Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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das in zehn Jahren aussehen? Wie würde das in zwanzig Jahren aussehen? Während Tilda dem Monolog ihrer Mutter am Telefon zuhörte, sah sie nachdenklich aus dem Fenster. Ein bisschen bedrohlich wirkte die Perspektive ihres Umzuges schon auf sie. Aber vielleicht kam alles doch noch ganz anders. Vielleicht würden es sich die beiden doch noch überlegen. Tilda schob die Gedanken weg. Fest stand, dass ihre Schwester jetzt in Arizona lebte und ihr später in dieser Hinsicht keine Unterstützung geben konnte. Sie würde die Entscheidung ihrer Eltern voraussichtlich irgendwann allein tragen müssen.

      Es war nicht das erste Mal, dass sie ihre um sechs Jahre ältere Schwester im Stillen beneidete. Doro hatte vor beinahe dreizehn Jahren Sam geheiratet und war zu ihm gezogen. Sam war Amerikaner und jetzt lebte sie mit ihm und ihren drei gemeinsamen Kindern Gregory, Gesine und Gustav in Scottsdale/ Arizona. Dort waren Sam und sie inzwischen die Inhaber der gutgehenden Eisdiele „Dicken´s Creamery“ geworden, die sie vor gut zwei Jahren von Sams Eltern übernommen hatten. „Dicken´s Creamery“ war als regionaler Geheimtipp inzwischen in vielen Reiseführern aufgeführt, was den beiden einen enormen Gästezustrom und viel Arbeit bescherte. Besonders an den Wochenenden war es im Geschäft voll, wenn sich zu den Touristen auch noch die einheimischen Gäste hinzugesellten. Trotzdem gab es zwischen Tilda und ihrer Schwester ein heiliges Ritual, das darin bestand, jeden Samstagnachmittag zur gleichen Zeit miteinander zu telefonierten. Das war bei Doro durch die acht Stunden Zeitverschiebung dann vormittags, so dass sie noch zu Hause war und nicht im Geschäft stand. Außerdem hatten sie sich beide geschworen, sich so oft wie möglich zu besuchen. Solange Tilda noch studiert hatte, war das auch kein Problem gewesen, wenn sie von der finanziellen Seite einmal absah. Manchmal hatte sie sich das Geld für die Flüge bei ihren Eltern borgen müssen. In Sottsdale hatte ihre Schwester es ihr dann jedes Mal zurückgegeben, auch wenn sie das nie gewollt hatte.

      Jetzt, seitdem Tilda als Lehrerin arbeitete und mit Ludwig zusammenwohnte, waren Aufenthalte bei Doro und ihrer Familie in Scottsdale für sie viel schwerer zu organisieren. In den letzten 5 Jahren hatte es deshalb irgendwie nie geklappt, zumal Doro und Sam wegen der Übernahme des Geschäftes auch nicht nach Deutschland gekommen waren. Tilda fand das schlimm. Sie fand es auch schlimm, dass sie in ihrer Beziehung mit Ludwig ihre eigenen Interessen nach und nach immer weniger verfolgt hatte. Und er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, als dass ihm das aufgefallen wäre. Vielleicht war es ihm auch aufgefallen, aber er hatte nichts gesagt, weil es ihm so viel besser gefiel. Gerade neulich hatte Tilda sich wieder einmal vorgenommen, sich von einigen Gewohnheiten ihrer Beziehung, die sie lähmten, zu befreien. Ludwig konnte schließlich auch einen Teil der Aufgaben übernehmen, die erledigt werden mussten. Er übernahm fast nichts und Tilda vermutete, dass er sich sträuben würde oder wenigstens versuchen würde zu diskutieren, wenn sie ihm ihre Pläne darlegen würde. Trotzdem hatte sie sich fest vorgenommen, nicht einzuknicken. Merkwürdigerweise schien er der Auffassung zu sein, dass für sie als Frau die Liebe zur Hausarbeit automatisch angeboren war.

      Ludwig hatte in dieser Hinsicht eine sehr konservative Erziehung genossen. Seine Mutter war immer Hausfrau gewesen, hatte nie gearbeitet und sich um alle häuslichen Belange allein gekümmert, während sein Vater als Pharmavertreter das Geld für die Familie verdiente und viel unterwegs war. Nun verlangte Ludwig von Tilda unausgesprochener Weise das gleiche, obwohl sie beruflich genauso eingespannt war wie er. Er begründete das damit, dass er keine Zeit dafür hätte, sich um den Haushalt zu kümmern. Das Thema hatte sich zwischen ihnen bereits zu einem ständigen Streitpunkt entwickelt. Auch für Reisen in die USA wollte sich Ludwig nicht die Zeit nehmen, weil ihn das Land, wie er immer behauptete, nicht interessieren würde. Das war jedoch nur die halbe Wahrheit. Der Hauptgrund war wohl vielmehr der, wie Tilda inzwischen herausgefunden hatte, dass er unter Flugangst litt und sich den Stress eines Transatlantik-Fluges nicht zutraute. Natürlich war Flugangst „unmännlich“ und deshalb hatte er sie auch niemals zugegeben. Er verbarg seine Flugangst in letzter Zeit durchaus erfolgreich damit, dass er es inzwischen schaffte, die Kurzstreckenflüge von Hamburg nach München zu seinen Eltern mit äußerlicher Gelassenheit zu ertragen. Aber Tilda hatte ihn durchschaut. Vermutlich würde er sich niemals auf einen Langstreckenflug einlassen.

      Ludwigs Eltern in München schienen ohnehin argwöhnisch darüber Buch zu führen, wie häufig ihr geliebter Sohn bei ihnen erschien. Tilda hatte sich wirklich nach Kräften bemüht, ein gutes Verhältnis zu ihnen aufzubauen, aber es war ihr nicht so ganz geglückt. Die Beziehung zu seinen Eltern blieb angespannt. Tilda konnte die beiden einfach nicht gern haben, obwohl sie es wirklich versucht hatte. Nach den sechs Jahren, in denen sie nun schon mit Ludwig zusammen war, empfand sie seine Eltern nach wie vor als Diktatoren, als vollkommen selbstbezogene Menschen, denen sie es niemals recht machen konnte. Wahrscheinlich war es das elterliche Vorbild gewesen, das Ludwig so egoistisch werden ließ. Er hatte dieses Familienerbe mit in sein Leben genommen. In letzter Zeit hatte Tilda immer öfter versucht, sich vor den Besuchen in München zu drücken. Leider war ihr das nur mit mäßigem Erfolg gelungen.

      Während Tilda das dachte, war ihre Mutter gerade wortreich dabei, sich über den Autounfall ihrer neuen Nachbarin auszulassen, die dabei zum Glück nicht verletzt worden war. Tilda kannte die neue Nachbarin ihrer Eltern überhaupt nicht. Jetzt sah sie ihre Zeit gekommen. Sie holte tief Luft und räusperte sich vielsagend. „Mam!“ unterbrach sie ihre Mutter. „Ich muss dir auch noch was Wichtiges sagen. Ich war heute beim MRT.“ Ihre Mutter unterbrach sie sofort mit entsetzter Stimme: „Aber Kind……“ Tilda ließ sie jedoch nicht zu Wort kommen und fuhr stattdessen fort: „Mir war doch oft so schlecht in letzter Zeit. Weißt Du noch? Ostern hab ich´s euch erzählt.“ Es folgte eine kleine Pause und ein Knacken am anderen Ende der Leitung. Darauf ließ sich Tildas Mutter Brigitte vorwurfsvoll vernehmen: „Aber Kind! Das ist doch alles schon wieder gut gewesen! Du hast doch gar nichts mehr davon gesagt!“ Tilda erwiderte einlenkend: „Ja, Mam. Es ist nur eine reine Vorsichtsmaßnahme, weil die Ärzte nichts finden konnten. Ich wollte es euch bloß sagen, nichts weiter. Sie werden bestimmt nichts finden. Das hoffe ich zumindest. Jetzt mach dir bitte keine Sorgen deshalb!“ Tilda wollte ihre Mutter auf keinen Fall beunruhigen, aber sie fühlte, dass sie sie wenigstens von den Tatsachen in Kenntnis setzen musste. Sie kannte ihre Mutter. In dieser Hinsicht war sie überaus empfindlich.

      So ganz und gar traute Brigitte ihrer Tochter offenbar nicht über den Weg. Vom anderen Ende der Leitung her kam ein strenges: „Aber Kind! Wir haben doch so viele Ärzte im Freundeskreis. Da geh doch erst einmal dahin!“ Es folgte die Aufzählung diverser Namen und Titel. Es war eine wirklich erstaunliche Anzahl von Menschen, die ihrer Mutter zufolge als Diagnostiker und Therapeuten schier übermenschliche Fähigkeiten und einen Röntgenblick haben mussten. Tilda hörte ihr geduldig zu und ließ sie ausreden. Dann sagte sie entschlossen: „Mam, du weißt ja, ich bin nicht so der Arztgänger. Kommt von alleine, geht von alleine. Wie Omi schon immer sagte. Und für Tabletten bin ich auch nicht. Das weißt du doch!“ Tildas Mutter Brigitte schnaufte aufgebracht am anderen Ende der Leitung und erwiderte scharf: „Manchmal sollte man aber trotzdem Tabletten nehmen! Manchmal geht es einfach nicht anders.“ Tilda merkte, wie sehr sie sich persönlich angegriffen fühlte, weil sie schon seit Jahren ihre diversen Rheuma-Mittelchen in sich hineinschluckte. Tilda bemühte sich sofort um eine Entschärfung der Situation. Sie wusste, dass ihre Mutter in dieser Hinsicht sehr empfindlich war.

      Nach dem Telefonat fühlte sie sich einerseits erleichtert, aber andererseits auch beunruhigt bei dem Gedanken daran, was möglicherweise in ihrem Befund stehen könnte. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte alles wieder aufgewühlt. Als kurze Zeit später Ludwig nach Hause kam, verdrängte sie die dunklen Gedanken. Das Wichtigste war letztendlich, dass sie bei dem Termin am nächsten Tag keine schlimmen Nachrichten bekam. Sofort erfasste sie erneute Unruhe, die sie wie eine große Welle packte und mit sich fort zu reißen drohte. Tilda fühlte sich ruhelos und nervös. Sie war mit ihren Gedanken weit weg und gar nicht bei der Sache. Als sie für Ludwig und sich wenig später einen Kaffee aufbrühen wollte, goss sie die Milch aus dem Tetrapack direkt über das Kaffeepulver, das in der Kaffeepresse eigentlich auf kochendes Wasser wartete. Ludwig saß derweil im Wohnzimmer und merkte davon nichts. Sie war heilfroh darüber. Er hätte sie vermutlich die nächsten zwei Jahre damit aufgezogen. Nein, von Ludwig konnte sie keine wirkliche Unterstützung erhoffen. Er konnte sich kaum in andere Menschen hineinversetzen. Das hatte Tilda auch früher schon festgestellt. Außerdem war er ohnehin schon immer der


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