Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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erfuhr im Liebhartstal ohne eigentliche Überraschung, daß Franzl »recht verdorben« sei, den Sohn des Hauses »zu allerlei Schlechtigkeiten« anhalte, sowie auch, daß der Schullehrer sie dringend zu sprechen wünsche. Therese begab 235 sich sofort zu ihm und erhielt unter leichtverständlichen Andeutungen von dem freundlichen und klugen Mann den Rat, den Buben möglichst rasch aus der Schule zu nehmen und ihn wieder aufs Land unter gesündere Verhältnisse zu bringen. Trotz ihres Vorsatzes, sich nichts mehr, was den Buben betraf, zu Herzen gehen zu lassen – diese Eröffnungen trafen sie schwerer, als sie erwartet, und sie vermochte dem bitteren Gefühl der Reue nicht länger zu wehren, daß ihr einmal im gegebenen Moment der Mut gemangelt, eine gefällige Frau aufzusuchen, die sie vor all der Plage und all der Schande behütet hätte, unter deren Zeichen seither ihr Leben stand. Und gegen jenen eigentlich längst vergessenen, lächerlichen und nichtigen Kasimir Tobisch stieg ein so dumpfer Groll in ihr auf, daß sie sich fähig meinte; ihm etwas Böses anzutun, wenn er ihr jemals wieder begegnete.

      Es kam ihr der Einfall, ihren ungeratenen Sohn von einem kinderlosen Ehepaar adoptieren zu lassen, was Alfred einmal flüchtig im Gespräch berührt und sie entrüstet zurückgewiesen hatte, und sich dann nicht mehr um ihn zu kümmern. Doch kaum hatte sie begonnen, diesen Plan weiterzudenken, als ihre Stimmung wieder umschlug. Alle mütterlichen Gefühle für den armen Buben, der ja an seiner Natur und an seinem Los völlig unschuldig war, der sich unter anderen Umständen ganz anders, vielleicht zu einem braven, tüchtigen Menschen entwickelt hätte, brachen mit ungeheurer Macht wieder hervor, und sie fühlte ihre eigene Schuld tiefer denn je. War sie denn innerlich jemals treu zu ihm gestanden? war sie nicht immer wieder von ihm abgefallen und manchmal sogar zugunsten von andern Kindern, 236 die sie gar nichts angingen und die sie vielleicht nur deshalb liebte, weil sie aus besseren Häusern, weil sie wohlgepflegt, weil sie glücklicher waren als ihr eigenes Kind?

      Und an einem heißen Sommertag, während der Staub der Stadt durch den ärmlichen Vorort gegen die Hügel zu fegte, saß Therese mit ihrem Buben auf einer Bank am Rande der Straße, die bergaufwärts führte, redete ihm ins Gewissen, glaubte in seinen Augen etwas wie Einsicht, ja wie Reue zu lesen, fühlte neue Hoffnung in sich aufsteigen, als er sich näher an sie herandrängte, glaubte zu spüren, daß in seinem Herzen jene Starrheit, die sie so oft verzweifeln machte, sich zu lösen anfing, und richtete, wie in einer plötzlichen Erleuchtung, die Frage an ihn, ob er von nun an mit ihr, mit seiner Mutter, zusammen wohnen wolle. Und Tränen kamen ihr ins Auge, als er sich über diese Aussicht geradezu beglückt zeigte, ihr erklärte, daß er überhaupt nur sie liebhabe, daß er alle anderen Menschen nicht leiden könne. Oh, er würde auch gern mehr lernen und in der Schule brav sein, aber die Lehrer seien ihm aufsässig, und er wolle ihnen keine Freude machen. Daß er aber der Frau Meisterin ein Tüchel gestohlen habe, das sei eine Lüge, und auch die Frau Leutner in Enzbach sei eine falsche Person. Wie sie nur über die Mutter gesprochen habe zu ihrem Mann und zur Agnes und zu anderen Leuten, da könnte er manches erzählen! Und nun gar die Schneidermeisterin – eine Kanaille sei das. Therese erschrak, sie verwies ihm seine Worte. Aber Franz redete hemmungslos weiter über die Meisterin, über ihren Mann, über einen Fuhrwerksbesitzer, der öfters ins Haus käme, gebrauchte Ausdrücke, die Therese noch niemals gehört hatte, und sie konnte 237 nichts anderes tun, als ihn immer wieder zurechtweisen und endlich, da gar nichts half, das Gespräch abbrechen und auf andere Dinge bringen.

      In einer unendlichen Traurigkeit ging sie den Weg mit ihm über die staubige Straße wieder hinab. Noch hielt sie seine Hand in der ihren, aber unmerklich glitten die Finger auseinander, und sie war allein. Sie führte Franz für diesmal noch in das Haus seiner Kostgeber zurück, begab sich, fürs erste ohne Erfolg, auf die Suche nach einem neuen Quartier, nach neuen Pflegeeltern für ihren Sohn, übernachtete in einem kleinen Vorstadtgasthof und schrieb an Alfred einen ausführlichen Brief, in dem sie sich wieder einmal zu ihm wie zu einem Freunde aussprach. Und am nächsten Morgen in einer beruhigteren Stimmung glückte es ihr, für Franz bei einem kinderlosen Ehepaar ein reinliches Kabinett zu finden, so daß sie immerhin im Gefühl einer erledigten Pflicht aufs Land zurückreisen konnte. Diese letzten Wochen in der Villa hatte sie Gelegenheit, sich zu erholen, ja aufzuatmen. Die Mädchen gaben ihr wenig zu tun, man lebte zurückgezogen; der Herr des Hauses war auf einer größeren Reise abwesend, kaum jemals erschien ein Gast, – so verbrachte auch Therese beinahe den ganzen Tag lesend und viel schlummernd, von der Frau Direktor und von den Kindern wenig gestört, in dem großen schattigen Garten, dessen Mauer das ganze Haus und seine Inwohner gegen die Umwelt abschloß.

       Inhaltsverzeichnis

      Im Herbst übersiedelte Frau Fabiani nach Wien, vorerst in eine Fremdenpension. Ihr Sohn hatte indes 238 eine Hausbesitzerstochter aus einer österreichischen Provinzstadt geheiratet, wo er kurze Zeit hindurch Hilfsarzt gewesen war, und sich in Wien als praktischer Arzt etabliert. Doch blieb die Politik nach wie vor der Hauptgegenstand seines Interesses. Materieller Sorgen war er nun so ziemlich enthoben, was ihn auch liebenswürdiger und umgänglicher zu machen schien, wie Therese anläßlich einer Begegnung, die zufällig bei ihrer Mutter stattfand, zu bemerken Gelegenheit hatte. Seine junge Frau, die zugleich anwesend war, gutmütig, hübsch, beschränkt, von ziemlich kleinstädtischem Gehaben, kam Therese mit naiver Herzlichkeit entgegen, lud sie sofort ins Haus, und so fügte es sich, daß Therese, worauf sie noch vor wenigen Wochen keineswegs gefaßt sein konnte, an einem Familienessen bei Doktor Faber, wie ihr Bruder nun wirklich mit behördlicher Bewilligung hieß, teilzunehmen das Vergnügen hatte. Von einer verwandtschaftlichen Atmosphäre fühlte sie wenig, einmal mehr in ihrem Leben war sie bei Fremden zu Gaste, und trotzdem das Zusammensein harmlos und unbefangen verlief, behielt sie von diesem Familienmahl einen unangenehmen Nachgeschmack zurück.

      Ihren Sohn sah sie nicht viel häufiger als früher. Die Leute, bei denen er in Pflege war, ein pensionierter Beamter namens Mauerhold und seine Frau, hatten ihn nicht aus Erwerbsgründen bei sich aufgenommen, sondern weil sie ihr einziges Kind vor einigen Jahren verloren hatten und bei nahendem Alter das Bedürfnis fühlten, wieder ein junges Geschöpf in ihrer Umgebung zu wissen. Es hatte den Anschein, als übte die Gutmütigkeit und Nachsicht der beiden Leute auf Franzls 239 Wesen einen höchst günstigen Einfluß; weder von ihnen, noch von seinem Lehrer bekam Therese Abfälliges über ihn zu hören, und so verlief dieser Winter ohne sonderliche Aufregungen für sie. Daß Alfreds Briefe immer seltener und immer kühler wurden, berührte Therese kaum; in der gewissenhaften Erfüllung ihrer Pflichten als Erzieherin und als Stütze der Hausfrau, wozu sie sich in der letzten Zeit bei dem meistens leidenden Zustand der Frau Direktor immer mehr herangebildet hatte, fand sie fast völlige Befriedigung.

      Manchmal, ganz flüchtig, kam ihr der Gedanke, ob nicht einer der Herren, die im Hause verkehrten, der Hausarzt zum Beispiel, ein älterer Junggeselle, oder der verwitwete Bruder des Direktors, die ihr beide ein wenig den Hof machten, sich ernstlicher in sie verlieben oder sie gar heiraten könnte, wenn sie es nur geschickt genug anstellte. Doch da Geschicklichkeit und Schlauheit ihre Sache niemals waren, zerflossen solche immer nur vagen Aussichten bald wieder in nichts, ohne daß sie sich weiter darüber gekränkt hätte. Einmal entschloß sie sich eine Zeitungsannonce zu beantworten, in der ein wohlhabender kinderloser Witwer, Mitte der Vierzig, eine Wirtschafterin zu suchen vorgab. Die unflätige Antwort, die sie erhielt, bewahrte sie vor einer Wiederholung solcher Versuche.

       Inhaltsverzeichnis

      Im Stadtpark, wo sie bei beginnendem Frühjahr mit den beiden Mädchen öfters spazieren zu gehen pflegte, traf sie nach Jahren wieder mit Sylvie zusammen, die dort mit ihrem Zögling, einem achtjährigen Knaben, 240 sich auf einer Bank sonnte. Sie zeigte sich höchst erfreut, Therese wiederzusehen, erzählte, daß sie zuletzt auf einem ungarischen Gut, vorher noch weiter, in Rumänien, in Stellung gewesen sei, und schien sich im übrigen innerlich nicht im geringsten verändert zu haben. Immer wohlgelaunt, empfand sie ihr Los keineswegs als ein beklagenswertes oder gar, wie es bei Theresen doch noch zuweilen der Fall war, als ein ihrer nicht ganz würdiges, sah zwar etwas faniert, im ganzen aber


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