Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.durchfühlten und durchlitten. Therese selbst, mit ihren durch so viele Erfahrungen geschärften Augen, sah diesem Spiel der Leidenschaften zu, ohne selbst berührt zu sein, war kaum anders bewegt als eine Zuschauerin im Theater, und vor allem war sie sehr 269 froh, daß sie mit solchen Herzensdingen äußerlich und innerlich abgeschlossen hatte. Es schien wirklich alles recht harmlos abzulaufen; zum Schluß aber hatte es doch den Anschein, als wenn ein Opfer fallen sollte. Die Tochter des Hauses verübte einen Selbstmordversuch, und nun war es, als ob alle mit einemmal aus einem gefährlichen Traume jäh erwachten. Ohne daß es zu irgendwelchen peinlichen Auseinandersetzungen gekommen wäre, lösten sich alle diese Beziehungen, die nur im Spiel der Sommerlüfte sich geknüpft hatten, gleichsam in nichts auf; früher, als beabsichtigt gewesen war, verließ man die Villa, die ganze Familie reiste nach dem Süden, und Therese kam früher wieder nach Wien zurück, als sie gedacht.
Ihren Sohn hatte sie indes der Obhut einer Nachbarin empfohlen, einer Beamtenswitwe, einer gutmütigen, ziemlich einfältigen Person, selbst Mutter eines achtjährigen Buben. Wenn sie auch nichts geradezu Nachteiliges über Franzl aussagen wollte, sie konnte nicht verschweigen, daß sie ihn manchmal ganze Tage nicht zu Gesicht bekommen habe. Therese nahm ihn ins Gebet; er log in so törichter Weise, daß Therese auch das Wahrscheinliche nicht mehr zu glauben imstande war. Auf ihre Vorwürfe hin wurde er noch ausfälliger als sonst, doch waren es nicht so sehr seine Worte als Miene und Blick, die Therese im Tiefsten erschreckten. Hier war kein Zug eines Knaben-, eines Kindergesichtes, – ein frühreifer, verdorbener, bösartiger Bursche starrte ihr frech ins Gesicht. Als Therese endlich von der Schule zu sprechen begann, erklärte Franz höhnisch, er denke gar nicht daran, sie weiter zu besuchen, er habe andere, gescheitere Dinge vor, dann 270 äußerte er sich in den häßlichsten Worten über seine Lehrer, und ein besonders unflätiger Ausdruck verletzte Therese so sehr, daß sie sich nicht zurückhalten konnte, Franz ins Gesicht zu schlagen. Dieser, das Antlitz verzerrt, erhob den Arm, es gelang Therese nicht mehr, den Schlag abzuwehren, und so fuhr Franzls geballte Faust über Theresens Lippen nieder, die zu bluten begannen. Ohne sich weiter um sie zu kümmern, rannte er davon und schlug die Türe hinter sich zu. Fassungslos, verzweifelt blieb Therese zurück, aber sie hatte keine Tränen mehr.
Noch am gleichen Abend, nach langer Zeit wieder, schrieb sie an Alfred. Die Antwort traf schon am übernächsten Tage ein, Alfred gab Theresen den Rat, den Buben irgendwohin in die Provinz zu schicken, als Lehrling, als Kommis, als was immer, – ihre Verpflichtungen habe sie reichlich erfüllt, sie solle sich keinerlei Skrupel machen, das Wichtigste sei, daß sie endlich von Angst und Sorge befreit werde. Angst? fragte sie sich; das Wort befremdete sie zuerst, doch gleich fühlte sie, daß es das richtige war. In einem neuen Absatz teilte Alfred ihr mit, daß er sich mit der Tochter eines Tübinger Universitätsprofessors verlobt habe, zwischen Weihnachten und Neujahr vermutlich werde er mit seiner jungen Gattin nach Wien zurückkehren. Niemals aber werde er vergessen, was sie, Therese, für ihn bedeutet habe, was er ihr schuldig sei, und sie könne in jeder Lebenslage auf ihn als auf ihren besten Freund zählen. Ein bitterer Geschmack trat auf ihre zuckenden Lippen, aber auch jetzt weinte sie nicht.
Für den nächsten Sonntag war sie zu ihrem Bruder zum Mittagessen eingeladen. Da sie nicht fürchten 271 mußte, den abgewiesenen Freier dort zu finden, nahm sie an. Karl empfing sie mit auffallender Freundlichkeit, und sie merkte bald, daß er ihre Absage an den Professor durchaus guthieß: dieser habe sich als ein sehr unzuverlässiger Mensch erwiesen, aus opportunistischen Gründen war er aus dem deutschnationalen Lager ins christlich-soziale übergegangen und kandidierte mit vieler Aussicht auf Erfolg für den Gemeinderat. Dann kam Karl auf die Mutter zu reden, die ihm, wie er behauptete, ernstliche Sorgen verursache. Was tat die alte Frau, so frage er sich, mit ihrem Geld; und was wollte sie weiter damit tun? Es war leicht zu berechnen, daß sie sich schon eine hübsche Summe erspart haben mußte. Die Kinder hatten zweifellos die Pflicht, insbesondere er, Karl, als Familienvater, sich darum zu kümmern. Ob Therese, die es als unversorgte Tochter doch am ehesten dürfe, das heikle Thema nicht einmal mit der Mutter zur Sprache bringen und bei dieser Gelegenheit andeuten wolle, daß er, Karl, gerne geneigt sei, die alte Frau zu sich ins Haus zu nehmen, wo sie doch gewiß billiger draus käme als in einer Pension. Obwohl die Art, wie Karl diese Frage behandelte, Theresen höchst widerwärtig war, sagte sie zu, mit der Mutter in gewünschtem Sinne zu reden, dachte aber vorläufig nicht daran, ihr Versprechen einzulösen.
Eines Abends begegnete ihr in der inneren Stadt Agnes. Therese erkannte sie nicht gleich. Sie sah auffallend, fast verdächtig aus, und Therese war es unbehaglich, mit ihr auf der Straße stehen zu bleiben. Agnes erzählte, daß sie seit einiger Zeit nicht mehr »im Dienst«, sondern Verkäuferin in einem Parfümeriegeschäft sei. Therese erkundigte sich nach den alten 272 Leutners, Agnes erwiderte, daß sie nur selten nach Enzbach käme, übrigens sei der Vater im vergangenen Sommer gestorben. Dann trug sie ihr einen Gruß für den Franzl auf und verabschiedete sich.
Und wenige Tage darauf, unaufgefordert, fand sie sich bei Theresen ein. Franz, mit dem Therese kein Wort mehr gesprochen, seit er die Hand gegen sie erhoben, und der sich nur mehr, und immer verspätet, zu den Mahlzeiten einfand, war sonderbarerweise zu Hause, begrüßte Agnes nicht ohne einige Verlegenheit, die sich aber ihrer Ungezwungenheit gegenüber rasch verlor; und bald, Theresens Anwesenheit kaum beachtend, plauderten sie in einer Art kameradschaftlichen Straßenjargons miteinander, dem Therese kaum zu folgen vermochte. Sie tauschten Enzbacher Erinnerungen aus, mit versteckten Anspielungen, von denen sie mit einigem Recht annehmen durften, daß sie für Therese unverständlich blieben. Manchmal aber, mit ihrem frechen, schiefen Blick, grinste Agnes zu Therese hinüber, und es stand deutlich darin zu lesen: Du glaubst, er gehört dir? Mir gehört er.
Endlich schüttelte sie Theresen derb-freundschaftlich die Hand, ging, und Franz, ohne ein Wort an die Mutter, schloß sich ihr an. Wie er nur aussah in seinem billigen, gar nicht mehr knabenhaft zugeschnittenen Anzug mit den großkarierten Beinkleidern, dem zu kurzen Rock, dem rot umränderten Taschentuch, wie bleich und wie verworfen und dabei nicht unhübsch das Gesicht! Ein Bub? nein, das war er wahrhaftig nicht mehr. Wie sechzehn, siebzehn Jahre sah er aus. Ein junger Mann –? das Wort paßte nicht recht für ihn. Ein anderes drängte sich ihr in den Sinn, von dem sie 273 gleichsam wieder weghörte. Ihre Brust hob und senkte sich schwer von ungeweinten Tränen.
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Wenige Tage später erkrankte Franz unter schweren Allgemeinerscheinungen. Der Arzt stellte Gehirnhautentzündung fest, und beim dritten Besuch schien er den Kranken aufgeben zu wollen. Therese sandte mit einem flehentlichen Brief nach ihrem Bruder. Dieser kam, schüttelte bedenklich den Kopf und verordnete innere und äußere Mittel, die tatsächlich die Gewalt der Krankheit schon nach wenigen Stunden zu brechen schienen. Er kam an den folgenden Tagen wieder, und bald war Franz außer Gefahr. Karl verbat sich jeden Dank. Und nun war es für Therese überraschend und wunderbar, wie Franz sich in dieser Zeit allmählichen Gesundwerdens zu verändern schien. Wenn Therese an seinem Bette saß, hielt er gern ihre Hand in der seinen, sie empfand den Druck seiner Finger wie eine Bitte um Verzeihung und wie ein Versprechen. Zuweilen las sie ihm vor. Mit dankbaren, ja, kindlichen Blicken hörte er zu. Es schien ihr, als wenn er für mancherlei Gegenstände, insbesondere für Geschichten aus dem Tierleben, für Reisen und Entdeckungen, ein gewisses Interesse erkennen ließe, und sie nahm sich vor, sobald als möglich ernsthaft mit ihm über die Zukunft zu reden. Sie träumte sogar davon, daß er das Studium fortsetzen, daß er vielleicht Lehrer oder gar Doktor werden könnte. Aber noch getraute sie sich nicht, ihm von solchen Plänen mehr zu sagen.
274 Doch die Täuschung dauerte nicht lang, und sie wußte bald, daß sie sich Franzens Wandlung im Grunde nur hatte einbilden wollen. Je entschiedener Franz sich erholte, um so rascher wandelte er sich wieder in den, der er früher gewesen war. Der kindlich-dankbare Blick seiner Augen verschwand, seine Sprache nahm den Tonfall, seine Stimme den Klang wieder an, wie ihn Therese aus der Zeit vor seiner Krankheit allzu gut kannte. Anfangs tat er sich noch einigen Zwang an; er gab der Mutter immerhin noch Antworten, doch wurden sie immer ungeduldiger, unwirscher und roher. Kaum durfte er das Bett verlassen, so war er auch nicht mehr im Hause zu halten. Und bald kam eine Nacht, und es blieb nicht