Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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zwei Regentage darunter, und es gab ein paar Stunden, in denen sich, während sie mit den Bauersleuten in der muffigen Stube saß, ein Gefühl der Langeweile und Ödigkeit ihrer zu bemächtigen anfing. Als ihr das deutlicher bewußt wurde, eilte sie, wie von einem inneren Vorwurf getrieben, zu ihrem Kinde hin, das ruhig schlafend in der Wiege lag. In der trüben Beleuchtung dieses Regentages erschien ihr das kleine rundliche Antlitz seltsam blaß, schmal und fremd. Erschrocken beinahe hauchte sie auf die Lider des Kindes, das nun den Mund verzog wie zum Weinen und dann, da es das bekannte Gesicht der Mutter über sich gebeugt sah, zu 151 lächeln anfing. Therese, neu beseligt, nahm das Kind in die Arme, herzte und liebkoste es und weinte vor Glück. Die Bäuerin, anscheinend gerührt, prophezeite ihr allerlei Gutes und ganz besonders einen braven Vater für das Kind. Aber Therese schüttelte den Kopf. Sie habe nicht die geringste Lust, erklärte sie, ihr geliebtes Kleines mit irgend jemandem zu teilen. Es gehörte ihr – und sollte weiter ihr ganz allein gehören.

      Nach diesen drei Tagen war die Trennung dreifach schwer. Und als Therese auf dem Semmering ankam, wo Frau Regan mit den Kindern Sommeraufenthalt genommen hatte, konnte der bekümmerte Ausdruck ihrer Mienen der Mutter ihrer Zöglinge nicht verborgen bleiben. In ihrer milden freundlichen Art, ohne irgendeine Frage zu stellen, sprach Frau Regan die Hoffnung aus, daß Therese in der frischen Bergluft sich bald wieder wohl fühlen würde. Unwillkürlich küßte ihr Therese wie gerührt die Hand, nahm sich aber gleich vor, nichts von ihrem Geheimnis zu verraten. In der Tat erholte sie sich rascher, als sie gedacht, gewann Farbe und Laune wieder, Spaziergänge, auch größere Ausflüge wurden unternommen, und der sommerlich leichte Verkehrston brachte es mit sich, daß Therese gelegentlich jüngere und ältere Herren kennenlernte, die ihr Wohlgefallen und ihre Wünsche zu verbergen sich keine Mühe nahmen. Doch Therese blieb jedem Annäherungsversuch gegenüber gleichgültig, und als man schon in den ersten Septembertagen wieder in die Stadt zog, bedauerte sie das nicht im mindesten und war nur froh, daß sie nun wieder ihrem Kind näher sein durfte.

      Die wenigen Stunden, die sie alle acht bis vierzehn Tage draußen in Enzbach verbrachte, bedeuteten ihr 152 immer von neuem das reinste Glück. Und jenes Gefühl der Ödigkeit und Leere, das einmal an einem sommerlichen Regentage sie draußen überkommen hatte, stellte sich auch in den trübsten Herbststunden nicht wieder ein. Vor den winterlichen Fahrten hatte sie sich ein wenig gefürchtet, doch in dieser Hinsicht erfuhr sie die angenehmste Enttäuschung. Nichts Köstlicheres als wenn das Gehöft rings im Schnee lag und sie aus dem wohlgeheizten Zimmer, ihr Kind im Arm, durch die angelaufenen Fensterscheiben auf die weißverdämmernde Landschaft mit ihren schlafenden Landhäusern und auf den kleinen Bahnhof hinuntersah, von dem aus die dunklen Linien der Geleise in die durchfrostete Ferne hinausliefen. Später kamen wundervolle Sonnentage, an denen sie, den Nebeln der Stadt entflohen, draußen nicht nur Helligkeit und Weite, sondern auch frühlingshafte Wärme fand und sich auf der Bank vor dem Hause mit ihrem Buben in Sonnenglanz baden konnte.

      Als das Frühjahr wiederkam, glaubte sie einen tiefen Zusammenhang zwischen der Entwicklung ihres Kindes und dem Erblühen der Natur zu verspüren. Für sie war der Tag der ersten Kirschblüten zugleich derjenige, an dem ihr der Bub von der Haustüre aus ein paar Schritte ohne alle Hilfe entgegenlief; der Tag, an dem im Garten der weißen Villa »Gute Rast« in der Bahnhofstraße die Rosenstöcke von der Strohumhüllung befreit wurden, der gleiche, an dem Franz den zweiten Schneidezahn bekam; und als an einem der letzten Apriltage – denn es war diesmal ein langer Winter gewesen – die Landschaft mit ihren Gärten, Wäldern, Hügeln sie in sprossendem Grün empfing, war es derselbe Tag, an 153 dem ihr Bub am offenen Fenster, von der Bäuerin festgehalten, in die Händchen klatschte, da er die Mutter, mit kleinen Päckchen in der Hand – denn immer hatte sie etwas mitzubringen – über die Wiese herankommen sah. Und an dem Junitag, da sie draußen die ersten Kirschen pflückte, hatte der Bub zum erstenmal ein paar zusammenhängende Worte gesprochen.

       Inhaltsverzeichnis

      Drei Jahre folgten, so gleichmäßig in ihrem Verlauf, daß sie später in Theresens Erinnerung immer ein Frühjahr ins andere, Sommer in Sommer, Herbst in Herbst, Winter in Winter gleichsam zusammenflossen; – trotzdem sie oder weil sie eine Art von Doppelleben führte: das eine als Erzieherin in der Familie Regan, das andere als die Mutter eines kleinen Jungen, der draußen auf dem Lande bei Bauersleuten in Pflege war.

      Wenn sie in Enzbach den Tag verbrachte, ja schon auf der Fahrt hinaus, versank alles, was sie in der Stadt zurückließ, das Ehepaar Regan und die Kinder, versank für sie das Haus, das Zimmer, das sie bewohnte, die ganze Stadt in einen grauen Dunst von Unvorstellbarkeit, aus dem alles, wenn sie aus dem Zuge stieg, und oft erst, wenn sie die Wohnung betrat, wieder zur Wirklichkeit emportauchte.

      Wenn sie aber mit der Familie Regan bei Tische saß, mit den Kindern lernte oder spazieren ging oder abends nach erfüllter Berufspflicht ermüdet sich ins Bett strecken durfte, dann erschien ihr wieder die Enzbacher Landschaft, in Sommerglanz oder in Winterstarre – das Gehöft auf dem Hügel in Grün oder in Weiß 154 gebettet – der Ahornbaum mit dem umkränzten Marienbild – das Bauernpaar auf der Bank vor dem Haus oder in dem niederen Wohnraum am Ofen –, wie eine unwahrscheinliche, gleichsam märchenhafte Welt; und immer war es ein Wunder, wenn sie den mählich ansteigenden Weg zum Leutnerhof emporschritt und alles da war, wie sie es vor Tagen oder Wochen verlassen, und sie ihren Buben, immer denselben und doch von einemmal zum andern ein neues Geschöpf, in ihren Armen, auf ihrem Schoße halten durfte; und manchmal geschah es, wenn sie für eine Weile die Augen geschlossen hatte und sie dann wieder auftat, daß ein anderes Kind in ihren Armen lag, als sie es sich mit geschlossenen Augen vorgestellt hatte.

      Nicht immer war ihr draußen so wohl, als ihre Sehnsucht es ihr vorgespiegelt hatte. Herr Leutner hatte zuweilen seine bösen Tage, auch die Bäuerin, meist wohlgelaunt und allzu schwatzhaft, war manchmal wie ausgewechselt, unfreundlich, feindselig geradezu, und wenn Therese sich nur im geringsten unzufrieden zeigte, widersprach sie heftig, schalt über die Plage, die sie mit dem Buben habe und die man ihr nicht genügend danke und lohne. Auch nach wiederholter Erhöhung des Kostgeldes gab es Mißstimmungen aller Art. Einmal hatte man verabsäumt, Therese von einer allerdings leichten Erkrankung des Kindes zu verständigen, dann wieder wurden Ausgaben für Arzneimittel angerechnet, die offenbar nicht ganz stimmen konnten, und immer wieder glaubte Therese an dem oder jenem Anzeichen zu merken, daß Frau Leutner sich keineswegs so sehr um den Buben kümmerte, wie es ihre Pflicht war. Andere Male wieder gab es Eifersüchteleien nicht nur zwischen 155 Therese und der Bäuerin, sondern auch zwischen Therese und der kleinen Agnes; und dann beklagte sich Therese geradezu, daß Frau Leutner und ihre Tochter das Kind so verzärtelten, als wenn sie es ihr abspenstig machen wollten. Auch gelegentliches schlechtes Wetter war nicht angetan, die Laune und das Einvernehmen zu fördern. Es war zu ärgerlich, wenn man mit nassen Füßen in dem kalten oder überheizten Raume sitzen mußte und es nach schlechtem Tabak roch, der in die Augen biß und gewiß auch dem Kind schadete. – Nicht ganz selten ertappte sich Therese auf dem Wunsch, nicht nach Enzbach hinausfahren zu müssen, und sie ließ einen und den andern freien Sonntag hingehen, ohne ihr Kind zu sehen. Andere Male wieder glaubte sie es vor Sehnsucht gar nicht aushalten zu können, und in ihrer Sehnsucht war so viel Angst, daß sie die Nächte in bösen Träumen hinbrachte.

      Im ganzen aber war es doch eine schöne Zeit. Und oftmals dachte Therese, daß sie eigentlich besser dran sei als manche Mutter, die ihr Kind immer bei sich haben durfte und dieses Glück nicht zu würdigen verstand, während für sie, Therese, ein solches Zusammensein, wenigstens in der Vorfreude, stets einen Festtag zu bedeuten hatte.

      Im Hause Regan fühlte sie sich auch weiterhin recht zufrieden. Der Doktor, in seiner Tüchtigkeit von Selbstgefälligkeit nicht ganz frei, blieb immer liebenswürdig, trotz angestrengtester Berufstätigkeit, Frau Regan erwies sich auch weiterhin zwar als sehr genaue, aber doch nie launenhafte und stets gerechte Hausfrau, die Mädchen waren lebhaft, doch fleißig und gehorsam und ihrer Erzieherin sehr zugetan, der Knabe war von 156 stillerer Art, sehr musikalisch, so daß er schon in seinem achten Jahr an musikalischen Familienabenden den Klavierpart in Haydn-und Mozartschen Quartetten durchzuführen imstande war; Therese spielte öfters vierhändig mit ihm und heimste


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