Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.keineswegs, gab ihr für alle Fälle die Adresse seiner Eltern, bei denen er wohnte, und sie schrieb ihm schon am nächsten Tag. Es wurde ein seltsames Zusammensein, und sie begriff eigentlich nicht recht, warum er darauf bestanden hatte, sich mit ihr in ein separiertes Zimmer eines vornehmen Restaurants zurückzuziehen, da er sich völlig zurückhaltend benahm und kaum ihre Hand berührte. Aber er gefiel ihr nur um so besser. Er sprach heute viel von sich. Mit seiner Familie, erzählte er, stünde er nicht zum besten. Sein Vater, ein bekannter Advokat, war, wie übrigens gewöhnlich, höchst unzufrieden mit ihm »und eigentlich hat er ja recht« –, mit seiner Mutter hatte er sich niemals verstanden und nannte sie beiläufig eine dumme Gans, was Therese erschreckte. Demnächst sollte er seine dritte Staatsprüfung machen, und er frage sich wozu. Er würde ja doch nie Advokat oder Richter werden. Und auch sonst nichts Rechtes. Er habe nämlich zu nichts Talent, wie ihn im Grunde auf 258 der Welt auch nichts wirklich freue. Sie fand, daß solche Bemerkungen mit seinem sonstigen Wesen doch in Widerspruch stünden. Wenn einem die ganze Welt so gleichgültig war, wie konnte man zum Beispiel auf die Farbennuance einer Krawatte besonderen Wert legen, wie er es doch eingestandenermaßen tat? Er sah sie beinahe mitleidig an, was sie verletzte, und sie verspürte den brennenden Wunsch, ihn zu überzeugen, daß sie wohl imstande sei, auch solche scheinbaren Gegensätze zu begreifen. Aber sie fand die rechten Worte nicht. Nach dem Abendessen, sie waren kaum eine Stunde zusammen gewesen, brachte er sie im offenen Wagen bis zu ihrer Wohnung. Er küßte ihr sehr höflich die Hand, und sie glaubte nicht, daß sie ihn jemals wiedersehen würde.
Doch schon wenige Tage darauf erhielt sie einen Brief von ihm. Sein Wunsch, wieder mit ihr zusammenzukommen, freute sie mehr, als sie vorher erwartet hätte. Beglückt folgte sie seinem Ruf. Diesmal war er ein ganz anderer, heiter, ausgelassen beinahe, und es war ihr, als begänne er erst heute, sich um sie, ihr eigentliches menschliches Wesen und um ihre äußere Existenz zu kümmern. Sie mußte ihm viel von sich erzählen, von ihrer Jugend, ihren Eltern, ihrem Verführer, ihren anderen Liebhabern. Und in dieser Stunde sprach sie auch von ihrem Kind, von ihren Pflichten gegenüber diesem Kind und davon, daß sie diese oft vernachlässigt habe. Fast ärgerlich zuckte er die Achseln. Es gebe keine Pflichten, sagte er, man sei niemandem etwas schuldig, die Kinder nicht den Eltern und die Eltern den Kindern auch nicht. Alles nur Schwindel, alle Leute seien Egoisten, sie geständen es 259 sich nur nicht ein. Übrigens, das würde sie vielleicht interessieren: gestern hatte er eine für ihn nicht geringe Summe beim Rennen gewonnen. Das sah er als einen Wink des Schicksals an und hatte die Absicht, sein Glück weiter zu versuchen. Im nächsten Winter gedenke er nach Monte Carlo zu gehen, er habe sich auch schon ein System erdacht, um die Bank zu sprengen. Das sei überhaupt das einzig Erstrebenswerte auf der Welt: Geld haben, auf die Leute pfeifen können. Sie solle doch mit ihm kommen – nach Monte Carlo. Sie würde dort sicher ihren Weg machen, freilich nicht als Lehrerin. So sehr sie widersprach, ja, ihn zurechtwies, gerade von Äußerungen solcher Art strömte ein besonderer Reiz auf sie aus. Und an diesem Abend war sie sehr glücklich mit ihm.
Dieser Erinnerung gegenüber wirkte ein Brief, der am nächsten Morgen von Alfred an sie anlangte, unsäglich langweilig und öde auf sie. Sie hatte ihm von der wahrscheinlich bevorstehenden Werbung des Professors Mitteilung gemacht, und Alfred riet ihr zwar, die Sache sorgfältig zu überlegen, doch war deutlich aus seinen Worten herauszulesen, daß ihm eine Heirat Theresens, die ihn auch von der letzten Verantwortung befreit hätte, keineswegs unerwünscht war. Sie erwiderte ihm kühl, übellaunig, beinahe mit Hohn.
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Mit Franzl war sie weiterhin leidlich zufrieden. Wenn sie nach Hause kam, fand sie ihn meist über Büchern und Heften sitzen, von seiner früheren Ungebärdigkeit war wenig mehr zu merken; schlug er 260 gelegentlich einen etwas mürrischen Ton gegenüber der Mutter an, ließ er sich in seiner Ausdrucksweise, in seinem Betragen allzusehr gehen, so genügte meist eine Mahnung von ihrer Seite, ihn sein Unrecht einsehen zu lassen. Sie war daher aufs peinlichste erstaunt, als er zu Semesterschluß ein ganz schlechtes Zeugnis heimbrachte, das überdies eine große Anzahl versäumter Stunden auswies. In der Schule erfuhr sie zu ihrem Schreck, daß er im Laufe der letzten Monate überhaupt nur selten dem Unterricht beigewohnt hatte, und der Klassenvorstand wies ihr Entschuldigungen vor, die ihre Unterschrift trugen. Therese hütete sich, zu gestehen, daß sie gefälscht waren, sie behauptete vielmehr, der Bub sei in diesem Jahre oft krank gewesen, sie werde selbst das Versäumte mit ihm nachholen, man möge nur Geduld mit ihm haben. Zu Hause nahm sie ihn ins Gebet, er war zuerst verstockt, dann gab er freche Antworten, endlich lief er einfach aus dem Zimmer, aus dem Haus. In später Abendstunde erst erschien er wieder, legte sich sofort im Wohnzimmer auf den Diwan, der zugleich seine Schlafstelle war, die Mutter setzte sich zu ihm, drängte in ihn, wo er gewesen, er antwortete nicht, sah nach der Seite, drehte sich an die Wand, manchmal nur traf sie ein böser Blick, ein Blick, in dem Therese diesmal nicht nur Verstocktheit, Mangel an Einsicht und an Liebe, sondern auch Bitterkeit, Hohn, ja, einen versteckten Vorwurf las, den auszusprechen er sich, aus einer letzten Rücksicht vielleicht, enthielt. Und unter diesem fahlen Blick stieg eine Erinnerung in ihr auf, fern, verschwommen, die sie zu verscheuchen suchte, die aber immer näher, immer lebendiger vor ihr sich aufrichtete. Zum ersten Male 261 nach langer Zeit dachte sie der Nacht, in der sie ihn geboren, – der Nacht, in der sie ihr neugeborenes Kind zuerst tot geglaubt, in der sie es tot gewünscht hatte. Gewünscht –? Nur gewünscht? Das Herz erstarrte ihr vor Angst, daß der Bub, der sich feindselig abgewandt und die Decke über das Gesicht gezogen hatte, sich wieder nach ihr umwenden und seinen wissenden, hassenden, tödlichen Blick auf sie richten würde. Sie erhob sich, stand eine Weile bebend mit verhaltenem Atem, dann, auf den Zehenspitzen, ging sie in ihr Zimmer. Nun wußte sie, daß dieses Kind, dieser zwölfjährige Bub, nicht nur als ein Fremder, daß er als Feind neben ihr lebte. Und niemals noch hatte sie zu gleicher Zeit so schmerzlich tief gefühlt, wie sehr und wie unglücklich, wie ohne jede Hoffnung auf Erwiderung sie dieses Kind liebte. Sie durfte es nicht verloren geben. Alle ihre Versäumnisse, ihre Leichtfertigkeit, ihr Unrecht, ihre Schuld, sie mußte all das wieder gutmachen, und dafür mußte sie auch zu jeder Sühne bereit sein, zu Opfern jeder Art, zu schwereren, als sie sie bisher gebracht. Und wenn sich die Gelegenheit bot, ihr Kind in günstigere Verhältnisse zu bringen, als ihm bisher beschieden war; die Möglichkeit, es unter eine männliche, eine väterliche Aufsicht und Obhut zu stellen, so durfte sie nicht zögern, diese Gelegenheit zu ergreifen. Und war denn das Opfer wirklich so groß? Konnte eine Heirat nicht am Ende auch ihre eigene Rettung bedeuten?
Und als der Professor Wilnus bei einem nächsten Zusammentreffen mit ihr im Hause des Bruders, da man sie beide nach dem Mittagessen offenbar mit Absicht allein gelassen, an Therese die Frage richtete, ob 262 sie seine Frau werden wolle, zögerte sie zuerst, und mit einem festen Blick in den seinen fragte sie: »Kennen Sie mich denn auch gut genug? Wissen Sie denn auch, wen Sie heiraten wollen?« Als er darauf ungeschickt nach ihrer Hand faßte, mit einem verlegenen Neigen des Kopfes, ohne sie anzusehen, entzog sie ihm ihre Hand und sagte: »Wissen Sie, daß ich ein Kind habe, einen bald dreizehnjährigen, ziemlich ungeratenen Buben? Aber was man Ihnen auch gesagt hat, verheiratet bin ich nie gewesen.« – Der Professor runzelte die Stirn, wurde rot, als hätte sie ihm eine unanständige Geschichte erzählt, faßte sich aber gleich wieder: »Ihr Herr Bruder hat mir erzählt, nicht Einzelheiten, aber – aber ich hatte etwas Ähnliches vermutet«, und er ging im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken. Dann blieb er vor ihr stehen, und in wohlgesetzter Weise, als hätte er sich während des Auf-und Abgehens eine kleine Rede einstudiert, kam er ihr gleich mit einem fertigen Vorschlag. Keineswegs dürfe daran, daß dieses Kind existiere, ihre und seine Zukunft scheitern. »Wie meinen Sie das?« Es gäbe kinderlose Ehepaare, die nichts sehnlicher wünschten, als ein Kind zu adoptieren, und wenn man mit Sorgfalt –. Sie unterbrach ihn heftig, blitzenden Auges: »Ich werde mich nie von meinem Kinde trennen«. Der Professor schwieg, überlegte, und schon in wenigen Sekunden, mit einer hellen, gleichsam edel gewordenen Stimme, bemerkte er, daß er vor allem einmal den Buben kennenlernen möchte. Dann könne man ja über alles andere weiterreden. Ihre erste Regung war, brüsk abzulehnen, sich auf keinerlei Bedingungen einzulassen. Aber zu rechter Zeit noch kamen ihr wieder die letztgefaßten Vorsätze 263 in den Sinn, und sie erklärte sich