Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.lieber Fritz! Mein Vater ist gestorben – mein – Mann ist tot – nun stirbt mein Kind, mein armes, kleines, krankes Mädchen! O Vetter Just, Vetter Just!«
Sie hatte sich mit einem Male rasch erhoben und dem Vetter laut weinend die Arme um den Hals gelegt. Sie schluchzte an seiner breiten, braven Schulter, als könne sie sich nimmer wieder beruhigen.
»Das ist gut; lassen Sie sie so!« murmelte Mademoiselle Martin, ihr Taschentuch zwischen den Händen zerringend. Da fing das Kind leise an zu wimmern, und der Vetter, die Mutter aufrecht haltend, legte eine Hand auf die kleine Stirn auf dem weißen Kopfkissen.
»Vetter Ju! – Wehweh!« winselte das Kind.
»Herz, mein Herz«, rief Irene. »Wir sind ja alle bei dir! Mama ist da, und wir bleiben alle bei dir – o großer Gott!«
»So wehweh!… Auf Arm, Vetter Ju!« klagte das Kind von neuem und bat mit herzzerreißenden Schmerzenslauten. Der Vetter Just warf einen fragenden Blick auf Mademoiselle Martin, und sie nickte. Da nahm der Bauer vom Steinhofe sanft die Kleine aus ihrem Bettchen und setzte sich und hielt sie auf einem Kissen und in ihren Decken in seinen guten Armen, und sie wurde allgemach wieder ruhig und schlummerte schmerzloser der letzten, ernsten Stunde zu. O über den Sonnenschein und die goldengrünen Zweige, in denen wir uns wiegten, als wir Kinder waren!
Der Medizinalrat sah seinem Versprechen gemäß gegen Abend noch einmal vor. Er blieb sehr ernsthaft wieder mit seiner Uhr in der Hand eine Viertelstunde und sprach gemessen schickliche und beruhigende Worte zu der Mutter. Aber er war ein »glücklicher« Arzt, ein vielbeschäftigter, und hatte keine Zeit, hier das Ende abzuwarten, denn er hatte noch an verschiedenen anderen Orten dieselben geziemlichen und beruhigenden Worte zu sprechen. Wir aber hatten Zeit dazu: der Vetter Just Everstein und – gottlob! – ich auch!
Achtzehntes Kapitel
Ich habe es wohl vergessen, zu sagen, dass wir damals im März des laufenden Jahres waren. Der Tag war hell und trocken, wenn auch noch immer windig. Auf den verhängten Fenstern lag ein gut Teil des Tages hindurch die Vorfrühlingssonne, und in das Nebenzimmer schien sie voll hinein, bis sie hinter die gegenüberliegenden hohen Häuser hinabglitt.
Wir verlebten diesen Tag vom Mittag an in diesen zwei Zimmern, dem verdunkelten und dem hellen, der Vetter Just und ich. Mademoiselle Martin deckte uns sogar in dem hellen Raume ein Tischchen und legte vier Couverts auf und stellte vier Stühle daran. Wir aßen daran zu Mittage, Mademoiselle, der Vetter und ich; und auch Irene kam und setzte sich einmal zu uns. Da aber hatte der Vetter ihren Platz an dem kleinen Bette eingenommen. Wir gingen ruhelos ab und zu, aus der hellen Stube in die dunkle. Es wurde auch eine Zeitung gebracht, und Mademoiselle Martin reichte mir dieselbe. Ich nahm sie und habe sie bis in die Dämmerung hinein wohl hundertmal hingelegt und von neuem aufgenommen. Wer diese Weise, eine Zeitung, ein Buch oder sonst einen beliebigen Gegenstand in Angst, Herzensweh und – Langerweile, ja Langerweile, hin und her zu wenden durch die kriechenden Stunden, nicht kennt, der preise das Geschick, das ihm solchen Zeitvertreib ersparte, und bitte, dass es ihn auch fernerhin davor bewahre, sich daran halten, im vollsten Sinne des Wortes sich daran halten zu müssen, bis das schlimme, öde, tödliche Warten sein Ende gefunden hat, einerlei welches.
So warteten wir an jenem Nachmittage.
Das kranke Kind wimmerte und schlief und wimmerte wieder und schlief wieder.
Die Mutter sang ihm mit leisester Stimme und kam zu uns und weinte und erzählte auch abgebrochen aus ihrem Leben und fragte nach dem meinigen. Wenn der Vetter Just irgend etwas sagte, so horchten wir alle mit momentan leichterem Atemholen; aber auch er schwieg oft viel zu lange und wusste nichts zu sagen. Mademoiselle ging ab und zu; – die war noch am besten dran, denn sie hatte den Haushalt für den kommenden Tag zu besorgen und von uns allen also das meiste um die Hand. Manchmal aber stand auch sie beschäftigungslos am Fenster, und ich bin fest überzeugt, dann haben sich Leute an den Fenstern drüben auf der anderen Seite der Gasse einander heiter auf sie aufmerksam gemacht:
»Guck nur die Alte! Wie in einem Bilde!… Die möchte ich mir freilich nicht am frühen Morgen über den Weg laufen lassen!«
»Die könnte Geschichten aus ihrer Seele erzählen, gegen die wir beide, Fritz, alle unsere Erlebnisse still zusammenpacken könnten«, flüsterte mir einmal der Vetter zu, mit dem Daumen über die Schulter auf die sœur ignorantine an dem Fenster hindeutend. »Was meinst du, wenn die am Jüngsten Gericht ihre auf Erden verschluckten Tränen auf einmal fließen lässt?!«
»Ja, Just«, sagte ich, »aber es läuft alles in einen Strom. Ich kann es dir nicht sagen, was für einen Damm das letzte Tribunal dagegen aufbauen wird, um nicht mit Sessel, Bank und grünem Tisch weggeschwemmt zu werden.«
»Darf ich Ihnen noch eine Tasse Kaffee einschenken?« fragte im Augenblick darauf Mademoiselle Martin. »Sie trinken ihn noch immer recht süß?«
Und ich sah in demselben Augenblick wieder vollständig genau die grünlackierte Zuckerdose von Schloss Werden vor mir und fühlte auf meinen Knöcheln den Schlag, mit welchem Mademoiselle meinen verstohlenen Griff in dieselbe zu verhindern gewohnt war, und hörte dazu das vorwurfsvolle Wort meiner Mutter: »Aber Fritz?!« und dabei das mutwillig glückselige Kichern der Komtesse Irene, der währenddem der Griff unbeachtet gelungen war.
Die schwersten Tage, Stunden und Minuten erzeugen ihre geschwindesten, wunderlichsten und buntesten Fantasmagorien.
Wenn wir zusammen sprachen, so sprachen wir sehr häufig von Eva Sixtus. Das Wort des Vetters: »Ach, wenn wir sie doch hier hätten!« kam zur vollsten Geltung. Jede heller auftauchende Erinnerung an sie, jedes Geschichtchen von ihr aus der Kinderzeit war uns wie ein Trunk aus einer kühlen klaren Quelle an einem schwülen Tage und unter schwerer Mühe. Wir konnten sie uns auch heute noch nicht anders vorstellen als immer noch umgeben von dem alten Zauberreich der Erde, weiterlebend still und freundlich in dem süßen Licht, den Tönen und Düften des von uns verlorenen oder aufgegebenen Paradieses.
Der Vetter Just, der natürlich am genauesten über sie Bescheid wusste und sie vor vierzehn Tagen noch gesprochen hatte, sagte:
»Das ist auch so mit dem guten Mädchen, und sie verdient es wirklich. Schon die Art anzusehen, wie sie mit ihrem alten Papa und seinen Hunden und seinem kuriosen Papstbuche umgeht, ist ein wahres Vergnügen. Beiläufig, wenn ich an das Papstbuch denke, so fällt mir dabei jetzt immer Freund Ewald in England ein. Seit ich den braven Jungen dort besucht habe, meine ich in plain terms, dass ein gut Stück mehr