Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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öffentliche Schule besuchte, hatte Therese den ganzen Unterricht zu leiten und widmete sich dieser Beschäftigung mit einer Inbrunst wie nie zuvor. Nicht selten war ihr, als hätte sie ihrem eigenen Kind etwas abzubitten; sie war dann liebevoller zu ihm als sonst, und sie freute sich, daß er, wenn auch nicht gerade hübscher 218 und vornehmer, doch jedenfalls kräftiger und rotbäckiger aussah als ihr Pflegebefohlener. Und wenn auch Franzls Redeweise vom bäuerischen Dialekt keineswegs frei und sein Gehaben manchmal ein wenig zu ländlich schien, an Auffassungsgabe stand er hinter dem kleinen Robert gewiß nicht zurück. Doch immer von neuem gewann Robert den Vorrang in ihrem Herzen; sie begann darunter zu leiden, wie unter einer Schuld, und wußte, daß es nicht die erste war, deren sie sich ihrem Kind gegenüber anzuklagen hatte.

      Eines Tages, als sie mit dem kleinen Robert spazieren ging, begegnete ihr Alfred, den sie seit Salzburg nicht gesehen hatte, und sie nahm die Gelegenheit wahr, ihm zu sagen, daß sie ihn möglichst bald ausführlicher zu sprechen wünsche. In einer freien Abendstunde traf sie nach Verabredung in der Nähe des Krankenhauses mit ihm zusammen. Sie sprach von ihren Beziehungen zu ihrem eigenen Kind und zu dem andern und von dem Vorrang, den dieses in ihrem Herzen einzunehmen scheine. Alfred beschwichtigte ihre Gewissensskrupel: es sei ja nur selbstverständlich, daß sie ihrem Kind nicht die gleichen Gefühle entgegenbringen könne, wie es unter anderen glücklicheren Umständen gewiß der Fall gewesen wäre, jede Beziehung, auch die natürlichste, erfordere Gegenwart und stete Erneuerung, um sich in natürlicher Weise zu entwickeln, ja um überhaupt bestehen zu können. Übrigens würde er gern einmal ihren Buben von Angesicht zu Angesicht kennenlernen. Therese war von Alfreds Wunsch sehr erfreut, und nachdem bei Gelegenheit eines folgenden Abendspazierganges Näheres verabredet worden war, ließ sie sich am ersten Weihnachtsfeiertag von ihm nach 219 Enzbach begleiten. Er hatte dem Buben ein Bilderbuch mitgebracht, blätterte es mit ihm durch, war freundlich, doch forschend, zurückhaltend, doch gütig, und Therese war von Bewunderung für ihn erfüllt. Nicht nur Frau Leutner, auch ihrem dumpferen, unzugänglicheren Mann gegenüber traf er den richtigen Ton, und so vergingen die paar Stunden auf dem Lande in durchaus angenehmer und gemütlicher Weise. Doch auf der Rückfahrt nach Wien machte Alfred Theresen gegenüber kein Hehl daraus, daß er weder die Umgebung, in der das Kind aufwuchs, noch insbesondere das Wesen seiner Kosteltern als gedeihliche Vorbedingungen für dessen weitere Entwicklung zu betrachten imstande sei, und gab ihr zu bedenken, ob sie es nicht anderswohin, vielleicht in eine Vorstadt Wiens, in Pflege geben sollte, um es doch mehr in der Nähe zu haben und öfters sehen zu können. Bevor sie in Wien ausstiegen, küßten sie einander. Es war der erste Kuß seit jenem Abend, an dem sie in Salzburg, ohne es zu ahnen, auf so lange Zeit voneinander Abschied genommen hatten.

      Bald darauf fügte es sich einmal, daß Therese von Frau Knauer gebeten wurde, auf ihren nächsten zweitägigen Urlaub zu verzichten, doch stellte man es ihr frei, zum Ersatz ihren Buben einmal nach Wien zu Knauers zu bringen. Therese hatte zuerst eine gewisse Scheu, diesen Vorschlag anzunehmen, sie fürchtete halb unbewußt, die beiden Kinder nebeneinander zu sehen. Alfred, den sie um Rat fragte, verscheuchte ihre Bedenken, und so ließ sie sich an einem der nächsten Tage von Frau Leutner Franzl ins Haus bringen. Der Tag verlief besser, als Therese gefürchtet. Die beiden Buben 220 freundeten sich rasch miteinander an, plauderten und spielten; und als Franzl gegen Abend von Frau Leutner wieder abgeholt wurde, bestand Robert darauf, daß jener bald wiederkommen müsse. Frau Knauer nickte Theresen ermunternd zu, fand ihren Buben lieb und wohlerzogen und sagte auch nachher allerlei Gutes über ihn, was Therese unverhältnismäßig stolz machte. Es wurde nun bestimmt, daß Frau Leutner den Buben zwei-bis dreimal im Monat nach Wien bringen solle, und immer wurde er von Robert mit gleicher Freude, von Frau Knauer mit echter Herzlichkeit aufgenommen, und auch Herr Knauer, der sich manchmal auf ein halbes Stündchen im Kinderzimmer sehen ließ, schien Gefallen an ihm zu finden. Dies hatte allerdings wenig zu bedeuten, da Herr Knauer, immer vergnügt und immer zerstreut, mit allen Menschen und allen Dingen durchaus einverstanden schien und stets die gleiche oberflächliche Liebenswürdigkeit nach allen Seiten hin zur Schau trug. Für Therese aber behielt der kleine, grauhaarige, zerraufte Journalist trotzdem, ja er gewann immer mehr etwas Fremdes und Undurchdringliches für sie, und es war ihr manchmal, als hätte seine stete Spaßmacherei eine Maske zu bedeuten, unter der er sein wahres Wesen verbarg.

      Über ihre sämtlichen Beobachtungen und Ansichten pflegte sie sich Alfred gegenüber auszusprechen, der zu ihrer Neigung, überall Eigentümlichkeiten und Sonderbarkeiten zu entdecken, wo wahrscheinlich gar keine vorhanden wären, nachsichtig lächelte. Bei ihren meist sehr flüchtigen, aber doch immer häufiger werdenden Zusammenkünften, auch bei Gelegenheit gemeinsamer Theaterbesuche mit darauffolgendem Abendessen in 221 bescheidenen Gasthäusern wurden sie immer vertrauter, und es erging Theresen ähnlich mit dem Freunde, wie so viele Jahre vorher: sie wünschte ihn verwegener, draufgängerischer, als er war. Und doch, sobald er etwas kühner wurde, fühlte sie sich verängstigt, beinahe abgestoßen, als sei das Schönste, was sie bisher erlebt, gerade dadurch, daß es noch schöner würde, zu allzu frühem Ende bestimmt.

       Inhaltsverzeichnis

      Als sie endlich an einem Vorfrühlingsabend in dem etwas kahlen, doch sehr ordentlich gehaltenen Zimmer der Alservorstadt, das er bewohnte, die Seine wurde, hatte sie weniger das Gefühl einer lang ersehnten Erfüllung als das Bewußtsein einer endlich eingelösten Verpflichtung; und es war das erstemal, daß sie über eine ihrer Seelenregungen mit Alfred zu sprechen nicht imstande war, was ihr beinahe leid tat. Allmählich aber begann sie sich in seiner Nähe, in seinen Armen so beglückt zu fühlen, wie es ihr noch niemals begegnet war. Alfred war doch der erste Mensch, dem sie wirklich vertrauen, der erste, den wahrhaft zu kennen und von dem gekannt zu werden sie sich einbilden durfte. Aller andern gedachte sie wie fremder Menschen, denen sie sich in einem nicht ganz zurechnungsfähigen Zustand hingegeben hatte oder denen sie zum Opfer gefallen war. Er aber gehörte ihr. Das einzige, was sie manchmal befremdete, war, daß er es nun gern vermied, sich mit ihr öffentlich zu zeigen, mit der Begründung, daß es ihm peinlich wäre und doch auch ihr peinlich sein müßte, wenn sie zusammen zufällig Karl begegneten. Ihre 222 gelegentlichen Aufforderungen aber, sie doch wieder einmal nach Enzbach hinauszubegleiten, schienen ihn geradezu zu verstimmen, und so stand sie in der Folge von der Äußerung solcher Wünsche ab.

      Einer ihrer schönsten Tage war es, als Frau Knauer ihr einmal gestattete, Robert mit sich aufs Land zu nehmen, und ihr nun die Freude ward, »ihre beiden Kinder«, wie sie sie manchmal für sich selbst und diesmal auch vor Frau Leutner nannte, miteinander auf der Wiese umhertollen zu sehen. Sie faßte den festen Entschluß, im kommenden Herbst Franzl aus Enzbach fortzunehmen und in ihrer Nähe einzuquartieren.

      Rascher, als sie selbst es für möglich gehalten, wurde diese Veränderung ins Werk gesetzt. Ohne sonderliche Mühe fand sie Unterkunft für ihren Sohn in der Familie eines in Hernals wohnenden Schneidermeisters, und so hätte Therese Gelegenheit gehabt, ihr Kind viel öfter zu sehen als bisher. Doch sie machte davon weniger Gebrauch, als sie sich vorgenommen hatte. Insbesondere die Sonntagnachmittage verbrachte sie regelmäßig mit Alfred, der indes Sekundararzt im Allgemeinen Krankenhaus geworden war.

      Im nächsten Frühjahr schon war sie genötigt, ihren Buben aus dem Hause des Schneidermeisters zu entfernen, weil er sich mit dessen Sohn, der etwas älter war als Franz, durchaus nicht zu vertragen schien. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen Theresen und der Schneidersgattin, in der diese unklare Andeutungen über gewisse Unarten Franzls vorbrachte, Andeutungen, die Therese vorerst nicht ernst nahm und geneigt war, als Bosheiten aufzufassen. Sie fand bald ein anderes 223 Quartier für ihn bei einer kinderlosen ältlichen Lehrerswitwe, das überdies in einem netteren Haus gelegen war, und so hatte Therese keinen Anlaß, sich über die Veränderung zu beklagen. In der Schule kam Franzl leidlich vorwärts, in der Familie Knauer war er so gern gesehen wie früher, und niemand schien hier das geringste von den Ungezogenheiten und Ungebärdigkeiten zu bemerken, über die, wie früher die Schneidersfrau, sich bald die Lehrerswitwe, wenn auch in recht milder Weise, aufzuhalten Ursache hatte.

      Dies ging Therese nicht so nahe, als natürlich gewesen wäre, und sie konnte sich nicht verhehlen, daß im Mittelpunkt ihres Gefühlslebens


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