Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Читать онлайн книгу.Zeit kennengelernt, reden durfte, ohne vordringlich zu erscheinen. So konnte sie sich leicht behaglich fühlen. Der Bub aber, soviel er ihr auch durch sein verwöhntes, anspruchsvolles Wesen zu schaffen machte, entzückte sie geradezu. Sie entdeckte bald, daß seine Eltern ihn wohl zu verwöhnen, aber doch eigentlich nicht ganz zu würdigen verstanden. Sie fand, daß er nicht nur klug, weit über seine Jahre, sondern von einer ganz eigenen, fast überirdischen Schönheit war, die sie übrigens an das Kostümbild 179 irgendeines Prinzen erinnerte, sie wußte nicht an welches, das sie einmal in einer Galerie gesehen. Und bald erkannte sie, daß sie dieses Kind geradesosehr, ja, noch mehr liebte als ihr eigenes. Als es eines Abends an hohem Fieber erkrankte, war sie es, die angstverzehrt drei Nächte lang an seinem Bette wachte, während die Mutter, in diesen Tagen selbst etwas leidend, sich nur Bericht über den Zustand des Kindes erstatten ließ, das übrigens am dritten Tag schon vollkommen hergestellt war. Bald nachher wurden allerlei Sommerpläne gemacht; man zog die Umgebung von Salzburg in Betracht, und auch Theresens Rat war willkommen.
Da geschah es an einem heitern Sonntagmorgen, daß die Frau des Hauses sie zu sich ins Zimmer bat und ihr freundlich wie immer mitteilte, daß in wenigen Tagen die frühere Erzieherin zurückerwartet würde, die nur zum Besuch von Verwandten einen halbjährigen Urlaub in England verbracht hatte. Therese glaubte zuerst nicht recht zu verstehen. Als sie nicht länger daran zweifeln konnte, daß sie fort sollte, brach sie in Tränen aus. Die Frau tröstete sie, redete ihr zu und lachte sie endlich in ihrer gutmütigen und gedankenlosen Art wegen dieser »Raunzerei« ein wenig aus. Weder sie noch ihr Gatte schienen im geringsten die Empfindung zu haben, daß man Theresen ein Unrecht oder gar einen Schmerz antäte. Der Ton ihr gegenüber im Hause nach der Kündigung änderte sich so wenig, daß Therese immer wieder zu glauben versucht war, sie werde doch weiter hier bleiben dürfen. Ja, man besprach auch nach wie vor mit ihr verschiedene Einzelheiten des bevorstehenden Urlaubs, und der Bub redete von Ausflügen, 180 Kahnfahrten, Bergpartien, die er mit ihr unternehmen wollte. Immer wieder hatte sie während der Mahlzeiten mit Tränen zu kämpfen. Es gab eine Nacht, da sie halb im Traum allerlei romanhafte Pläne erwog: Entführung des Knaben, einen Anschlag gegen die aus England zurückkehrende Erzieherin; – auch noch dunklere Vorsätze, die sich gegen das Kind und gegen sie selbst richteten, gingen ihr durch den Sinn. Am Morgen waren sie natürlich alle in nichts zerflossen.
Endlich war der Tag des Abschieds da. Es war Sorge dafür getragen, daß der Kleine sich auf Besuch bei den Großeltern befand; man gab Theresen eine billige Bonbonniere und die besten Wünsche mit auf den Weg, ohne auch nur mit einem Worte anzudeuten, daß man sie gelegentlich wiederzusehen wünsche. Als sie die Treppe hinunterschritt, starr und tränenlos, wußte sie, daß sie dieses Haus nie wieder betreten würde. Es war nicht das erstemal, daß sie sich dergleichen vorgenommen; aber auch dort, wo ein solcher Vorsatz nicht in ihr aufgetaucht war, wo sie in Frieden, ja sozusagen in Freundschaft geschieden war, auch dorthin hatte sie beinahe niemals wieder den Fuß gesetzt. Wann hätte sie auch Zeit dazu gefunden?
Sie fuhr nach Enzbach mit der Hoffnung, sich in der freien Natur zu erholen, mit der Sehnsucht, sich unter den Menschen draußen wohl zu fühlen, mit dem gleichsam verzweifelten Wunsch, ihr Kind mehr, besser zu lieben, als sie es bisher getan. Nichts von all dem glückte ihr, alles schien vielmehr aussichtsloser als je. Niemals noch war sie in einer so völlig fremden Welt gewesen. Es war ihr, als käme man ihr übelgesinnt, geradezu feindselig entgegen, und so sehr sie sich Mühe gab, es gelang 181 ihr kaum, mütterliche Zärtlichkeit für ihr Kind zu fühlen.
Am schlimmsten wurde es, als Agnes, die indes in Wien Kindermädchen gewesen war, für ein paar Tage nach Enzbach kam. Die Zärtlichkeit der Sechzehnjährigen für den Buben war Theresen in der Seele zuwider, sie ertrug es nicht, das junge Mädchen dem Kind gegenüber sich gleichsam mütterlicher gebärden zu sehen, als sie selbst es vermochte. Manchmal wieder schien ihr das Verhalten von Agnes keineswegs von mütterlichen Gefühlen bestimmt; es hatte vielmehr den Anschein, als habe Agnes es nur darauf angelegt, Therese zu ärgern, zu verletzen, eifersüchtig zu machen. Als ihr das Therese auf den Kopf zusagte, erwiderte sie höhnisch und frech. Frau Leutner schlug sich auf die Seite ihrer Tochter; es kam zu einem Zank, in dem auch Therese alle Haltung verlor; empört über die andern, unzufrieden mit sich selbst, erkannte sie, daß alles nur schlimmer werden konnte, wenn sie noch länger blieb, und es geschah zum erstenmal, daß sie Enzbach ohne eigentlichen Abschied – fluchtartig verließ.
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Über die neue Stellung, die sie an einem heißen Augusttag antrat, war sie von ihrem Bureau, wie sich bald zeigte, ziemlich falsch unterrichtet worden. Sie kam keineswegs in eine elegante Villa zu einem gutsituierten Fabrikanten, wie man ihr vorgespiegelt, es war vielmehr ein höchst vernachlässigtes, freilich als Landhaus gebautes weitläufiges Gebäude, in dem vier Familien zum Sommeraufenthalt wohnten, die sich 182 nebst ihren Kindern in stetem Hader miteinander befanden, so daß man sich sogar im Garten um die Plätze, die Bänke, die Tische zu zanken pflegte und es immer wieder gegenseitige Beschwerden auszutragen gab. Die schlechtest erzogenen Kinder von allen waren die drei – im Bureau hatte man ihr nur von zweien gesagt –, die Theresens Obhut anvertraut waren, drei Buben zwischen neun und zwölf Jahren. Die Mutter war eine noch leidlich junge, zu früh fett gewordene, schon am frühen Morgen geschminkte Person, die zu Hause und im Garten in Hauskleidern von fragwürdiger Reinlichkeit umherzugehen, sich aber für die Promenade um so großartiger und auffallender herzurichten pflegte. Sie selbst, wie auch die Kinder, sprachen einen häßlichen jüdischen Jargon, gegen den, wie gegen die Juden überhaupt, Therese seit jeher eine gewisse Abneigung verspürte, obzwar sie sich in manchen jüdischen Häusern keineswegs übler als in andern befunden hatte. Daß auch die Eppichs, wenn auch getauft, einer Rasse angehörten, der gegenüber sie von einem Vorurteil nun einmal nicht ganz frei war, hatte sie erst kurz vor ihrem Austritt mit einiger Verwunderung erfahren. Der Vater ihrer neuen Zöglinge, ein kleiner bedrückter Mensch mit melancholischen Hundeaugen, kam meistens nur an Feiertagen, gegen Mittag, aufs Land hinaus, bei welcher Gelegenheit es beinahe immer Auftritte zwischen ihm und seiner Gattin gab. Nachmittags verschwand er eiligst und begab sich, wie Therese aus hämischen Bemerkungen seiner Frau entnahm, ins Kaffeehaus, wo er bis zum späten Abend Karten spielte und sein Geld, ja nach den Behauptungen der Gattin, allmählich die ganze Mitgift verlor. Therese begriff nicht recht, warum die Frau sich 183 immer darüber beklagte, daß er sie vernachlässige, da sie selbst keineswegs für ihn Zeit hatte. Nachmittags lag sie stundenlang auf dem Diwan, dann kleidete sie sich für die Promenade an und kam meist später zurück, als man sie erwartet hatte. Theresen gegenüber war sie bald freundlich, geradezu um ihre Gunst beflissen, bald heftig und ungeduldig und in jeder Beziehung von einer Ungeniertheit, die Therese oft peinlich berührte. Unter anderen Pflichten hatte der Gatte auch die, seiner Frau Bücher aus der Leihbibliothek mitzubringen, die aber meist ungelesen auf den Gartenbänken oder auf den Zimmermöbeln herumlagen. Es war Theresens Absicht, gleich nach der Rückkehr aus der Sommerfrische das Haus zu verlassen. So kümmerte sie sich um die drei Judenbengels, wie sie sie bei sich zu nennen pflegte, nicht mehr als unumgänglich notwendig war, überließ sie ihren Spielen, ihren Ungezogenheiten; und da sie mit ihrer Zeit nichts Rechtes anzufangen wußte, nahm sie manchmal mechanisch einen Leihbibliotheksband zur Hand, las da und dort ein Kapitel, ohne innerlich recht dabei zu sein. Da fiel ihr einmal ein Buch ihrer Mutter in die Hände. Sie griff kaum mit größerem Interesse darnach als nach irgendeinem der andern, da ihr, was sie bisher von den Leistungen der Schriftstellerin Fabiani kennengelernt, nicht nur langweilig, sondern überdies lächerlich erschienen war. Sie las nachmittags im Garten zu einer verhältnismäßig ruhigen Stunde in einer Ferienstille, die nur durch das Klavierspiel irgendeiner Hausbewohnerin gestört war, las ohne Anteilnahme eine Geschichte, die sie glaubte schon hundertmal gelesen zu haben, bis sie einmal an eine Stelle geriet, von der sie sich bewegt fühlte, ohne recht 184 zu wissen warum. Es war der Brief eines betrogenen und verzweifelten Liebhabers, der so unvermutet mit einem ergreifenden Ton von Wahrheit an Theresens Seele rührte. Ein paar Seiten darauf folgte ein zweiter, ein dritter Brief ähnlicher Art; und nun erkannte Therese, daß die Briefe, die sie hier gedruckt las, keine anderen waren, als die Alfred ihr vor vielen Jahren geschrieben und die die Mutter ihr damals aus der Lade gestohlen hatte.