Ingenieure - Status und Perspektiven. Armin Odoleg
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Die Fortführung dieser Gedankengänge auf Internetdiskussionen, Politik oder analoge Bereiche mag jeder für sich vornehmen.
Immer sind Überzeugungen der Lösung der Probleme bzw. der neutralen Betrachtung derselben hinderlich oder machen sie unmöglich.
Der verursachte Schaden ist unermesslich.
Erfahrung und Vorurteil
An vorhergehenden Beispielen erkennt man auch, dass man die Begriffe „Vorurteil“ bzw. „Überzeugung“ und „Erfahrung“ nicht klar trennen kann. Was die Sache noch um einiges komplexer macht. Eine Erfahrung bildet ein Vorurteil aus; sie kann durchaus falsch oder unzureichend sein.
Bei der Beurteilung von Fakten ist es jedoch nicht möglich, die Erfahrung komplett auszuschalten, denn ohne einen gewissen Erfahrungsschatz ist es ebenfalls unmöglich, ein Urteil zu fällen.
Weiterhin ist jeder von der persönlichen Denkweise begrenzt15 . Dies zeigt das Zitat von Ludwig Wittgenstein: „Will man dem Denken eine Grenze setzen, so müsste man beide Seiten der Grenze denken können (Man müsste also denken, was sich nicht denken lässt)“. Er bezog dies vermutlich auf das allgemeine Denken. Die Aussage ist aber auch für jede Person und Situation gültig. Die Denkweise eines jeden ist begrenzt, auch die des Autors des vorliegenden Buches. Man kann die eigenen Denk-Grenzen nicht erkennen und bestimmen.
Man kann dies auch an der eigenen Person über eine andere Weisheit zeigen. Sie besagt, dass „Erfahrung das ist, was man glaubt zu haben, bis man mehr davon hat“. Einen erweiterten Erfahrungshorizont erfährt man aber erst dann, wenn man nach dem „Warum“ fragt und sich in Dinge einarbeitet. Wenn man sich nur oberflächlich mit Dingen beschäftigt, wird man dies niemals feststellen können. Wenn man aber Stück für Stück Einzelteile zusammensetzt, kommt dies der Erfahrung zugute. Wobei diese Erfahrung nicht zwangsläufig zu den korrekten Schlussfolgerungen führen muss.
Es kann gefährlich werden, wenn Personen mit ihrer Erfahrung „argumentieren“. Beispielsweise wurde von einer Krankenschwester an zwei aufeinanderfolgenden Tagen der Puls in derselben Situation gemessen - die Ergebnisse waren 41 und 78. Das Argument für die Korrektheit der Messungen war: „Ich habe 25 Jahre Erfahrung - das sind Messabweichungen“. Denkt man aber über die Zahlen nach, so erkennt man, dass 78 dividiert durch 2 39 ergibt. Und 39 ist nur 5% von 41 verschieden. Somit hatte das Gerät einen Puls von 39 gemessen und die Programmierer des Messgerätes haben „beschlossen“, dass 39 zu niedrig ist und somit wurde 78 angezeigt. „Die billigen Geräte fangen unter 40 an zu doppeln“ bemerkte ein Arzt später dazu. Auch ein Blick in die Bedienungsanleitung hätte ausgereicht, um den „Erfahrungshorizont“ zu erweitern. Das wurde aber nicht gemacht, da man sonst einen Fehler hätte zugeben müssen16 .
Als Zitat von Ben Hecht kann man lesen: „Vorurteile sind das Floß, an das der schiffbrüchige Geist sich klammert“. In diesem Sinne die Frage an Personen, die sich für „erfahren“ halten: Ist es Erfahrung oder „nur“ ein Vorurteil?
Die „Paradoxe Verschreibung“
Im vorigen Kapitel wurde bei den nebeneinander geführten Leistungs- und Signalleitungen erwähnt, dass man manchmal das Gefühl hat, dass es besser sei, das Gegenteil von dem vorzuschlagen, was man beabsichtigt, also „Leistungskabel und Signalkabel nebeneinander führen und das möglichst dicht“. Das führt zum Thema „Paradoxe Verschreibung“, die von Paul Watzlawick als häufig effektiv beschrieben wurde. Sein Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ beschreibt eine solche, wie unschwer zu erkennen.
Momentan gehen wir alle davon aus, dass jemand etwas vorschlägt, was diesem als sinnvoll erscheint und der andere prüft es, um es dann evtl. auszuführen. Das klingt logisch. Das ist auch so, wenn ein Chef etwas anweist. Aber - ist das immer so? Vieles spricht dagegen. Es wird berichtet, dass Anti-Raucher-Kampagnen bei Jugendlichen von Zigarettenfirmen gesponsert werden. Das klingt absurd, oder? Ist es aber nicht, denn statistisch gesehen beginnen mehr Jugendliche zu rauchen, die an einer solchen Veranstaltung teilnahmen. Dies ist perfektes Marketing unter altruistischem Deckmantel.
Im Engineering hat man das Gefühl, dass es oft zielführender sei, das Gegenteil von dem vorzuschlagen, was man eigentlich will. Denn irgendwie machen Personen scheinbar absichtlich das Gegenteil von dem, was vorgeschlagen wurde. Auch denkt man darüber nach, ob es an der Argumentationsweise liegt oder ob das Anliegen vielleicht falsch vorgetragen wurde.
Andererseits: Vor ein Mannloch17 von 60 x 60 cm wurde ein Mannloch von 40 x 60 cm gebaut. Wahrscheinlich wären auch 20 x 40 cm verwendet worden, wenn es zulässig gewesen wäre. Sehr kollegial. Das Mannloch war dazu da, den Zugang zu einem Produkt zu gewährleisten. Und da Serviceleute in dieser Branche normalerweise nicht schmächtig sind, werden sie Probleme haben, dort durchzuschlüpfen. Zudem beide Mannlöcher mit kurzem Abstand versetzt angeordnet wurden.
Eine Anfrage bezüglich der Umkonstruktion wegen des Mannloches war eigentlich deswegen, da die Konstruktion technisch unsinnig war: Das Gussteil war komplex aufgebaut und von der Materialdicke stark unterschiedlich18 . Normalerweise baut man Gussteile möglichst glatt und gleichmäßig dick. Ein Lunker („Gussloch“), der durch die Komplexität gefördert wird, macht solche Teile zu Ausschuss. „Wir haben Gussprobleme“ hieß es später. Das bedeutet „übersetzt“: Wir mussten viele Teile dieser tonnenschweren Platte nach dem Gießen als Ausschuss deklarieren und wegwerfen bzw. wieder einschmelzen.
Als „Zuckerl“ für die Ingenieure: Für dieses Teil mit einem Durchmesser von 2,4 m musste auch ein rechnerischer Festigkeitsnachweis erbracht werden. Das Ergebnis war: „Die Platte hält den Belastungen stand“. Diese Platte sollte aber nicht der Festigkeit dienen, sondern sie sollte Verformungen verhindern. Die Verschiebung der Krafteinleitungspunkte, die einen Hinweis auf dessen Wirkung gegeben hätte, wurde nie thematisiert. Diese Information hätte man aber leicht den Festigkeitsrechnungen entnehmen können.
Dies stellt leider „Neu“-Deutsches Engineering von Ingenieuren dar, die frisch von der Hochschule kommen. Die gut gemeinten Hinweise von Kollegen als helfende Institution werden ignoriert. Ein paar hundert Kilogramm Guss hätte man hier sparen können; Guss „doppelt“ man nicht.
Vor etwa 30 Jahren, hätte man bei der Konstruktion eines solchen Teiles vom Abteilungsleiter einen ordentlichen Rüffel „kassiert“, dass so etwas nie wieder vorgefallen wäre. Heutzutage werden diese Konstruktionen als Patente „durchgedrückt“, um eine bessere Patentstatistik der Abteilung zu bekommen, da selbst Abteilungsleitern häufig komplett die Grundlagen fehlen. Dazu und zu den Ursachen dafür später mehr.
Dunning-Kruger-Effekt
Eine spezielle Form der kognitive Dissonanz ist im so genannten „Dunning-Kruger-Effekt“ zu finden, den es quasi erst seit 1999 als solchen gibt (er wurde vorher bereits anderweitig beschrieben) und über den stark diskutiert wird. Dieser Effekt ist im „Buch der verrückten Experimente II“ dargestellt; Studenten machten einen Test über Allgemeinbildung und wurden vor Bekanntgabe der Ergebnisse gefragt, wie sie ihre eigenen Resultate einschätzen. Das erstaunliche Ergebnis war, dass genau das Drittel der Probanden, die am schlechtesten abgeschnitten hatten, dachten, die Besten zu sein19 . Die Erklärung scheint darin zu liegen, dass gerade den Schlechtesten die Kompetenz fehlt, einzuschätzen, wie gut sie sind. Das Ergebnis ist auch konform mit den Betrachtungen des Kapitels „Überzeugungen“ von Seite 25.
Man hat etwas Analoges ja auch von sich selbst erfahren – nach dem Studium denkt man, man könne alles. Wenn man kompetent ist, relativiert sich dies dann aber. Wenn nicht, kann man sich immer glücklich schätzen, der/die Beste zu sein.
Auch hier zeigt sich, dass Ludwig Wittgenstein mit „Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können“ Recht hatte, wenn man dies auch auf jedes Individuum überträgt. Jeder ist in jedem Bereich limitiert. Oder anders gesagt: In jedem Bereich gibt es jemanden, der besser ist bzw. der es besser kann.