Die Farbe der guten Geister. A. A. Kilgon

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Die Farbe der guten Geister - A. A. Kilgon


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und für sich vor. Sie riss das Kalenderblatt vom Vortag ab. „Mit leerem Kopf nickt es sich leichter“, stand dort für diesen neuen Tag, den zwölften Mai, geschrieben.

      Mit leerem Kopf nickt es sich leichter. Nur kurz trat dieser Kalenderspruch wieder in ihr Bewusstsein, als sie später im Wartezimmer des Krankenhauses saß und nervös versuchte, an nichts Schlimmes zu denken. Sie hatte das Zimmer Nr. 254 im Seitenflügel schnell gefunden. Es lag in unmittelbarer Nähe zu den MRT-Räumen. Auch die riesige grüne Krankenschwester mit dem Doppelkinn und der dunkelbraunen Betonfrisur von gestern hatte Tilda schon gesehen. Also war sie richtig dort. Sie war eine halbe Stunde zu früh gekommen. Sie war viel zu nervös gewesen, um zu Hause zu warten. Der Druck in ihrem Oberbauch war an diesem Morgen wieder besonders heftig gewesen und auch die Übelkeit quälte sie. Tilda versuchte, das mit ihrer großen Nervosität zu begründen. Tapfer hatte sie sich trotzdem zu Hause ein kleines Frühstück heruntergequält. Zum Glück verschonte sie der Durchfall sie an diesem Morgen.

      Außer ihr war niemand im Raum. Sie war ganz allein im Wartezimmer. Das Durcheinander der Zeitschriften auf dem Tischchen in der Ecke und die Position der Stühle deuteten allerdings darauf hin, dass schon Patienten vor ihr dagewesen sein mussten.

      Nachdem Ludwig zur Arbeit gefahren war, hatte sie es nicht mehr lange zu Hause ausgehalten. Es war zwar noch viel zu früh gewesen, aber sie war trotzdem schon aufgebrochen. Nun saß sie im Wartezimmer und hat das Gefühl, sich auf dem Weg zum Schafott zu befinden. Ihre Hände hatte sie unter ihre Oberschenkel geschoben, um sie etwas aufzuwärmen. Sie fühlten sich eiskalt an, wie erfroren. Dasselbe traf auch auf ihre Füße zu, obwohl sie extra ihre Halbstiefel angezogen hatte. Sie wurde einfach nicht warm. Normalerweise trug sie Mitte Mai keine Stiefel mehr. Aber seit dem Vortag fror sie unablässig. Es war keine Kälte, die von außen kam. Es war eine Kälte, die sich irgendwie aus ihrem Innern heraus Bahn brach. Sie war so intensiv und so anhaltend, dass sie ein Gefühl in Tilda verursachte, als wäre alles Leben in ihr zum Erliegen gekommen. Unbeweglich saß Tilda auf ihrem Wartezimmerstuhl direkt neben der Tür. Sie hatte sich ein großes buntes Seidentuch um den Hals geschlungen, das in deutlichem Kontrast zu ihrer schlichten weißen Bluse und zu ihrem fast ebenso weißen Gesicht stand. Damit fühlte sie sich wohler und war froh, es mitgenommen zu haben. Nervös drehte sie unablässig eine blonde Haarsträhne unterhalb ihres rechten Ohres um ihren Zeigefinger. Die Wartezeit wurde ihr zur Ewigkeit. Die große Uhr an der Wand, die so aussah, als gehörte sie eigentlich in einen Bahnhof, tickte unermüdlich vor sich hin und nur der rote Sekundenzeiger schien sich wirklich zu bewegen. Tilda fühlte sich wie in einer Art Zeit-Vakuum, seitdem sie sich im Schwesternzimmer gegenüber angemeldet hatte. Eine freundliche, dunkelhaarige Schwester mit osteuropäischem Akzent und hohen Wangenknochen hatte sie in Empfang genommen und sie in das Wartezimmer gegenüber geschickt. Vielleicht hatten alle schon vergessen, dass sie hier saß? Vielleicht war ihr Eintreffen irgendwie untergegangen und nun hockte sie hier und wartete und wartete? Die große Bahnhofsuhr an der Wand gegenüber tickte weiter mit stoischer Gelassenheit und zeigte erst 9.15 Uhr. Das war immer noch eine Viertelstunde zu früh. Tilda zwang sich, realistisch zu bleiben. Es gab überhaupt keinen Grund dazu anzunehmen, dass sie vergessen worden war.

      Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit, die wie die Uhr gegenüber zeigte nur zehn Minuten lang war, kam die riesige grüne Schwester hereingepoltert, indem sie die Tür aufriss und erneut den gesamten Türrahmen ausfüllte. Tilda fühlte sich gegen sie wie ein winziger, farbloser Zwerg. „Frau Johannsen? Kommen sie!“ polterte sie los wie ein Feldwebel. Tilda nickte nur stumm und erhob sich. Die Schwester stampfte vor ihr her in das Behandlungszimmer gegenüber.

      Ein eisgrauer, sehr schlanker Arzt um die Fünfzig mit Knittern im Gesicht und einem weinroten Stethoskop um den Hals, betrat genau in diesem Moment ebenfalls das Behandlungszimmer von einer Seitentür aus. Er trug weiße Hosen und weiße Schuhe, dazu eine grüne OP-Jacke. Er streckte Tilda die Hand entgegen und stellte sich mit „Dr. Schnitzer, Onkologe. Guten Tag!“ vor. Dann wies er wortlos auf einen von zwei Stühlen, der dem seinen am Schreibtisch gegenüberstand. Er setzte sich ebenfalls und die grüne Riesenschwester legte eine Mappe vor ihn auf den Schreibtisch. Eine andere Krankenschwester mit ganz kurz geschnittenem, rotblondem Haar, rosafarbenem Kittel und einem bildhübschen Mädchengesicht schwebte herein, griff nach einer Mappe vom Seitenbord, warf einen Blick darauf und verschwand genauso lautlos mit ihr, wie sie gekommen war. Tilda fröstelte immer noch. Es war kalt im Zimmer. Die grüne Riesenschwester schien das auch so zu sehen. Bevor sie hinausging, schloss sie das angekippte Fenster mit einem so lauten Ruck, als wollte sie den Griff vom Beschlag abreißen. Danach schoss sich die Tür hinter ihr und sie war verschwunden. Dr. Schnitzer begann aufmerksam in der Akte vor sich zu blättern. An der Seite des Raumes befand sich eine Reihe großer, beleuchteter Milchglasscheiben, die offensichtlich zur Betrachtung von Patienten-Aufnahmen vorgesehen waren. Einen Augenblick lang dachte Tilda, sie würde ohnmächtig werden und vom Stuhl fallen. Sie konnte ihre Arme und Beine nicht mehr fühlen, hatte das Gefühl, nur noch aus einem riesigen Kopf zu bestehen. Der Arzt ihr gegenüber roch ein wenig nach Zigarettenrauch. Sie konnte es deutlich wahrnehmen. Ein Arzt, der rauchte. Tilda fand das merkwürdig. Dieser Mann dachte also auch, dass Rauchen keine Konsequenzen für ihn haben würde, so wie alle Raucher das taten. Dabei hätte er es an diesem Arbeitsplatz besser wissen müssen.

      Tilda starrte auf sein Gesicht. Sie versuchte nervös, irgendetwas aus seiner Miene schlussfolgern zu können. Der Arzt schaute ernst, aber auch vollkommen unbeteiligt. Tilda wurde nicht schlau aus seinem Gesichtsausdruck. Sie schob die eiskalten Hände langsam wieder unter ihre Oberschenkel. Zum Glück konnte das unter dem Schreibtisch niemand sehen. Ganz plötzlich schien Dr. Schnitzer mit seinem Akten-Studium fertig zu sein und schaute sie durchdringend an. Seine Stimme klang freundlich, als er sagte: „Frau Johannsen, sie waren gestern bei uns zum MRT. Ich habe hier ihre Aufnahmen und die Auswertung des Befundes von meinen Kollegen. Da ist einiges im Argen bei Ihnen. Es besteht schneller Handlungsbedarf.“

      Tilda erstarrte. Das waren genau die Worte, vor denen sie sich gefürchtet hatte. Ihr Alptraum schien wahr zu werden. Sie kämpfte einen Augenblick lang um ihre Fassung. Immer noch saß sie wie versteinert dem Arzt gegenüber und starrte ihn wortlos an. Der vertiefte sich nochmals in die Akte mit dem braunen Pappdeckel, blätterte vor und zurück und schloss dann den Aktendeckel. Er ließ seine Hände nebeneinander darauf liegen, so als wolle er den Inhalt damit schützen. Dann räusperte er sich und sagte: „Frau Johannsen, wir haben bei Ihnen ein Gewächs in der Bauchspeicheldrüse festgestellt. Genauer gesagt, einen großen Tumor und noch mehrere kleine, verdächtige Bereiche. Das könnten auch noch welche sein, die gerade heranwachsen. Das muss noch genauer untersucht werden. Aber das ist nicht alles. Wir haben außerdem Metastasen in ihrem Bauchfell gefunden. Das sind schlechte Nachrichten.“ Er schaute sie an, fischte aus der linken Brusttasche seiner grünen OP-Jacke eine Brille heraus und setzte sie sich auf. Er sah damit ganz anders aus. Dann fuhr er fort: „Wir müssen davon ausgehen, dass der Haupttumor in ihrer Bauchspeicheldrüse sitzt, und dass die anderen Tumore Metastasen davon sind. Herr Dr. Umlauf ist ihr Hausarzt?“ Er sah sie fragend an. Tilda nickte stumm. Der Arzt fuhr fort: „Dr. Umlauf hatte sie zu uns überwiesen wegen unklarer Bauchbeschwerden, Übelkeit, Durchfällen und Gewichtsabnahme. Richtig?“ Er sah sie wartend an. Außer einem stummen Nicken brachte Tilda nichts zustande. Sie öffnete und schloss ihren Mund wieder, ohne einen Ton gesagt zu haben. Der Arzt sah sie unbeteiligt an, obwohl seine Stimme ein wenig weicher zu klingen schien. „Haben sie Fragen zu ihrem Befund?“ Er wartete einen Moment lang. Als Tilda nichts sagte und nur hilflos den Kopf schüttelte, fuhr er fort: „Wir werden ihren Fall auf der nächsten Tumorkonferenz am kommenden Montag mit auf die Tagesordnung setzen. Eine Operation kommt in ihrem Falle nicht mehr in Frage. Wir werden voraussichtlich eine palliative Chemotherapie mit Gemcitabin machen, gegebenenfalls auch eine Radiotherapie. Das heißt Bestrahlung. Mehr können wir bei diesem Befund nicht mehr für sie tun. Ist das in Ihrem Sinne, Frau Johannsen?“ Er sah sie groß an und erwartete offensichtlich eine Antwort. „Ja.“ Presste Tilda leise hervor. Ihre Stimme klang fremd. Sie wollte noch etwas hinzufügen, ließ es dann aber. Erst jetzt realisierte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte. Dr. Schnitzer machte einige Notizen in die Akte und erklärte Tilda noch irgendetwas über die nun angedachte Chemotherapie. Durch ihre innerliche Panik verstand sie kaum ein Wort von dem, was er sagte. Mit dem Satz: „Sonst noch Fragen?“ beendete er seinen Monolog. Tilda


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