Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.aus sein«, sagte er. »Die ersten heuer, die ich versäumt habe.« Und als sie wie gekränkt zu ihm aufsah: »Tut’s dir leid?« – strich er ihr übers Haar und küßte sie, mitleidig gleichsam, auf die Stirn: »Dummes Mädel.« Sie traten aus den Auen ins Freie, und bald sahen sie, der breiten Fahrbahn sich nähernd, in dünnen Staub gehüllt, die Wagen und Equipagen vorbeisausen. Sie kamen zu dem Uferplatz, wo der Kahn ihrer wartete, und fuhren die Strecke zurück, die sie gekommen waren. Therese fürchtete sich zuerst, in Sylvies Blicken eine frivole oder unzarte Anspielung entdecken zu müssen, doch zu ihrer angenehmen Verwunderung schien Sylvie vielmehr ernster und gelassener als sonst. Ihr Freund begann von einer gemeinsamen Reise zu faseln, die man zu viert im Sommer unternehmen könnte. Doch sie wußten alle, daß das nur Geschwätz war, und Richard stand nicht an, das Reisen ganz im allgemeinen zu mißbilligen. Die mit jeder Ortsveränderung nun einmal verbundenen kleinen Unannehmlichkeiten empfand er als unleidlich; fremde Gesichter waren ihm in der Seele zuwider, und als ihm darauf der andere entgegnete, daß er doch auch für seine Bekannten und Freunde niemals besondere Sympathie zu erkennen gebe, ließ er das ohne weiteres gelten. Sylvie, vor sich hinsehend, bemerkte, daß es doch immerhin Momente gäbe, die des Lebens wert seien. Richard zuckte die Achseln. Das ändere im wesentlichen nichts. 247 Im Grunde sei doch alles traurig, das Schöne erst recht; und darum sei die Liebe das allertraurigste auf der Welt. Therese empfand tief die Wahrheit seiner Worte. Sie erschauerte leise; sie fühlte eine Träne in ihrem Auge, Richard berührte ihre Stirn mit seinen schmalen kühlen Händen. Die schmetternden Klänge einer Militärkapelle drangen zu ihnen, während der Kahn weiterglitt. Es dämmerte. Sie stiegen aus, bald war wieder das Getriebe der Menschen um sie, immer noch rollte ein geschlossener Zug von Wagen durch die breite Fahrbahn; Musik von einem halben Dutzend Orchestern wirbelte durcheinander. Alle Gasthausgärten waren übervoll. Die beiden Paare schlugen sich in stillere Gegenden, sie kamen an dem gleichen bescheidenen Wirtshaus vorbei, in dem Therese vor vielen, vielen Jahren als Prinzessin oder Hofdame mit irgendeinem Gespenst oder Narren gesessen war. Sie erkannte sofort den Kellner von damals, der von einem Tisch zum andern hastete, und wunderte sich, daß der sich in so vielen Jahren nicht im geringsten verändert hatte, beinahe, als wäre er der einzige von allen lebenden Menschen, der nicht gealtert war. Ist das alles nur ein Traum? dachte sie flüchtig, warf einen raschen Blick auf ihren Begleiter, als wollte sie sich vergewissern, daß es nicht Kasimir Tobisch sei, der an ihrer Seite ging. Und noch einmal sah sie sich nach dem Kellner um, der schwitzend, die flatternde Serviette unterm Arm, von Tisch zu Tische lief. Wie viele Sonntage seit jenem, dachte Therese! wie viele Paare haben sich seither gefunden, wieviel sogenannte selige Stunden, wie viel wirkliches Elend, wie viel Kinder seitdem, wohlgeratene und andere; und wieder einmal kam ihr die ganze 248 Unsinnigkeit ihres Schicksals, die Unverständlichkeit des Lebens überhaupt niederdrückend zu Bewußtsein. Und der junge Mensch neben ihr, wie seltsam, war der nicht eigentlich der erste, der, was eben jetzt in ihr vorging, ohne weiteres verstanden hätte, ja vielleicht wußte, ohne daß sie selbst es aussprach? Und sie fühlte sich ihm, dem sie sich in den ersten Stunden ihrer Bekanntschaft hingegeben und der sie, wie sie wußte, darum doch nicht verachtete, näher, verwandter, als sie sich jemals Alfred oder irgendeinem anderen gefühlt hatte.
In einem der stilleren Gasthausgärten aßen sie zu Abend. Therese trank mehr, als sie gewohnt war, und wurde bald so müde, daß sie kaum mehr die Augen offenhalten konnte und das Geplauder der andern nur wie von ferne an ihr Ohr klingen hörte. Sie wünschte sehr auf dem Heimweg ihrem Freund sagen oder wenigstens andeuten zu können, was ihr früher durch den Sinn gegangen war. Aber es kam keine Gelegenheit mehr dazu. Der Aufbruch geschah plötzlich; morgen früh vier Uhr war Ausrückung zu den großen Manövern, am nächsten Wagenstandplatz ließ man die beiden Damen in einem offenen Einspänner Platz nehmen, den Richard gleich bezahlte, flüchtig wurde noch eine Zusammenkunft für den übernächsten Sonntag verabredet. Richard küßte Theresen kavaliermäßig die Hand, sagte »auf Wiedersehen hoffentlich«, sie sah ihn mit weiten, wie erschrockenen Augen an; die seinen waren kühl und fern.
Auf der Heimfahrt durch die abendlichen Straßen ließ sie Sylvie reden, die nun plötzlich von unerwünschten Geständnissen übersprudelte. Therese hörte ihr 249 kaum zu, ein bitterer Nachgeschmack war ihr zurückgeblieben, und sie dachte ihres Geliebten von heute abend mit einer sonderbaren Rührung, als hätte er für immer von ihr Abschied genommen, ja als wäre er schon weit, weit fort.
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Wenige Tage später wurde sie von Herrn Mauerhold brieflich um ihren »ehebaldigsten« Besuch gebeten. Sie hatte Franzl schon drei Wochen lang nicht gesehen und geriet sofort in eine unverhältnismäßig heftige Aufregung. Herr Mauerhold empfing sie freundlich, aber in sichtlicher Verlegenheit. Seine Frau schwieg befangen. Endlich erklärte er, daß er aus Familienrücksichten mit seiner Frau Wien verlassen, in ein kleines niederösterreichisches Städtchen übersiedeln und daher Therese bitten müsse, den Buben anderswohin in Pflege zu geben. Therese atmete erleichtert auf; sie äußerte, daß es vielleicht ganz gut wäre, wenn Franzl aus der Großstadt wieder fort und in eine kleine Ortschaft käme, und sie erklärte sich gerne bereit, ihn auch nach der Übersiedlung bei seinen jetzigen Pflegeeltern zu belassen, wo er sich ja so wohl zu fühlen scheine. An der wachsenden Verlegenheit der beiden merkte sie, daß man ihr offenbar irgend etwas verschwieg, und als sie immer dringender Aufklärung verlangte, erfuhr sie endlich, daß Franzl sich neulich einen kleinen Hausdiebstahl hatte zuschulden kommen lassen. Und nun, da dies ausgesprochen war, hielt die Frau, die bisher stumm dagesessen war, nicht mehr länger an sich. Diese kleinen Diebereien waren nicht das Schlimmste. Der Bub hatte noch allerlei Unarten und Angewohnheiten, 250 von denen sie lieber gar nicht reden wolle. Auch aus der Schule seien Klagen gekommen. Die ungeratenste Jugend in der Nachbarschaft sei sein Verkehr, bis in die Nacht hinein treibe er sich auf der Straße herum, und es sei gar nicht abzusehen, wohin das bei dem elfjährigen Buben mit der Zeit noch führen solle. Therese saß mit gebeugtem Haupt wie eine Schuldbeladene. Nun ja, sie sah ein, daß sie unter diesen Umständen ihren Vorschlag nicht aufrecht halten könne, sie wollte nur warten, bis der Bub aus der Schule käme, und ihn lieber gleich mitnehmen. Herr Mauerhold, mit einem Blick auf seine Frau, meinte vorsichtig, es sei ja nicht gar so eilig, auf ein paar Tage käme es nicht an, man wolle den Buben gern noch im Hause behalten, bis Therese ein neues Heim für ihn ausfindig gemacht habe. Therese merkte mit Verwunderung, daß dem gutmütigen Mann Tränen in den Augen standen. Er war es nun, der sich anschickte, sie zu trösten: manche Knaben hätten in diesem bedenklichen Alter nicht viel getaugt, aus denen dann noch ganz anständige Menschen geworden wären. Die Stunde, in der Franz aus der Schule nach Hause kommen sollte, war längst vorüber; Therese aber, die sich nur ein paar Stunden Urlaub erbeten hatte, konnte nicht länger bleiben; sie dankte Herrn Mauerhold, versprach, sich sofort nach einem neuen Quartier für Franzl umzusehen, und ging. Auf dem Heimweg wurde sie ruhiger und nahm sich vor, die Angelegenheit mit irgend jemandem zu besprechen. Aber mit wem? Sollte sie ihre Mutter ins Vertrauen ziehen? An Alfred schreiben? Was konnten die raten oder gar helfen? Sie mußte schon alles mit sich selber ausmachen und allein in Ordnung bringen.
251 Zufällig traf sie am nächsten Tag im Stadtpark wieder mit Sylvie zusammen. Sie wäre wohl die letzte gewesen, die Therese unter anderen Umständen ins Vertrauen ziehen und um Rat hätte fragen wollen. Aber in ihrer Unruhe, ihrer Ungeduld, ihrem Drang, eine mitfühlende Seele zu finden, sprach sie sich zu Sylvie aus und erzählte ihr alles, mehr als sie je irgend jemand anderem erzählt hatte; und als wollte sich dieses Vertrauen belohnen, gerade in Sylvie fand sie eine Ratgeberin, eine Freundin so herzlich, klug und ernst, wie Therese es nie und nimmer erwartet hätte. Sie redete Theresen zu, ihre jetzige Stellung aufzugeben, überhaupt keine von dieser Art vorläufig anzunehmen, mit ihrem Sohn zusammen eine kleine möblierte Wohnung zu nehmen und nur mehr Privatlektionen zu erteilen. Sie selbst, Sylvie, machte sich anheischig, ihr in kürzester Zeit einige solche Stunden zu verschaffen, und stellte ihr auch für die nächste Zeit einiges Geld zur Verfügung; »sie habe immerhin kleine Ersparnisse«, fügte sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, das Therese nicht bemerken wollte. Sylvies Anerbieten aber nahm sie dankbar an.
Und mit neuer Hoffnung und plötzlich wiedergefundener Energie wurde die Ausführung des erfolgversprechenden