Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.ein rasches Ende, indem sie sich ohne sein Wissen nach einer anderen Stellung umsah und eines Morgens das Haus für immer verließ, ohne ihn verständigt zu haben. 190
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In der nächsten Stellung bei dem Inhaber eines kleinen Wechslergeschäftes der inneren Stadt fügte es sich, daß sie sehr viel freie Zeit übrig hatte. Ja, die Mutter des siebenjährigen Knaben, der ihr Zögling war, eine in ihrer Ehe sehr unglückliche Frau, schien niemals froher, als wenn sie mit ihrem Einzigen ungestört und allein beisammen sein konnte. So hätte Therese öfter als je Gelegenheit gehabt, nicht nur für Stunden, sondern auch für Tage nach Enzbach zu Franzl zu fahren, doch zog sie es manchmal vor, in den Straßen der Stadt planlos umherzuspazieren, und als erwünschte Ausrede vor sich selber diente ihr der Umstand, daß die Bauersleute draußen, daß insbesondere Agnes in ihrer vorlauten und doch wieder hinterhältigen Art ihr nun völlig unleidlich geworden waren.
So geschah es eines Abends, daß Therese in der Stadt dem hübschen Krauskopf begegnete, den sie auf dem Ball bei Greitlers vor bald zwei Jahren kennengelernt hatte. Er nannte es Schicksalsfügung, daß man einander wieder traf, und mit einer Willensschwäche, die sie sich selbst nicht erklären konnte, war sie schon beim nächsten Zusammensein bereit, ihm alles zu gewähren, was er verlangte. Er war Student der Rechte, lustig und frech; Therese verliebte sich heftig in ihn und opferte ihm öfters die Tage, die eigentlich für ihr Kind bestimmt gewesen wären. Ihm hätte sie gern mehr von sich erzählt, aber er schien darauf keinen Wert zu legen, ja, wenn sie ernsthafter mit ihm zu reden versuchte, langweilte ihn das offensichtlich, und aus Angst, ihn zu verstimmen, gab sie es auf, ihn mit ihren persönlichen 191 Angelegenheiten zu belästigen. Zu Beginn des Sommers kam ein fröhlicher Abschiedsbrief: sie wäre ein famoses Mädel gewesen, und sie möge ihm ein so freundliches Angedenken bewahren wie er ihr. Sie weinte zwei Nächte lang, dann fuhr sie nach Enzbach zu ihrem Kind, das sie ganze vier Wochen nicht gesehen hatte, liebte es mehr als je, tat vor dem Marienbild am Ahornbaum ein Gelübde, Franzl nie wieder zu vernachlässigen, vertrug sich auch mit den alten Leutners aufs beste, da Agnes nicht daheim war, und kehrte am Abend des gleichen Tages ziemlich getröstet nach Wien zurück.
Sie fand nun wieder zu sich selbst zurück. Es war ihr im Grunde nicht anders, als hätte sie einen quälenden Durst gestillt und könnte nun wieder beruhigt ihren Pflichten und ihrem Berufe leben. Doch als sie nun ihren Einfluß auf ihren kleinen Zögling wieder gewinnen wollte, sah sie bald, daß das von der Mutter scheel, ja mit Mißtrauen angesehen wurde. Eines Tages kam es wirklich so weit, daß die Frau, deren Gatte indes Beziehungen zu einem anderen weiblichen Wesen angeknüpft hatte, Theresen vorwarf, diese suche ihr die Liebe ihres Kindes zu entziehen, und als sich diese eifersüchtigen Regungen ins Krankhafte zu steigern begannen, blieb Therese nichts anderes übrig, als ihren Abschied zu nehmen.
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Sie kam nun in ein ruhiges, behagliches Haus, in dem sie hoffte lange bleiben zu dürfen: zu einem Fabrikanten, der tätig und seiner Tätigkeit froh zu sein schien, einer liebenswürdigen und heiteren Frau und zwei Mädchen, die eben der Kindheit zu entwachsen begannen, 192 klugen, wohlerzogenen, leicht zu behandelnden Geschöpfen, die beide musikalisch besonders begabt waren. Therese war nun gewöhnt, sich rasch in neue Verhältnisse zu finden, und sie verstand es, die Elemente von Fremdheit und Vertrautheit, die beide gewissermaßen das Wesen ihres Berufes ausmachten, gegeneinander auszugleichen und in das richtige Verhältnis zu bringen. Vor allem hütete sie sich, ihr Herz an die jungen Wesen zu hängen, deren Erziehung ihr überantwortet war, blieb aber doch keineswegs gleichgültig; eine Art von kühler Mütterlichkeit, die sie beinahe nach Belieben ein paar Grade höher oder niederer stellen konnte, blieb die Grundstimmung dieser Beziehungen. So war sie innerlich vollkommen frei, wenn sich die Türe des Hauses hinter ihr schloß, und doch wieder daheim, wenn sie zurückkehrte. Ihren Buben besuchte sie regelmäßig, ohne daß in der Trennungszeit besondere Sehnsucht nach ihm sie gequält hätte.
Einmal zu Beginn des Winters, als sie nach Enzbach hinausfuhr, mußte sie wegen Überfüllung des Zuges in einem Coupé erster Klasse Platz nehmen. Ein eleganter, nicht mehr ganz junger Mann, neben ihr der einzige Passagier in diesem Coupé, knüpfte ein Gespräch mit ihr an. Er befand sich auf einer Reise ins Ausland, und nur, weil er zu kurzem Aufenthalt auf einem, von einer kleinen Zwischenstation aus erreichbaren Gut genötigt war, hatte er für den ersten Abschnitt seiner Fahrt diesen Personenzug benützt. Er hatte eine etwas affektierte Art, zu reden und mit dem Zeigefinger der rechten Hand seinen englisch gestutzten Schnurrbart zu streichen. Sie ließ es sich gerne gefallen, daß er sie für eine verheiratete Frau hielt, und er hatte keinen 193 Grund, an ihrer Angabe zu zweifeln, daß sie auf Besuch zu einer Freundin fahre, einer Arztensfrau, Mutter von vier Kindern, die das ganze Jahr auf dem Lande wohne. Als sie in Enzbach ausstieg, hatte der Herr von ihr das Versprechen erlangt, in vierzehn Tagen, nach seiner Rückkehr aus München, sie wiedersehen zu dürfen, und empfahl sich von ihr mit einem Handkuß.
Als sie den verschneiten Weg dem wohlbekannten Ziele zuwanderte, fühlte sie ihren Schritt leichter als sonst und ihr Selbstbewußtsein gehoben. Ihrem Kind gegenüber aber hatte sie diesmal ein merkwürdiges Gefühl von Entfremdung, und in erhöhtem Maße fiel ihr Franzls Sprechweise auf, die, wenn nicht gerade entschiedenen Dialekt, doch immer unverkennbarer den bäuerischen Tonfall merken ließ. Sie erwog, ob es nicht an der Zeit und ob es nicht ihre Pflicht wäre, den Buben von hier weg und in die Stadt zu nehmen. Aber wie ließ sich das ermöglichen? Und während sie in dem niederen, muffelnden Raum bei dem Schein einer Petroleumlampe Kaffee trank, Frau Leutner ihr allerlei vorschwatzte, Agnes in ihrem Sonntagsgewand mit einer Näharbeit am Ofen saß, Franz in einem Bilderbuch leise vor sich hin buchstabierte, sah sie immer den fremden Herrn vor sich, wie er jetzt allein im Coupé in seinem eleganten Reisepelz mit gelben Handschuhen durch den treibenden Schnee in die weite Welt hineinsauste, und erschien sich selbst ein wenig als die verheiratete Frau, die sie ihm vorgespielt hatte. Wenn er ahnte, daß sie keineswegs zu einer Freundin aufs Land gefahren war, sondern zu ihrem Kind, zu einem unehelichen Kind, das sie von einem Schwindler namens Kasimir Tobisch hatte? Gleich aber durchschauerte es 194 sie; sie rief ihren Buben herbei, herzte und küßte ihn, als hätte sie etwas an ihm gutzumachen.
Die nächsten vierzehn Tage verflossen in einer so quälenden Langsamkeit, als hätte das Wiedersehen mit jenem Fremden das Ziel ihres Lebens zu bedeuten, und je näher es heranrückte, um so mehr fürchtete sie, daß der Fremde die Verabredung nicht einhalten würde. Doch er war da; er hatte sogar schon eine Weile an der Straßenecke gewartet. Sein Anblick enttäuschte sie heute ein wenig. Im Coupé war es ihr nicht aufgefallen, daß er von etwas kleinerer Statur als sie und beinahe kahlköpfig war. Aber seine Art, die Worte zu setzen, und insbesondere der Ton seiner Stimme übte gleich wieder die Wirkung von neulich auf sie aus. Sie habe nicht mehr als eine halbe Stunde Zeit, erklärte sie gleich, sie sei zu einem Tee geladen, wo sie ihren Mann treffen wollte, um mit ihm ins Theater zu gehen. Der fremde Herr war nicht zudringlich; er wollte auch nicht indiskret sein; er gab sich zufrieden und legte Wert darauf, ein Versäumnis von neulich gutmachen zu dürfen, indem er sich vorstellte: »Ministerialrat Dr. Bing. Ich verlange nicht Ihren Namen zu wissen, gnädige Frau«, fügte er hinzu. »Sobald Sie überzeugt sind, mir Ihr Vertrauen schenken zu dürfen, werden Sie ihn mir nennen – oder auch nicht. Ganz wie es Ihnen beliebt.« Dann erzählte er von seiner Reise. Es war keineswegs eine Vergnügungsreise gewesen, sondern eine Geschäfts-, eine politische Reise gewissermaßen. Immerhin habe er in Berlin einige Male die Oper besucht, was im Grunde auch hier seine einzige Zerstreuung sei. Die gnädige Frau sei wohl auch musikalisch? – Ein wenig, doch habe sie nicht viel Gelegenheit, Opern und Konzerte 195 zu besuchen. – Freilich, meinte der Ministerialrat, Hausfrauenpflichten, Familienpflichten, man könnte sich wohl denken. – Therese schüttelte den Kopf. Sie habe keine Kinder. Eins habe sie gehabt, das sei gestorben. Sie wußte selbst nicht recht, warum sie log, warum sie verleugnete, warum sie sich versündigte. Der Ministerialrat bedauerte, an eine wunde Stelle gerührt zu haben. Sein Zartgefühl