Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

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Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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mit Alfred nach Wien reiste. Sie lächelte vor sich hin. Ihm vorher gar nichts sagen und einfach in den gleichen Zug einsteigen – ins selbe Coupé, wäre das nicht lustig?! Aber da ertappte sie sich auch schon bei dem Gedanken, daß sie eigentlich lieber allein, ja, lieber sogar mit irgendwem andern diese Reise unternehmen würde, mit einem Unbekannten, mit dem eleganten Fremden zum Beispiel – es war wohl ein Italiener oder Franzose – der ihr früher auf der Salzachbrücke so unverschämt ins Gesicht gestarrt hatte. Und, zerstreut weiterblätternd, las sie in der Zeitung von einem Feuerwerk im Prater, von einem Eisenbahnzusammenstoß, von einem Unfall in den Bergen, und plötzlich kam sie auf eine Überschrift, die sie fesselte: Mordversuch am Geliebten. Da war die Geschichte von einer ledigen Mutter erzählt, die den 34 treulosen Geliebten angeschossen und schwer verletzt hatte. Maria Meitner, so hieß das arme Geschöpf. Ja, auch dergleichen konnte einem passieren … Nein, ihr nicht. Keiner, die klug war. Man mußte keinen Liebhaber nehmen, man mußte kein Kind haben, man mußte überhaupt nicht leichtsinnig sein und vor allem: man durfte keinem Manne trauen.

       Inhaltsverzeichnis

      Langsam ging sie nach Hause, sie war ruhig, und in ihrem Herzen kein Zorn gegen die Mutter mehr. Das karge Mittagessen war warm gehalten worden, die Mutter stellte es ihr wortlos auf den Tisch und langte nach der Zeitung, die Therese auf den Tisch gelegt hatte. Sie suchte nach der Romanfortsetzung und las mit gierigen Augen. Therese nahm nach dem Essen ihre Stickerei zur Hand, setzte sich ans Fenster und dachte an das Fräulein Maria Meitner, das nun im Gefängnis saß. Ob sie wohl Eltern gehabt hatte? Ob sie eine Verstoßene war? Ob sie am Ende auch andere Männer in der Tiefe ihres Herzens lieber gehabt hatte als ihren Geliebten? Und warum hatte sie ein Kind bekommen? Es gab ja so viele Frauen, die ihr Leben genossen und keine Kinder bekamen. Allerlei fiel ihr ein, was sie im Lauf der letzten zwei oder drei Jahre in der Residenz und hier von Schulkolleginnen erfahren hatte. Der Inhalt so manchen unanständigen Gesprächs, wie sie dergleichen Unterhaltungen zu nennen pflegten, wurde in ihr lebendig, und ein plötzlicher Widerwille stieg in ihr auf gegen alles, was mit dergleichen Dingen zusammenhing. Sie erinnerte sich, daß sie schon vor zwei 35 oder drei Jahren, zu einer Zeit also, da sie fast noch ein Kind gewesen, mit zwei Freundinnen zusammen beschlossen hatte, ins Kloster zu gehen, und in diesem Augenblick war ihr, als regte sich in ihr eine ganz ähnliche Sehnsucht wie damals. Nur daß diese Sehnsucht heute etwas anderes und mehr bedeutete: Unruhe, Angst – als gäbe es nirgendwo als hinter Klostermauern Sicherheit vor all den Gefahren, die das Leben in der Welt mit sich brachte.

      Doch wie nun die Schwüle allmählich wich und über die Häuserwände bis in den vierten Stock hinauf die Abendschatten zogen, da schwand ihre Angst und ihre Traurigkeit, und sie freute sich dem Zusammensein mit Alfred entgegen wie noch nie.

      Sie traf ihn draußen vor der Stadt wie gewöhnlich. Seine Augen glänzten mild, und ein solcher Adel schien von seiner Stirn zu strahlen, daß ihr ganz weh ums Herz wurde. Sie fühlte sich ihm in schmerzlicher Weise überlegen, weil sie um soviel mehr vom Leben wußte oder ahnte als er; und zugleich seiner nicht ganz würdig, weil er aus so viel reineren Lüften kam als sie. In Gestalt und Haltung glich er seinem Vater, dem sie oft genug in den Straßen der kleinen Stadt begegnet war, ohne daß er ihrer geachtet oder auch nur gewußt hätte, wer sie war. Auch Alfreds Mutter, die große blonde Frau, und seine beiden Schwestern kannte sie von Angesicht; die mochten wohl etwas vermuten; denn neulich einmal, bei einer zufälligen Begegnung, hatten sie sich beide zugleich neugierig nach ihr umgewandt. Sie waren zwanzig und neunzehn und würden wohl bald beide heiraten. Die Familie war wohlhabend und hochgeachtet. Ja, die hatten es leicht. Und daß der Dr. 36 Sebastian Nüllheim, Arzt in den besten Familien der Stadt, je ins Narrenhaus kommen könnte, das war ein völlig unfaßbarer Gedanke. – Alfred merkte, daß Therese mit ihren Gedanken wo anders war, er fragte sie, was ihr sei, sie schüttelte nur den Kopf und drückte innig Alfreds Hand. Die Tage waren schon kurz, es begann zu dunkeln. Alfred und Therese saßen auf einer Bank im Grünen; weit dehnte sich die Ebene, die Berge waren fern, ein dumpfes Rauschen klang aus der Stadt herbei, der Pfiff einer Lokomotive hallte lang und leise, jenseits der Wiese, über die Landstraße, rollte ab und zu ein Wagen, Fußgänger schatteten vorüber. Alfred und Therese hielten einander umschlungen, Theresens Herz schwoll vor Zärtlichkeit; und wenn sie später dieser ersten Liebe dachte, war es immer wieder diese Abendstunde, die in ihrem Gedächtnis auf schwebte: sie und er auf einer Bank zwischen Feldern und Wiesen, auf weithingedehnter Ebene, darüber die Nacht, die sich von Berg zu Berg spannte, verklingende Pfiffe aus der Ferne und von einem unsichtbaren Teich her Fröschegequak.

       Inhaltsverzeichnis

      Manchmal sprachen sie von der Zukunft. Alfred nannte Therese seine Liebste, seine Braut. Sie müsse auf ihn warten, in sechs Jahren spätestens sei er Doktor, und dann würde sie sein Weib. Und als wäre nun ein geheimnisvoller Schutz um sie, wie ein Heiligenschein um die Stirn – in diesen Tagen bekam sie von der Mutter kein böses Wort zu hören, ja, diese verhielt sich geradezu liebevoll zu ihr.

      37 Eines Morgens trat sie zu Theresen ans Bett mit flimmernden Augen, reichte ihr ein Zeitungsblatt hin; da war auf dem für dergleichen vorbehaltenen Raum der Beginn eines Romans abgedruckt: »Der Fluch des Magnaten, von Julie Fabiani-Halmos«. Und sie setzte sich auf den Bettrand, während Therese für sich zu lesen begann. Die Geschichte fing an wie hundert andere, und jeder Satz erschien Theresen, als hätte sie ihn schon hundertmal gelesen. Als sie fertig war und der Mutter wie in Bewunderung, doch wortlos, zunickte, nahm diese die Zeitung zur Hand und las nun das Ganze laut, wichtig und ergriffen vor. Dann sagte sie: »Drei Monate lang wird der Roman laufen. Die Hälfte habe ich schon bezahlt bekommen – fast so viel wie eine halbjährige Oberstleutnantspension.«

      Als Therese am Abend dieses Tages mit Alfred zusammentraf, war er zu ihrer angenehmen Überraschung sorgfältiger, geradezu elegant gekleidet, ja, man hätte ihn für einen der vornehmen Reisenden nehmen können, wie zu dieser Zeit so viele in der Stadt zu sehen waren. Alfred freute sich der Befriedigung, die er in Theresens Augen las, und eröffnete ihr mit scherzhafter Förmlichkeit, daß er sich die Ehre gebe, sie für heute zu einem Abendessen im Hotel Europe einzuladen. Vergnügt nahm sie an, und bald saßen sie beide in dem hell erleuchteten, parkartigen Garten an einem köstlich gedeckten Tisch, für sich allein, unter vielen unbekannten Menschen, wie ein vornehmes Paar auf der Hochzeitsreise. Der Kellner nahm etwas herablassend Alfreds Bestellung entgegen; ein vortreffliches Mahl wurde aufgetragen, und an ihrem Appetit merkte Therese, 38 daß sie sich tatsächlich seit längerer Zeit nicht so eigentlich satt gegessen hatte. Auch der milde, süße Wein schmeckte ausgezeichnet, und während sie anfangs etwas eingeschüchtert sich kaum recht umzusehen gewagt hatte, ließ sie nun die Augen immer lebhafter und unbefangener im Kreise gehen. Von da und dort richteten sich Blicke auf sie, nicht nur von jüngeren und älteren Herren, auch von Damen, Blicke des Wohlgefallens, ja der Bewunderung. Alfred war sehr aufgeräumt, redete allerlei galantes, ziemlich törichtes Zeug, wie es sonst seine Art gar nicht war, und Therese lachte manchmal in einer unnatürlich grellen Weise dazu auf. Als Alfred sie zum dritten-oder viertenmal im Flüsterton fragte – er hatte eben keinen Überfluß an lustigen Einfällen –, wofür man sie beide wohl halten möchte: für ein durchgegangenes Liebespärchen auf der Flucht oder für ein junges Ehepaar aus Frankreich auf der Hochzeitsreise –, gingen einige Offiziere am Tisch vorbei, unter denen Therese sofort jenen schwarzhaarigen mit den gelben Aufschlägen erkannte, dessen sie in den letzten Wochen allzuviel hatte denken müssen. Auch der Offizier erkannte sie gleich; sie wußte es, obwohl er nichts dergleichen tat, sondern wohlanständig seinen Blick wieder abwandte und sich nicht, wie sie erwartet, an einem benachbarten, sondern in Gesellschaft seiner Kameraden an einem ziemlich entfernten Tische niederließ. Mit Alfreds guter Laune war es plötzlich vorbei. Es war ihm nicht entgangen, daß Theresens Augen aufgeleuchtet hatten, und er fühlte mit der eifersüchtigen Ahnung des Liebenden, daß etwas Verhängnisvolles geschehen war. Als er ihr das Glas wieder vollschenkte, drückte sie ihm wie schuldbewußt die Hand, 39 und zugleich ihre Ungeschicklichkeit fühlend, sagte sie plötzlich:


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