschungen anstellen wollen.« Er holte eine Karte mit einer darauf gekritzelten Nummer aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Sein Alibi war gut vorbereitet.
Diese Kaltblütigkeit reizte Dick aufs äußerste. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, und er wußte im Grund seines Herzens, daß er sich weniger um den Verlust der Diamanten als um Audreys Sicherheit sorgte.
»Smith«, sagte er eindringlich, »wollen Sie mir den Gefallen tun, wenigstens bis zu einem gewissen Grad offen gegen mich zu sein? Als ich nach Hause fuhr, befand sich Miß Bedford in meiner Begleitung – kennen Sie die Dame?«
»Ich habe sie einmal getroffen.«
»Schön. Es ist mir jetzt vollkommen gleichgültig, ob Sie mit dem Einbruch zu tun hatten oder nicht, aber sagen Sie mir, ob Sie Miß Bedford heute abend gesehen haben.«
Smith lächelte strahlend.
»Natürlich hab' ich sie gesehen! Vor zwei Minuten stand sie noch vor diesem Haus.«
Er hatte kaum gesprochen, als Dick auch schon die Treppe hinabstürmte. Auf dem Gehsteig ging jemand im Regenmantel auf und ab.
»Audrey!« rief er, und bevor er selbst wußte, was er tat, hielt er sie schon in den Armen. »Ach, Kind, Sie wissen nicht, was diese Minute für mich bedeutet«, sagte er mit zitternder Stimme.
Sie machte sich sanft von ihm frei.
»Hat Mr. Smith Ihnen nicht gesagt, daß ich hier warte?«
»Nahm er denn an, daß ich hier sein würde?« entgegnete er erstaunt.
Er führte sie nach oben, und sie erzählte.
»Ich dachte auch, daß Sie es wären, als jemand herunterkam und dem Inspektor etwas zuflüsterte. Aber als er die Tür aufriß, sah ich, daß Sie es nicht waren. Dick – es war Malpas! Ich hätte beinahe laut aufgeschrien, aber meine Hand berührte zufällig das silberne Abzeichen in meiner Tasche, und ich wurde mir wieder meiner Verantwortung als Detektivin bewußt. Ich eilte hinter ihm her und verfolgte ihn durch die Panton Street zum Leicester Square und zur Coventry Street. Dort bog er in eine Nebengasse ab, ging am Pavilion-Theater vorüber und die Great Windmill Street hinauf. Dort wartete ein Wagen auf ihn, aber als er einstieg, beging ich eine Dummheit. Ich schrie ›Halt!‹ und rannte darauf zu. Zu meiner größten Überraschung fuhr er nicht davon, sondern schaute aus der geschlossenen Limousine heraus und sagte: ›Sind Sie es, Miß Bedford? Steigen Sie doch bitte ein. Ich möchte mit Ihnen sprechen.‹ Und als er dann blitzschnell aus dem Auto sprang, ergriff ich die Flucht. Wie ich ihm entkommen bin, weiß ich selbst nicht. Es war kein Mensch in der Nähe, und ich war in einer entsetzlichen Todesangst! Ich rannte um mehrere Straßenecken und konnte kaum noch laufen, als plötzlich Mr. Smith in Sicht kam. Ich erschrak zuerst furchtbar, denn ich dachte, es wäre Malpas. Das ist alles. Mr. Smith brachte mich dann zu Ihrer Wohnung, und dort hörten wir von einem Polizisten, daß Sie sich nach ihm erkundigt hätten.«
Dick holte tief Atem.
»Wie kam es denn, daß Sie in der Nähe waren, Smith?«
»Ich war der jungen Dame gefolgt – was ich vielleicht unterlassen hätte, wenn ich gewußt hätte, daß sie zur Firma Stormer gehört«, entgegnete Slick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber jetzt werden Sie gehen wollen. Gute Nacht!«
30
Als Audrey am nächsten Morgen in ihrem luxuriös ausgestatteten Zimmer frühstückte, wurde ihr zu ihrer größten Verwunderung ein Brief von Dora gebracht. Ihr Erstaunen wuchs noch, als sie die Zeilen las, die ihre Schwester geschrieben hatte:
»Mein liebes Kind,
kannst Du mir wohl jemals verzeihen, daß ich Dich so entsetzlich behandelt habe? Der Gedanke, daß Du unseretwegen unschuldig ins Gefängnis gingst, läßt mir und Martin keine Ruhe, und wenn ich an meinen fürchterlichen Angriff auf Dich denke, kann ich mich vor mir selbst nur dadurch rechtfertigen, daß ich mir sage, ich war nicht mehr bei Sinnen. Willst Du vergeben und vergessen? Ich habe Dir viel zu sagen. Bitte rufe mich an.
Deine Dich liebende Schwester
Dorothy.«
»Dorothy?« murmelte Audrey überrascht. Aber sie fühlte doch etwas wie Freude und eilte ans Telephon.
Doras Stimme klang matt, als sie antwortete.
»Wie lieb, daß du kommen willst. Du bist jetzt ja wohl für Stormer tätig?«
»Woher weißt du das?«
»Es wurde uns von jemand erzählt. Aber das ist ja gleichgültig, wenn du nur kommst.«
Audrey ließ sich das Bad richten und erkundigte sich bei der Gelegenheit bei dem Zimmermädchen nach dem geheimnisvollen Mr. Torrington.
»Sie sagen ja, daß er Millionär ist«, erwiderte das Mädchen achselzuckend, »aber ich kann nicht finden, daß er viel von seinem Geld hat. Den ganzen Tag sitzt er in seinen Zimmern herum und raucht oder liest, und abends geht er aus – aber nicht ins Theater oder ins Kino! Nein, er bummelt nur in den Straßen herum. Na, das Geld sollte ich mal haben! Ich wüßte, was ich damit täte!«
»Ist er jetzt auch in seinen Zimmern?«
»Ja, eben habe ich ihm das Frühstück gebracht. Höflich ist er immer, das muß ich sagen. Und er lebt auch sehr regelmäßig. Um fünf Uhr steht er schon auf, da muß ihm der Nachtportier Kaffee und heiße Brötchen bringen.«
»Hat