Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.zu dieser Stunde hatte davonmachen wollen, zu Hause zu halten. Der Professor erschien nicht ohne Befangenheit, die er unter einem aufgeräumten, sozusagen weltmännischen Gebaren nur mit Mühe zu verbergen imstande war. Franz betrachtete den Besucher mit unverhohlenem Mißtrauen. Und als dieser nun plötzlich den überraschenden Wunsch äußerte, in die Schulhefte Franzls Einsicht zu nehmen, kostete es einige Mühe, den Widerstand des Knaben zu überwinden. Was sich endlich den Augen des Professors Wilnus darbot, war nicht eben erfreulich. Doch er begnügte sich, sein Mißfallen in nachsichtig-humoristischer Weise auszudrücken. Dann versuchte er sich durch Fragen aller Art über die Kenntnisse und den Bildungsgrad des Knaben Klarheit zu schaffen, half ihm immer wieder bei den Antworten nach, legte sie ihm geradezu in den Mund, benahm sich überhaupt wie ein Lehrer, der sich alle Mühe gibt, einen schlechten Schüler aus irgendeinem Grund bei der Prüfung doch nicht durchfallen zu lassen. Am meisten hatte er an der Aussprache Franzls zu bemängeln, die er als ein fatales Gemisch von bäuerlichem und vorstädtischem Dialekt bezeichnete. Während er mit beiläufigem Hinweis auf die Verbindungen, über die er verfüge, die Möglichkeit andeutete, den Knaben in der Schule eines oberösterreichischen Stiftes unterzubringen, war Franz unversehens aus dem Zimmer verschwunden, und die Mutter wußte, daß er nicht so bald wiederkommen würde. Sie 264 entschuldigte ihn bei dem Professor: an schönen Abenden pflege er mit Schulkameraden ein wenig in die freie Luft zu gehen. Der Professor schien eher erfreut, mit Therese allein zu sein. Von dem Stift wollte sie nichts wissen, und auf eine neue, vorsichtig geäußerte Anregung des Professors, Adoptiveltern für das Kind zu suchen, wiederholte Therese mit Entschiedenheit, daß sie sich von ihrem Sohn unter keinen Umständen trennen werde. Der Professor zeigte sich nachgiebig, seine Augen begannen zu flackern, er rückte Theresen näher, versuchte kühner zu werden und erschien ihr mit jedem Augenblick nur lächerlicher und widerwärtiger. Sie überlegte eben, ob sie ihm nicht ein für allemal die Türe weisen sollte, da klopfte es, und zu Theresens Befremden trat Sylvie ein, die sich schon viele Wochen nicht hatte blicken lassen. Eine flüchtige Vorstellung erfolgte, der Professor sprach die Hoffnung aus, Theresen am nächsten Sonntag bei ihrem Bruder zu begegnen, und ging.
Sylvie war blaß und erregt. Hastig fragte sie Therese, ob sie heute noch keine Zeitung gelesen habe. »Was ist geschehen?« fragte Therese. – »Richard hat sich umgebracht«, erwiderte Sylvie. – »Um Gottes Willen«, rief Therese aus, und hilflos legte sie ihre Hände auf Sylviens Schultern. Sie habe Richard schon lange nicht mehr gesehen. Und Sylvie, mit gesenktem Blick, gestand, daß sie um so öfter mit ihm zusammengewesen war. Therese verspürte keinerlei Eifersucht, aber auch keinen wirklichen Schmerz. Sie war mit einemmal die Überlegene; sie war es, die die Freundin zu trösten hatte. Sie strich ihr über die Haare, streichelte ihr die Wangen, niemals noch hatte sie sich ihr so schwesterlich 265 nahe gefühlt. Und Sylvie erzählte. Heute in den Morgenstunden war es geschehen. Die Nacht hatte er mit ihr verbracht. Gerade diesmal war er besonders wohlgelaunt gewesen, im Fiaker hatte er sie bis zum Tor ihres Hauses begleitet, ihr aus dem Wagen zugewinkt, dann war er in den Prater gefahren, und im Wagen hatte er sich erschossen. Sie hatte es schon lange kommen sehen. – »Schulden?« fragte Therese. – Nein. Gerade in der letzten Zeit habe er bei den Rennen immer gewonnen. Aber das Leben war ihm zuwider. Die Menschen vielmehr. Alle beinahe. »Sie, Therese, hat er sehr gern gehabt«, sagte Sylvie. »Viel, viel lieber als mich. Wissen Sie, warum er Sie nicht mehr sehen wollte?« – Therese faßte erregt nach Sylviens Hand und schaute ihr fragend ins Auge. »Die ist zu gut für mich. Das waren seine Worte. Trop bonne.« Und beide weinten.
Zwei Tage darauf, zur Einsegnung, waren sie beide in der Kirche. Nach Schluß der Zeremonie bewegte sich der Zug der Trauernden an Therese vorüber, die weit rückwärts am Ende einer Bank saß. Richards Mutter, eine hagere, blasse Frau, in deren verschlossenen, hochmütigen Zügen Therese etwas von Richards Ausdruck wiederzufinden glaubte, streifte so nahe an ihr vorbei, daß sie unwillkürlich fortrückte. Im gleichen Augenblick, es war ihr peinlich, ergriff Sylvie heftig ihren Arm. Die Trauergäste kamen vorüber; auch bekannte Gesichter sah Therese unter ihnen, darunter den Bankdirektor, in dessen Hause sie zuletzt in Stellung gewesen war und der sie anstarrte, ohne sie im Dämmerlicht der Kirche zu erkennen, und einen jungen Menschen, der einmal ihr Geliebter gewesen war, den 266 Krauskopf. Mit dem Taschentuch, als wenn sie weinte, verbarg sie ihr Gesicht. Sie sah dem Sarg nach, während er durch das Kirchentor ins Freie hinausgetragen wurde, wo ein dunkelblaues Sommerlicht ihn empfing. Jener Abend in den Donauauen fiel ihr ein, der in wenigen Tagen sich zum zweitenmal jähren mußte. Zu gut für ihn? dachte sie. Warum eigentlich? Als ob sie überhaupt für jemanden zu gut oder zu schlecht wäre. Sie hörte, wie draußen der Leichenwagen sich in Bewegung setzte. Das Kirchentor schloß sich langsam, Duft von Weihrauch war um sie. Sylvie hatte den Kopf auf dem Betpult liegen und schluchzte leise. Therese erhob sich lautlos und ging allein. Ein lauer Sommertag nahm sie draußen auf. Sie mußte rasch nach Hause, um fünf Uhr erwartete sie Zöglinge zum Unterricht.
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Eine Zeitlang lebte sie vollkommen und ausschließlich ihrem Berufe, in dem sie sich nicht nur durch dessen fortgesetzte Ausübung, sondern auch durch Arbeit in freien Stunden weiter ausgebildet hatte und immer weiter ausbildete, so daß sie allmählich zu einer tüchtigen und gesuchten Lehrerin wurde. Es waren durchaus junge Mädchen, die sie unterrichtete und zu Prüfungen vorbereitete. Zwei Jünglinge, die sich gemeldet, hatte sie fortweisen müssen, da sie offenbar andere Zwecke im Auge hatten, als sich im Englischen und Französischen zu vervollkommnen. Einen Brief des Professor Wilnus mit der Bitte, sie wieder einmal besuchen zu dürfen, hatte sie mit einer endgültigen Absage beantwortet. Sie bereute es keinen Augenblick, 267 obwohl ihr manchmal war, als hätte sie ihm dankbar sein können, denn seit seinem Besuch war in Franzens Verhalten eine vorläufig noch andauernde Wandlung zum Bessern erfolgt, er schien regelmäßig zur Schule zu gehen, wie eine gelegentliche Erkundigung Theresens bestätigte, – wo und mit wem er die vielen Stunden außer Hause verbrachte, dem wagte sie freilich nicht nachzuforschen.
Von ihrem Bruder hörte sie nichts, und sie war überzeugt, daß er ihr die Absage an den Professor übelnahm. Auch die Mutter blieb ihr fern, und so wäre sie ganz allein gewesen, wenn nicht Sylvie manchmal des Abends sie besucht hätte. Richard verschwand merkwürdig schnell aus den Gesprächen, doch allerlei andere Erlebnisse aus frühen Tagen teilten sie einander mit, Therese mehr in Andeutungen, Sylvie in manchmal überlebhaften Schilderungen. Und wenn auch die Männer, denen die beiden Frauen im Lauf des Daseins begegnet waren, nicht eben gut wegzukommen pflegten, beide wärmten ihre müden Herzen an der Erinnerung vergangener Jugend. Sylvie hatte die Absicht, baldmöglichst in ihre Heimat nach Südfrankreich zurückzukehren, die sie fast zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte. Was sie dort tun, wie sie sich dort erhalten sollte, da sie doch nur wenig hatte ersparen können, wußte sie freilich nicht, aber ihre Sehnsucht nach Hause hatte einen fast krankhaften Charakter angenommen. Dem immer noch heiteren Geschöpf liefen die Tränen über die Wangen, wenn sie von ihrer Heimatstadt sprach; Therese merkte in solchen Momenten, wie welk, wie alt die Züge Sylvies geworden waren, und sie erschrak. Doch sie beruhigte sich 268 damit, daß sie selbst um sieben oder acht Jahre jünger war.
In dieser Epoche ihres Lebens bedeutete ihr wieder die Kirche eine oft besuchte, wohltuende Aufenthaltsstätte, und sie betete oder wünschte doch inbrünstig, daß sie sich weiter mit ihrem Lose bescheiden, daß ihr Franz nicht allzuviel Kummer bereiten, und insbesondere, daß niemals wieder Leidenschaft den ruhigen Lauf ihres Daseins stören und ihr innerstes Wesen trüben möge.
In diesem Sommer traf es sich, daß sie eine zehnjährige Schülerin, das jüngste Kind eines bekannten Schauspielers, zur Aufnahmeprüfung ins Lyzeum vorbereiten sollte und man sie zu diesem Zweck an einen Salzkammergutsee mitnahm. Ihre Tätigkeit beschränkte sich fast nur darauf, die Kleine täglich ein paar Stunden, meistens im Garten, zu unterrichten. Eine ältere, schon achtzehnjährige Tochter war in einen jungen Mann verliebt, der häufig zu Besuch kam. Ein Vetter machte der noch immer hübschen Hausfrau den Hof, der Gatte brachte seine Aufmerksamkeit einer kaum sechzehnjährigen Freundin der Tochter entgegen, einem höchst verdorbenen Geschöpf, ja, er stellte ihr recht eigentlich nach. Es war für Therese sonderbar,