Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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wünsche. Es verstrichen einige Tage, ehe er sie zu sich beschied. Er war freundlich, aber etwas kühl, und sein prüfender Blick erregte in ihr das Bedürfnis, sich zu vergewissern, ob an ihrer Kleidung, ihrem Aussehen irgend etwas nicht in Ordnung sei. Während sie von dem Anlaß ihres Besuches sprach und in einer wenig gewandten, kaum recht zusammenhängenden Weise von ihren letzten Erfahrungen mit Franz erzählte, suchte sie immer zwangshaft im Wandspiegel gegenüber ihr Bild zu erspähen, was ihr anfangs nicht gelingen wollte. Als sie geendet, schwieg Alfred eine Weile und äußerte seine Ansicht, ja, er hielt eine Art von Vortrag über den Fall, aus dem Therese eigentlich nicht viel Neues erfuhr. Auch das Wort »moral insanity« hörte sie nicht zum erstenmal aus seinem Munde. Und er schloß damit, daß er ihr nun einmal nichts Besseres raten könne, als er es schon kürzlich getan: den Jungen aus dem Hause zu geben; womöglich danach zu trachten, daß er in eine andere Stadt übersiedle, ehe sich irgend etwas Nichtwiedergutzumachendes ereignet hätte.

      Therese, auf ihrem Sessel hin und her rückend, hatte indes ihr Gesicht im Wandspiegel erblickt und erschrak. Freilich, die Beleuchtung war nicht die beste; aber daß das Glas aus schön häßlich und aus jung alt machte, war keineswegs anzunehmen; und sie sah, glaubte es in diesem fremden, ungewohnten Spiegel unwidersprechlich zu entdecken, daß sie mit ihren vierunddreißig Jahren verblüht, ältlich, fahl aussah, wie eine 281 Frau von über vierzig. Nun, sie war allerdings gerade in den letzten Wochen erheblich abgemagert, überdies war sie unvorteilhaft gekleidet, der Hut besonders stand ihr übel zu Gesicht. Aber selbst all dies in Betracht gezogen, das Antlitz, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, bedeutete ihr eine traurige Überraschung. Als Alfred im Sprechen innehielt, ward ihr bewußt, daß sie ihm zuletzt kaum mehr zugehört hatte. Er trat nun vor sie hin, fühlte sich verpflichtet, einige mildernde Worte hinzuzufügen, ließ es als möglich gelten, daß bis zu einem gewissen Grad die Entwicklungsjahre an dem unerfreulichen Verhalten Franzens schuld sein mochten, und vor allem warnte er Therese vor Selbstvorwürfen, zu denen sie ja in hohem Maß zu neigen scheine und zu denen doch wahrhaftig kein Grund vorhanden sei. Dem widersprach sie heftig. Wie, sie hätte keinen Grund zu Selbstvorwürfen? Wer denn, wenn nicht sie? Sie war ja niemals eine wahre Mutter für Franz gewesen, immer nur für ein paar Tage oder Wochen, anfallsweise sozusagen, habe sie sich mütterlich gegen ihn betragen. Meistens sei sie doch nur mit ihren eigenen Angelegenheiten, mit ihrem Beruf, ihren Sorgen und – ja, warum sollte sie es leugnen – mit ihren Liebesgeschichten beschäftigt gewesen. Und wie oft habe sie den Buben als Last empfunden, ja, es sei nun einmal so, als Unglück geradezu, schon in früherer Zeit, lange bevor sie von seiner moral insanity etwas geahnt oder gar etwas gemerkt hatte. Schon zur Zeit, als er ein kleines, unschuldiges Kind gewesen sei, ja, schon ehe er auf die Welt gekommen, habe sie nichts von ihm wissen wollen. Und in der Nacht, da sie ihn geboren, habe 282 sie gehofft, gewünscht, daß er überhaupt nicht lebendig zur Welt komme.

      Sie hatte noch mehr, noch Wahreres sagen wollen, aber im letzten Augenblick hielt sie sich zurück, aus Angst, durch ein noch weitergehendes Geständnis sich dem Freund zu entfremden, sich ihm, und am Ende nicht ihm allein, gewissermaßen auszuliefern. Und sie schwieg. Alfred aber, wenn er auch tröstend, gütig beinahe die eine Hand auf ihre Schulter legte, – es konnte ihr nicht entgehen, daß er mit der andern die Uhr aus der Westentasche zog; und als Therese daraufhin sich mit einer gewissen Hast erhob, bemerkte er wie entschuldigend, daß er leider vor sechs auf der Klinik sein müsse. Therese aber solle keineswegs etwas veranlassen, ehe sie noch einmal mit ihm gesprochen. Und – es war wohl vorerst nicht seine Absicht gewesen, so weit zu gehen – er schlug ihr vor, nächstens mit Franz zu ihm in die Sprechstunde zu kommen oder besser noch, er selbst wolle dieser Tage, vielleicht Sonntags um die Mittagsstunde, sie besuchen, um bei dieser Gelegenheit wieder einmal mit Franz zu reden, und so zu einem klaren, persönlichen Eindruck zu gelangen.

      Therese verstand selbst nicht, daß dieses so natürliche Anerbieten des einstigen Geliebten, des Freundes, des Arztes auf sie wirkte, als hätte er ihr damit die Hand zur Rettung gereicht. Sie dankte ihm aus erfülltem Herzen.

       Inhaltsverzeichnis

      Der angekündigte Besuch Alfreds fand nicht statt, denn am nächsten Morgen war Franz aus der Wohnung der Mutter verschwunden, ohne auch nur ein Wort 283 der Erklärung zu hinterlassen. Theresens erste Regung war, die Polizei zu verständigen, aber sie unterließ es in der Besorgnis, daß die Behörde Grund haben möchte, Franzls Verschwinden als eine Art von Flucht aufzufassen, und gerade durch eine Anzeige vorzeitig auf eine Spur gelenkt werden könnte. Sie setzte sich in Verbindung mit Alfred, der zuerst ungehalten schien, daß sie ihn anrief, dann aber ihr zu verstehen gab, daß er diese neueste Wendung keineswegs schlimm finden könne, daß sie ganz gut daran tue, keinerlei Schritte zu unternehmen, und lieber den Dingen ihren Lauf lassen solle. Seine Gleichgültigkeit tat Theresen weh, ja, sie konnte sich kaum verhehlen, daß Alfreds Verhalten ihr weher tat als Franzens Flucht. Bald freilich kamen Stunden des Schmerzes, ja, der Verzweiflung; in schlaflosen Nächten fühlte sie eine ungeahnte Sehnsucht nach dem Verschwundenen, und sie dachte daran, eine Anzeige in die Zeitung einzurücken von der Art, wie sie sie schon manchmal gelesen hatte: »Kehre zurück, alles verziehen!« Wenn der Morgen kam, sah sie die Unsinnigkeit eines solchen Beginnens ein, sie tat nichts dergleichen, und nach wenigen Wochen merkte sie, daß sie zwar nicht froher, aber ruhiger dahinlebte als zur Zeit, da sie ihren Sohn noch bei sich gehabt hatte.

      In der Nachbarschaft erzählte sie, daß Franz eine Stellung in einem österreichischen Provinzstädtchen gefunden habe. Ob man es nun glaubte oder nicht – es kümmerte sich niemand besonders um die Familienverhältnisse des Fräuleins Fabiani.

      Ihre Berufstätigkeit, die sie geraume Zeit hindurch ohne innere Anteilnahme, mechanisch gleichsam, ausgeübt hatte, begann ihr wieder eine gewisse Befriedigung 284 zu gewähren. Sie erteilte nicht nur Einzelunterricht, sie kam auch in die Lage, aus einigen auf ungefähr gleicher Stufe stehenden jungen Mädchen Kurse zusammenzustellen.

      Im übrigen lebte sie wieder völlig eingezogen, weder Mutter noch Bruder und Schwägerin kümmerten sich um sie, und auch Alfred ließ nichts von sich hören. Sie ging so wenig wie möglich aus dem Hause und wußte es so einzurichten, daß sie nur selten mehr außerhalb ihrer vier Wände Unterricht zu erteilen hatte. Kaum jemals geschah es, daß sie an einer ihrer Schülerinnen ein persönliches Interesse nahm, das über die Dauer der Unterrichtsstunden hinausgegangen wäre, und manchmal erinnerte sie sich fast wehmütig früherer Zeiten, da sie als Erzieherin, freilich ihren Zöglingen schon durch gemeinsame Häuslichkeit näher, als es heute der Fall war, an manchen mit ihrem ganzen Herzen gehangen, ja, fast wie eine Mutter für sie empfunden hatte.

      Einmal aber, ein paar Monate nachdem Franz das Haus verlassen, ereignete es sich, daß eines der Mädchen, die den Kurs besuchten, ein paar Tage ausblieb und sie sich durch das Fehlen dieses kaum sechzehnjährigen Wesens stärker berührt fühlte, als es jemals bei solcher Gelegenheit der Fall gewesen war. Als ein Brief des Vaters das Ausbleiben der Tochter mit einer fieberhaften Halsentzündung entschuldigte, geriet Therese in eine ihr selbst kaum begreifliche Unruhe, die nicht weichen wollte; und als endlich nach kaum einer Woche Thilda wieder erschien, fühlte Therese, wie ihr eigenes Antlitz vor Freude sich rötete und ihre Augen zu leuchten begannen. Das wäre ihr selbst kaum zu 285 Bewußtsein gekommen, wenn nicht, wie zur Antwort darauf, um Thildas Lippen ein sonderbares, wohl liebenswürdiges, aber zugleich etwas überlegenes, ja spöttisches Lächeln gespielt hätte. In diesem Augenblick wußte Therese, daß sie die Kleine liebte und daß sie sie gewissermaßen unglücklich liebte. Sie wußte auch, daß diese Sechzehnjährige – und nicht nur dank den günstigeren äußeren Lebensumständen – zu einer anderen Art von Wesen gehörte als sie, zu den klugen, kühlen, in sich geschlossenen, denen niemals etwas ganz Ernstes und Schweres begegnen kann, weil sie sich selbst immer zu bewahren und von jedem anderen, der in ihre Nähe, unter ihren Einfluß, in ihren Zauberkreis gerät, so viel zu nehmen verstehen, als ihnen eben nötig oder auch nur ergötzlich scheint. Und dieser Augenblick, da Thilda nach achttägiger Abwesenheit, um ein paar Minuten verspätet wie gewöhnlich, mit einem anmutigen Gruß ins Zimmer getreten war, ihren Stuhl gleich an den Tisch zu den fünf anderen Teilnehmerinnen des Kurses heranrückte und mit einer fast


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