Spiel des Zufalls. Joseph Conrad
Читать онлайн книгу.gab er zu.
»Wäre Ihnen ein Mann lieber, der seine Gedanken hübsch aufgeräumt läßt?«
»Nein, das sicher nicht«, antwortete unser neuer Bekannter. Offensichtlich war es nicht schwer, mit ihm auszukommen. »Er gefällt mir sehr gut,« fuhr er fort, »obwohl man nicht immer weiß, wo er hinaus will. Er scheint Verschiedenes vorzuhaben. Was tut er denn?«
Ich unterrichtete ihn, daß unser Freund Marlow sich vor einigen Jahren halb widerwillig vom Seedienst zurückgezogen habe.
Herrn Powells Entgegnung war: »Bildete sich wohl ein, er hätte genug davon?«
»Eingebildet ist genau das Wort für seinen Fall«, bemerkte ich, indem ich mir Marlows langen Aufenthalt bei uns zurückrief, der so krampfhaft als vorübergehend bezeichnet wurde. Ein Jahr nach dem anderen hatte er an Land zugebracht, wie ein Vogel auf dem Zweige eines Baumes ruht, so in sich gespannt von der Kraft zu raschem Abfluge in sein wahres Element, daß es unverständlich ist, warum er Minute um Minute still sitzt. Das Meer ist des Seemanns wahres Element, und Marlow war für mich mit seinem Verweilen an Land ein Gegenstand ungläubigen Mitleids, wie etwa ein Vogel, der den Glauben an die hohe Gabe des Fliegens verloren hätte.
2
Die Fynes und ihre Freundin
Wir waren aufgestanden, und ich hatte mich mit Herrn Powell ans Fenster zurückgezogen, wo sich nun Marlow, ernst und bedächtig wie immer, zu uns gesellte.
»Wie war gleich der Name?« fragte er. Herr Powell begriff erst nach einer Weile.
»Ach, Sie meinen die Ferndale. Ein Liverpool-Schiff, Holz und Eisen.«
» Ferndale,« wiederholte Marlow nachdenklich, » Ferndale.«
»Kennen Sie sie?«
»Unser Freund«, sagte ich, »kennt so ziemlich jedes Schiff. Scheint sich während seiner Zeit auf See recht gründlich umgetan zu haben.«
Marlow lächelte.
»Ich habe sie gesehen, einmal zumindest.«
»Der feinste Kahn, der je von Stapel lief«, begeisterte sich Herr Powell. »Ohne Ausnahme.«
»Sie sah fest und wohnlich aus,« bestätigte Marlow, »außergewöhnlich bequem, aber nicht schnell.«
»Sie war schnell genug für jeden vernünftigen Menschen, während ich darauf war wenigstens«, knurrte Herr Powell, der uns den Rücken zugekehrt hatte.
»Das ist jedes Schiff für einen vernünftigen Menschen«, beruhigte Marlow. »Ein Matrose ist kein Weltenbummler.«
»Nein«, murmelte Herr Powell.
»Zeit ist ihm Nebensache«, kam ihm Marlow entgegen.
»Das kann man wohl sagen«, gab Powell zu. »Aber eine schnelle Überfahrt ist doch ein Stolz.«
»Das ist wahr, aber doch mehr für den Kapitän! Übrigens, wie hieß er doch?«
»Der Kapitän der Ferndale? Anthony, Kapitän Anthony!«
»Jawohl, ganz richtig«, stimmte Marlow nachdenklich bei. Unser neuer Bekannter sah über die Schulter zurück.
»Was wollen Sie damit sagen? Warum ist es so richtiger, als hätte er Brown geheißen?«
»Er kannte ihn wahrscheinlich«, sagte ich erklärend. »Herr Marlow scheint so ziemlich jede Seele zu kennen, die jemals in einem Seemannsleib wohnte.«
Herr Powell schien sehr empfänglich für jede Anregung, denn nun sah er wieder zum Fenster hinaus und brummte dabei:
»Er war eine gute Seele.«
Dies bezog sich offensichtlich auf Kapitän Anthony von der Ferndale.
Marlow wandte sich an mich:
»Ich habe ihn nicht gekannt, wirklich nicht. Er war eine gute Seele? Das ist doch nichts so Ungewöhnliches, oder? Und ich wußte nicht einmal das von ihm. Alles, was ich von ihm weiß, ist ein Zwischenfall, mit Namen Fyne.«
Daraufhin fuhr Herr Powell herum, der scheinbar auch heftig werden konnte, und füllte den Fensterrahmen mit seinem breiten Rücken.
»Was wollen Sie nur damit sagen? Ein Zwischenfall -- mit Namen -- Fyne«, wiederholte er und setzte nach jedem Wort mit Nachdruck ab.
Marlow verzog keine Miene. --
»Ich meine nicht Zwischenfall im Sinne von Unfall. Durchaus nicht. -- Fyne war ein guter, kleiner Kerl im Staatsdienst. -- Unter einem Zwischenfall verstehe ich etwas, das unvorhergesehen und ohne erdenklichen Zweck geschieht. Auf diese Weise gerät meistens ein Schwager in das Leben eines Mannes.«
Da Marlows Ton entschuldigend klang und da sich unser Freund wieder zum Fenster gewandt hatte, nahm ich es auf mich, zu sagen: »Du bist gerechtfertigt. Es ist sehr wenig Vorbedacht in den meisten Ehen; aber sie sind deswegen auch nicht schlimmer. Die Berechnung führt den Menschen oft ebenso in die Irre wie die Leidenschaft. Ich weiß, daß du kein Zyniker bist.«
Marlow lächelte sein nachdenkliches Lächeln, das so freundlich war, als könne er keine Bitterkeit gegen Menschen aufbringen, die er einst gekannt.
»Die Ehe des kleinen Fyne schien recht glücklich. Es war keinerlei Berechnung dabei. Fyne, müssen Sie wissen, war ein leidenschaftlicher Freund des Fußwanderns. Er verbrachte all seine Freizeit damit, unsere Heimat kreuz und quer zu durchziehen. Seine Neigungen waren recht einfach. Er brachte unendlich viel Überzeugung und Ausdauer für seine Ferientage mit. Zur rechten Jahreszeit konnte man stets Fyne in den Feldern treffen, mit Richtung auf irgendeinen Kirchturm; ein kräftig gebauter kleiner Mann mit ernstem Gesicht, einen schäbigen Rucksack aufgeschnallt. Er hatte einen wahren Abscheu vor Landstraßen und schrieb einst ein kleines Bändchen, ›Des Wanderers Handbuch‹ genannt; seither galt er als Sachverständiger für die Fußwege Englands. So kam er eines Tages in seiner bekannten Art, als Hinterwäldler und Einzelgänger, in ein hübsches Surreydorf, wo ihm Miß Anthony begegnete. Reiner Zufall, wie Sie sehen. Ihre Herzen fanden sich, wahrscheinlich über irgendeinen Wiesenzaun weg. Der kleine Fyne hatte sehr ausgeprägte Ansichten über die Bestimmung der Frau in dieser Welt, über das Wesen unserer irdischen Liebe, über die Verpflichtungen, die dieses vergängliche Leben mit sich bringt, und so fort. Er wird sie seiner zukünftigen Frau wohl dargelegt haben. Fräulein Anthonys Lebensanschauungen standen gleichfalls felsenfest, waren aber anderer Art. Die Geschichte ihrer Liebe kenne ich nicht. Ich nehme an, sie spielte sich heimlich ab, doch ganz gewiß in ernster Würde, hinter Hecken oder Waldbüschen ...«
»Warum heimlich?« unterbrach ich ihn.
»Wegen des Vaters der Dame. Der war ein wilder Gefühlsmensch, der wiederum seine eigenen, sehr bestimmten Ansichten über seine Vaterrechte hegte. Er war ein Tyrann; daß aber Fyne überhaupt Einbildungskraft besaß, zeigte sich in seinem Stolze auf die Verwandtschaft seiner Frau. Sie reizte seinen Scharfsinn. Es ist schwer -- nicht wahr? --, den Mädchennamen seiner Frau in einem allgemeinen Gespräch anzubringen. Aber mein prächtiger Fyne brachte es mit Hilfe des Kapitäns Anthony fertig, sonst hätte ich nichts von der Existenz dieses Mannes gewußt. ›Der Bruder meiner Frau, der Seemann‹, hieß es da. Er führte diesen Seemannsbruder bei den verschiedensten Anlässen ins Treffen: bei indischen und Kolonialangelegenheiten, bei Verkehrsfragen, Reisegesprächen, in Verbindung mit Seebädern und anderem. Ich kann mich sogar erinnern, wie der ›Bruder meiner Frau, Kapitän Anthony,‹ sogar bei einem Sonnenuntergang herhalten mußte. Auch vergaß Fyne nie hinzuzusetzen: ›Der Sohn von Carleon Anthony, dem Dichter, Sie wissen ja.‹ Er pflegte für diese Feststellung die Stimme etwas zu dämpfen, und die Leute fühlten Ehrfurcht, oder taten doch so.
Der selige Carleon Anthony, der Dichter, besang sein Leben lang die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Annehmlichkeiten unseres Zeitalters, in überaus abgerundeten Versen; seine Absicht ging, wie er selbst sagte, dahin, das