Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg

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Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman - Patricia Vandenberg


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um sie herum. Endlich konnte sie sich wieder erinnern. Sie schlug die Bettdecke zurück und setzte sich vorsichtig auf. Als ihre nackten Füße den kalten Boden berührten, zuckte sie erschrocken zurück, stand dann aber entschlossen auf. Zufrieden stellte sie fest, daß die Wirkung der Medikamente endlich nachgelassen hatte. Ohne Schwindelgefühl konnte sie auf und ab gehen, und es strengte sie auch nicht zu sehr an. Nachdem sie sich angezogen hatte, öffnete sie leise die Schranktür und holte ihre kleine Reisetasche hervor, die Sarah ihr am Tag zuvor mitgebracht hatte. Schnell waren ihre persönlichen Dinge eingepackt. Während sie ihren Mantel zuknöpfte, sah sie sich noch einmal um, ob sie auch nichts vergessen hatte. Da fiel ihr der Brief ein, der immer noch in der Schublade des Nachttischs lag. Leise holte sie ihn hervor und legte ihn sorgfältig auf das Kopfkissen ihres Bettes. Dann nahm sie die Reisetasche in eine und ihre Handtasche in die andere Hand und öffnete behutsam die Zimmertür.

      Erleichtert stellte Nicola fest, daß das Schwesternzimmer am anderen Ende des schwach beleuchteten Ganges lag. Sie konnte leise Stimmen hören, es war jedoch niemand zu sehen.

      Schnell huschte sie um eine Ecke und befand sich kurz darauf vor einem Aufzug. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie sich in die Parkgarage fahren ließ. Ihre Flucht aus der Klinik schien geglückt zu sein. Auch in der Parkgarage traf sie keine Menschenseele. Es schien, als würde alle Welt schlafen.

      Endlich trat sie hinaus in die kühle Nachtluft und erschauerte. Sie blieb einen Moment stehen und hielt ihr erhitztes Gesicht in den Nachtwind. Dann sah sie sich suchend um und entdeckte nicht weit entfernt einen Taxistand. Der freundliche Taxifahrer brachte Nicola wie vereinbart zum Hauptbahnhof. Er wunderte sich kurz über den schweigsamen Fahrgast, denn es kam nicht oft vor, daß eine Frau mit Reisegepäck mitten in der Nacht ein Taxi suchte. Doch ungewöhnliche Dinge passierten zu häufig in seinem Berufsalltag, so daß er nicht lange darüber nachdachte.

      Am Bahnhof angelangt, holte Nicola zuerst einmal einen Kofferkuli, auf dem sie ihre Reisetasche abstellte. Dann kaufte sie sich an einem Stand eine Tasse starken Kaffee und ein Sandwich. Ihre letzte Mahlzeit lag Stunden zurück, und endlich verspürte sie wieder Hunger. Es schien ein gutes Zeichen zu sein. Während ihres kleinen Imbisses genoß Nicola die Stimmung auf dem Bahnhof, auf dem es kaum Unterschiede zwischen Tag und Nacht zu geben schien. Menschen mit Rucksäcken auf den Schultern gingen an ihr vorüber und suchten das richtige Gleis, während andere sich an den zahlreichen Ständen mit Reiselektüre versorgten.

      Trotz der späten Stunde wurde überall gelacht und gesprochen und vielen Menschen sah man die Freude über die bevorstehende Reise an. Schon immer hatte Nicola die eigenartige Stimmung auf großen Bahnhöfen geliebt, und sie hätte noch Stunden dem bunten Treiben zusehen können. Doch schließlich raffte sie sich seufzend auf und ging, den Kofferkuli schiebend, auf eine der großen Anzeigetafeln zu, die über die Ankunft und Abfahrt der Züge informierten. Genau studierte sie die Zielbahnhöfe und versuchte sich an einen der Orte zu erinnern. Sie war ein paar Mal mit ihrem Mann in Europa gewesen und hatte dort schöne Reisen gemacht, aber sie konnte sich schlecht an die Namen der Städte erinnern, die sie besucht hatte. Plötzlich fiel ihr Blick auf den Zug München-Verona und mit einem Mal wußte Nicola, wohin sie fahren würde. Bilder stiegen vor ihrem geistigen Auge auf, und sie meinte, die wunderbaren Klänge der Oper Aida zu hören, die sie mit David vor vielen Jahren besucht hatte. Von dort aus waren sie weitergefahren in ein hübsches, kleines Hotel am Gardasee, in dem sie ein paar glückliche Tage miteinander verbracht hatten. Damit stand Nicolas Entschluß fest. Sie wollte jenes wunderschöne Hotel wiederfinden und all die schrecklichen Dinge vergessen, die sie in den letzten Tagen erfahren mußte. Nicht einen Gedanken verschwendete sie an Sarah, und sie dachte auch nicht an Martin Sassen, als sie ein Ticket löste und auf die Abfahrt des Zuges wartete. Ihr einziger Wunsch war zu vergessen, und sie war bereit, alles dafür zu tun.

      *

      Es war erst kurz nach sieben Uhr, als das Klingeln des Telefons Daniel aus seinem wohlverdienten Schlaf riß. Er warf einen Blick auf die Uhr, um dann tief zu seufzen. Anscheinend war es ihm nicht vergönnt, wenigstens einmal am Samstagmorgen auszuschlafen. Er vergewisserte sich, daß Fee weiterschlief und schloß dann leise die Schlafzimmertür.

      »Hallo Daniel. Entschuldige die frühe Störung. Hier spricht Jenny«, tönte die aufgeregte Stimme seiner Kollegin und Freundin an sein Ohr.«

      »Jenny, was ist passiert?« fragte er überrascht und war mit einem Schlag hellwach.

      »Stell dir vor, Nicola Brandon ist heute nacht verschwunden.«

      »Was soll das heißen?«

      »Sie hat ihre Sachen gepackt und ist gegangen.«

      »Hat sie eine Nachricht hinterlassen?«

      »Auf ihrem Bett lag ein Brief an ihre Tochter Sarah. Ich habe ihn natürlich nicht gelesen, aber ich weiß nicht, wo ich Sarah finden kann.«

      »Das kann ich dir auch nicht sagen.«

      »Was soll ich denn jetzt tun?« Jennys Stimme klang verzweifelt.

      Daniel strich sich mit der Hand über die Augen und dachte einen Augenblick nach. »Martin Sassen weiß, in welchem Hotel die beiden abgestiegen sind. Ich werde ihn sofort anrufen«, sagte er.

      »Das ist lieb von dir. Sagst du mir dann Bescheid?«

      »Du hörst entweder von mir oder gleich von Martin.« Damit beendete er das Telefonat.

      Inzwischen war auch Fee wach geworden und kam verschlafen die Treppe herunter. »Was ist denn passiert?«

      »Eine Patientin, die vor ein paar Tagen einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, hat die Klinik heute nacht verlassen.«

      »Das ist ja unerhört«, empörte sich Fee.

      »Ich glaube, die Ärmste ist vollkommen überfordert. Wahrscheinlich wußte sie keinen Ausweg, wie sie sonst mit ihren Problemen fertig werden sollte.« Kurz schilderte er Fee, was er über Nicola Brandon wußte.

      »Das ist eine tragische Geschichte. Aber selbst kleine Kinder wissen, daß Weglaufen sinnlos ist.«

      »Es gibt eben bestimmte Lebenssituationen, in denen man völlig irrational handelt. Ich muß Martin jetzt anrufen. Er weiß, wo sich die Tochter von Nicola Brandon aufhält. Das wird ein schöner Schreck für sie sein.«

      In der Tat war Sarah fassungslos, als sie von Dr. Sassen über das Verschwinden ihrer Mutter informiert wurde.

      »Das sieht ihr gar nicht ähnlich, daß sie wegläuft. Hoffentlich ist nichts anderes passiert!« sagte sie außer sich vor Sorge.

      »Frau Dr. Behnisch hat gesagt, Ihre Mutter hätte einen Brief für Sie hinterlassen. Am besten fahren Sie gleich in die Klinik, damit wir Gewißheit haben.«

      Wie erstarrt ließ Sarah den Hörer sinken. Doch ihre Verzweiflung dauerte nicht lange. Sie war ein junger, unverbrauchter Mensch. Zwar hatte sie der Tod ihres Vaters sehr mitgenommen, und auch die Eröffnung des Anwalts war nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Doch sie ließ sich nicht so leicht entmutigen. Schnell siegte ihr gesunder Menschenverstand, und sie stand auf, um sich anzuziehen und in die Klink zu fahren.

      Mit zitternden Händen nahm Sarah dann den Brief entgegen, den Jenny Behnisch ihr reichte. Sie faltete ihn auseinander und las atemlos die Zeilen, die ihre Mutter in ihrer schwungvollen Handschrift geschrieben hatte.

      Meine liebste Sarah. Du hast eben erfahren, daß ich die Klinik verlassen habe. Ich bin in der Nacht gegangen, weil ich nicht wollte, daß mich jemand aufhält. Wenn alles so läuft, wie ich es geplant habe, bin ich auf dem Weg nach Süden, um alles hinter mir zu lassen. Bitte sei nicht böse mit mir, aber ich fühle mich im Moment nicht imstande, das alles auch nur einen Moment länger zu ertragen. Du hast recht, wenn Du nun sagst, daß Weglaufen feige ist. Es ist auch sicher keine Lösung. Aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Mach Dir bitte keine Sorgen um mich, ich liebe Dich und werde mich bald melden. Deine Mum.

      Fassungslos starrte Sarah auf den Brief, bis die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. »Sie ist tatsächlich davongelaufen«, stellte sie dann ungläubig fest.

      Jenny, die Sarah die ganze


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