Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.sie gern mehr erfahren, und nach dem Eingeständnis, daß es ihr mit den Jahren immer schwerer fiele, gewisse unerläßliche Szenen der Leidenschaft mit den rechten Worten darzustellen, fragte sie Therese, ob diese nicht versuchen wolle, für einen Roman, mit dem sie, die Mutter, eben jetzt beschäftigt sei, die betreffenden Kapitel abzufassen. Jedenfalls bestand sie darauf, daß Therese das Manuskript daraufhin einer Durchsicht unterziehe. Therese las, erklärte sich außerstande, den Wunsch der Mutter zu erfüllen, was diese anfangs geneigt war, als Ungefälligkeit aufzufassen, ohne es ihr aber weiter nachzutragen.
Nach einer Woche holte Therese ihren Buben aus Wien ab, um für eine Weile mit ihm nach Enzbach zu ziehen. Sie war diesmal entschlossen, ihn sehr zu lieben, und es gelang ihr vorerst, während sie an Robert, nach dem sich ihr Herz in Sehnsucht verzehrte, nur mit Bitterkeit zu denken vermochte. Alfred holte sie ab und machte mit ihr eine kleine Reise in die steierischen Voralpen, auf der Therese sehr glücklich war. Er mußte wieder nach Wien ins Spital; sie kam allein nach Enzbach zurück. Frau Leutner vermochte Theresen nicht lange zu verschweigen, daß sie sich über Franzl diesmal in mancher Beziehung zu beklagen habe. Der Aufenthalt in Wien schien ihm doch gar nicht gut 230 getan zu haben. Er sei ungebärdig, ja frech, in einer Villa unten mit anderen Jungen zusammen hatte er mutwillig Gartenbeete verwüstet, und das schlimmste war, daß er sogar kleine Diebereien beging. Der Bub leugnete. Ein paar Blumen hatte er in jenem Garten gepflückt, das war alles. Und daß er die paar Kreuzer eingesteckt, die Frau Leutner auf dem Tisch hatte liegen lassen, das war nur zum Spaß gewesen. Auch Therese konnte und wollte diese Kleinigkeiten nicht recht ernstnehmen. Sie versprach Frau Leutner, daß sich Franzl wieder bessern werde, und brachte ihn dazu, die gutmütige Frau um Verzeihung zu bitten. Sie selbst aber verdoppelte ihre Zärtlichkeit für ihn. Sie beschäftigte sich mit ihm den ganzen Tag, unterrichtete ihn, ging viel mit ihm spazieren, und es war ihr, als wenn schon innerhalb weniger Tage sein Wesen sich zum Besseren wandle.
Einmal kam Agnes zu Besuch in auffallendem Sonntagsputz, mit ihren achtzehn Jahren um vier oder fünf Jahre älter aussehend, und Franzl empfing sie wieder mit Entzücken. Sie küßte ihn, als wenn sie seine Mutter wäre, und doch ganz anders, und schielte dabei frech zu Theresen hin. Bei Tisch erzählte sie allerlei Schlimmes über das vornehme Haus, wo sie »zweites Stubenmädchen« war, behandelte Therese gleich zu gleich, erkundigte sich, wo sie jetzt »in Dienst« sei, und ließ es an Anspielungen nicht fehlen über mancherlei, was man sich als junge hübsche Person von den jungen und ganz besonders von den älteren Herren gefallen lassen müßte, – wovon Therese wohl auch etwas erzählen könne. Therese, entrüstet, verbat sich Bemerkungen solcher Art. Agnes wurde anzüglich; Frau Leutner 231 machte dem beginnenden Zank ein Ende. Agnes sagte: »Komm, Franzl«, und lief mit ihm davon. Therese weinte bitterlich. Frau Leutner tröstete sie; es kam Besuch aus der Nachbarschaft; der Bub und Agnes kamen wieder zurück; und ehe diese ziemlich früh am Abend wieder in die Stadt hineinfahren mußte, trat sie auf Therese zu, streckte ihr die Hand hin: »Sein S’ nicht bös, es war ja nicht so gemeint« – und der Friede schien wieder hergestellt.
Indes nahte die Zeit heran, in der Therese sich nach einer Stellung umsehen mußte. Ein Versuch, an einer Erziehungsanstalt als Lehrerin einzutreten, war erfolglos geblieben, da sie die notwendigen Prüfungen nicht abgelegt hatte. Wieder einmal nahm sie sich vor, dies bei nächster Gelegenheit nachzutragen. Sie tat nun, was sie schon so oft getan: las Zeitungsannoncen, schrieb Offerte; es kam ihr alles mühseliger und aussichtsloser vor als je. Manchmal fiel ihr ein, daß sich auch Alfred ein wenig für sie bemühen könne, zum mindesten, indem er sie auf Zeitungsanzeigen aufmerksam machte, die ihm zufällig vor Augen kämen, doch um alle Dinge, die ihren Beruf angingen, schien er sich wie mit Absicht nicht zu kümmern. In Enzbach hatte er sich nicht mehr blicken lassen.
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Therese fand eine Stellung im Hause eines Bankdirektors zu zwei kleinen Mädchen von acht und zehn Jahren. Sie hatte sich fest vorgenommen, niemals wieder etwas über ihre Pflicht hinaus zu tun, ihr Herz und ihre Seele ganz unberührt zu halten und stets 232 eingedenk zu sein, daß sie in jedem Hause eine Fremde war und blieb. Trotzdem verspürte sie schon nach wenigen Tagen eine lebhafte, immer wachsende Sympathie für das jüngere Mädchen, das von rührend anschmiegsamer Natur war; um so absichtsvoller verhärtete sich ihr Herz gegenüber dem älteren Mädchen. Der Bankdirektor war ein Mann in den Fünfzigern, noch immer das, was man einen schönen Mann zu nennen pflegt, nicht ohne Geckenhaftigkeit, die sich hauptsächlich in der Gewohnheit eines koketten Augenaufschlags und einer höchst gewählten Umgangsprache kundgab. Er hatte auch eine gewisse Art, im Vorübergehen wie zufällig an Theresen anzustreifen und seinen Atem in ihren Nacken zu hauchen, und Therese war vollkommen überzeugt, daß es nur von ihr abgehangen hätte, in ein näheres Verhältnis zu ihm zu treten, um so mehr, da seine Frau, nicht mehr jung, etwas schwerfällig, im Äußeren beinahe vernachlässigt und immer leidend war. Jedenfalls war sie sorgfältig auf ihre Gesundheit bedacht, und immer wieder erbitterte es Therese, daß die Frau Direktor sich bei jeder Gelegenheit nach Herzenslust schonen und ins Bett legen konnte, während man auf sie, die am Ende doch auch eine Frau war, nie und nimmer Rücksicht nahm und niemals Rücksicht genommen hatte. Sie erinnerte sich, wie sie vor Jahren in einem ihrer Häuser im Zustande eines heftigen Unwohlseins bei miserablem Wetter die Kinder aus der Schule hatte abholen müssen und beinahe schwer krank geworden wäre; und was sie damals als eine der unvermeidlichen Peinlichkeiten ihres Berufs hingenommen, das ließ sie nun in ihrem Herzen die Leute entgelten, bei denen sie jetzt in Stellung war, ohne es 233 sie äußerlich merken zu lassen. Wenn Alfred aber, zu dem sie sich über alle diese Dinge aussprach, ihr gelegentliche Übertriebenheiten und offenbare Ungerechtigkeiten nachwies und sie zu einiger Milde und Nachsicht zu überreden suchte, dann warf sie ihm vor, daß er als Sohn aus gutem bürgerlichen Hause, der niemals Sorgen gekannt, sich natürlich auch mit jüdischen Bankdirektoren solidarisch fühle, schalt ihn egoistisch und herzlos und ging endlich so weit, ihm ins Gesicht zu sagen, daß er, nur er allein an ihrem ganzen Elend schuld sei, weil er sie in Salzburg als junges, unschuldiges Mädchen schon allein gelassen. Auf solche Bemerkungen hatte Alfred nur ein mildes Achselzucken, das sie völlig rasend machte, und so kam es immer wieder bei ihren seltenen Zusammenkünften zu Auseinandersetzungen, Verstimmungen und Streit.
Ihren Sohn hatte sie zwischen Stadt und Land in dem Vorort Liebhartstal, der für sie leicht erreichbar war, günstig untergebracht, zufällig wieder im Hause eines Schneidermeisters; und da Therese längst nicht mehr daran dachte, Franzl eine Mittelschule besuchen zu lassen, so nahm sie das als ein Schicksalszeichen und ließ Franz, noch während er eine nahegelegene Volksschule besuchte, seine Lehrlingszeit beginnen. Es schien ihr, als entwickle er sich nun wieder besser als im vergangenen Jahr: der Meister, ein gutmütiger, nur dem Trunk etwas zugeneigter Mensch, wie auch die Meisterin hatten nichts an ihm auszusetzen, mit dem Sohn, der um etliche Jahre älter war als Franzl, vertrug er sich ganz gut, und so glaubte Therese wieder einmal sich hinsichtlich seiner Zukunft beruhigen zu dürfen.
234 Alfred überraschte sie eines Tages mit der Mitteilung, daß er demnächst eine kleine Universitätsstadt in Deutschland beziehen werde, um sich bei einem berühmten Psychiater in seinem Spezialfach weiter auszubilden. So sehr er selbst überzeugt schien, daß das keine dauernde Trennung bedeuten sollte, Therese zweifelte nicht, daß nun das Ende da war. Aber sie ließ sich nichts anmerken und war in diesen letzten Wochen, die ihnen noch übrig blieben, von einer Gefaßtheit und zugleich von einer Zärtlichkeit, die Alfred lange nicht mehr an ihr gekannt hatte.
In den ersten Briefen aus seinem neuen Aufenthaltsort gab er sich freier und heiterer, als es zuletzt im persönlichen Beisammensein mit ihr der Fall gewesen war. Doch dem freundschaftlichen Ton dieser Briefe fehlte fast jeder Beiklang von Liebe oder gar Leidenschaft; und Therese, halb absichtlich, halb unbewußt, verstand es bald, sich diesem Tone anzupassen. Im Sommer bezog sie mit den Kindern und der Frau des Bankdirektors eine behagliche Villa in der Umgebung Wiens; fing eben an, sich zu erholen, ja dank dem freundlich-herzlichen Entgegenkommen der Frau Direktor und dem heiteren Wesen der Kinder wohl zu fühlen, als ein Brief von der Frau des Schneidermeisters eintraf mit der kurzen Mitteilung, daß man Franz aus Familiengründen leider