Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.ehe die Menschen es für etwas Selbstverständliches halten werden, auf der Erde zu ihrem Behagen unter dem rechten Dache zu Schauer zu kriechen. Nach deinen Versäumnissen möchte ich dich fragen, Fritz! Nimm es mir nicht übel – es findet sich aber vielleicht keine bessere Stunde dazu in unserem Leben als diese gegenwärtige sehr melancholische und sehr – ich weiß nicht, wie ich mich darüber ausdrücken soll!«
Er sagte es wirklich, dass er nicht wisse, wie er sich über diese Stunde ausdrücken solle. Hätte er ein Wort dafür gefunden, so würde er freilich die deutsche Sprache für all ihre Zeit dadurch bereichert haben. Was mich anbetraf, so war es nicht nötig, dass er noch ein Wort fand oder erfand für sich. Ich wusste bis in die tiefste Tiefe seiner und meiner Seele hinein, was er mir deutlich zu machen gewünscht hatte.
Aber ich?!…
In diesem Augenblick rief Irene aus dem Nebenzimmer angstvoll und laut unsere Namen. Der Vetter Just und ich kamen an diesem Abend nicht mehr dazu, unsere Privatangelegenheiten weiterzuerörtern. Gegen Mitternacht starb das Kind.
Erstes Kapitel
Es ist nichts leichter, aber auch nichts schwerer, als eine gute Grabrede zu halten. Ich für mein Teil aber bleibe unter allen Umständen gern davon und lasse jedem beliebigen anderen das Wort. In dem vorliegenden Fall sprach der Vetter Just am Grabe, und er hielt seine Rede mit dem Regenschirm als Kanzeldach über sich, und der Regen fiel, während er so vor sich hinbrummte, fein und leise nieder auf den kleinen, frischen Hügel zu unseren Füßen.
Wir beide, der Vetter Just Everstein und ich, standen noch allein neben diesem Hügel. Die übrigen Trauergäste hatten bereits wieder ihre Kutschen bestiegen und waren abgefahren – Durchlaucht, der Herr Vetter ✳✳✳, unter ihnen. Der gutmütige Mann hatte es sich nicht nehmen lassen, gleichfalls, wenn auch etwas inkognito, seiner kleinen Verwandten das letzte Geleit zu geben. Er und der Vetter Just hatten in dem ersten Wagen den winzigen Sarg auf dem Rücksitz vor sich gehabt, und der Vetter Just konnte späterhin die Bemerkungen, die der andere Vetter während der Fahrt gemacht hatte, nur loben. Das leichte aristokratische Unbehagen darüber, dass die Leiche nicht in dem Erbbegräbnisse zu Dorf Werden beigesetzt werde, hatte der Bauer vom Steinhof ebenso leicht dem illustren Herrn hingehen lassen und das feste Versprechen desselben, auch fernerhin der armen Mutter nach seinen »beschränkten Verhältnissen« ein treuer Freund bleiben zu wollen, durch die Bemerkung, dass man der guten Freunde nie genug haben könne, entschieden gewürdigt. Aber ebenso entschieden hatte er dann seine Meinung dahin ausgesprochen, das beste werde sein, er, der Vetter Just, nehme fürs erste die Frau Baronin mal mit sich nach dem Steinhofe:
»Und wenn auch nur, um den Nerven in der Nähe der alten Heimat Zeit zu gönnen, sich zu beruhigen.« – – –
Doch nun zu der Grabpredigt, die der Vetter Just der Kleinen hielt.
»Müde zu Bette gebracht«, murmelte er. »Keine Mama kann doch die Decke wärmer überlegen als Mutter Erde. Von dir gesagt, Fritz, klänge das gar nicht neu; aber für mich als Landwirt ist hier das Allerälteste immerdar das Neueste und klingt auch so. Meinst du nicht? – Nun sagt die Mama: ›Schlaf wohl und träume einen hübschen Traum, mein Herze; oder noch besser, träume gar nicht, denn das letztere soll das Gesundeste sein.‹ – Hast du etwas weiteres bei dieser traurigen Gelegenheit zu bemerken, Doktor? Wenn die Kinder zu Bette gegangen sind, pflegen doch gewöhnlich die Erwachsenen von ihren wichtigen Geschäften und Angelegenheiten zu reden oder holen die besten Ratschläge für den nächsten Morgen hervor.«
»Sage du nur, was du zu sagen hast, Just, – sowohl über die Schlafenden wie über die Wachenden.«
»Zu sagen habe ich eigentlich nichts«, meinte der Vetter, mehr zu sich selber als zu mir gewendet. »Ich habe nur immer gefunden, dass solch ein Kinderbegräbnis ein eigen Ding ist. Du hast wohl weniger Gelegenheit als ich gehabt, dabei anwesend zu sein; auf den Zwischenstationen zwischen der alten und der neuen Welt, in den jungen Ansiedelungen im Walde und dann und wann auch ein bisschen im Sumpfe hat man freilich mehr dergleichen. Der Mensch muss überall wie jedes andere Gewächs aus dem Boden herauswachsen, um ihn mit der dazu passenden Luft und dem Witterungswechsel von Anfang an gleich vertragen zu können und behaglich drauf zu leben und alt darauf zu werden. Ich habe den Steinhof auch nur deshalb zurückgekauft, und ich nehme unsere Irene einzig und allein aus demselben Grunde mit mir dahin zurück, und – du bist auch auf dem alten Stammgrund willkommen, alter Eingeborener, – natürlich, wenn es dir deine Zeit erlaubt und du dich noch nicht bis zum Ekel an unseren früheren Verhältnissen hier akklimatisiert hast.«
Da hätten wir denn wohl hiermit eine Grabrede für die Mehrzahl der Erdenbewohner; denn für wie lange ist es dem Menschen gestattet, in dem Boden zu wurzeln, aus dem er aufwuchs, dachte ich. »Ach, nicht nur um die Kinderbegräbnisse ist es ein eigen Ding, sondern um die Begräbnisse und Grabstätten der Menschheit überhaupt! Und inmitten der Gespräche, die geführt werden von den Erwachsenen, wenn die Kinder zu Bette gegangen sind, sind wir hiermit auch bereits, Vetter Just.«
»So ein armes, geplagtes kleines Wesen!« brummte Just Everstein kopfschüttelnd. »Es sieht uns in seinen Schmerzen fragend an und sagt: bitte, bitte! – Ist das nicht wunderbar und schrecklich? Da stehen wir denn nachher, wie wir beide hier jetzt, und holen aus tiefer Brust Atem, und niemand kann uns das verdenken! Ich habe solche schlimmen, tiefen Atemzüge wohl hundertmal in Neu-Minden getan, und es war auf dem Nachhausewege doch nur ein leidiger Trost, dass immer noch so viele von ihnen da waren und übrigblieben, dass wir uns sogar wegen eines Schulmeisters für sie Sorgen machen mussten. Und dabei die Mütter, die übriggeblieben sind und bei der leeren Wiege sitzen oder das verlassene Spielzeug und die Schreibbücher in ihrer Schürze zusammentragen! Sieh, da habe ich es uns denn so zurechtgelegt, dass Frau Irene ihren hiesigen Hausstand ganz aufgibt. Ich habe, wie du weißt, die Kleine in ihren Schmerzen, wenn es niemand anders, und auch die Mutter nicht, vermochte, zur Ruhe gebracht, und ich meine, wenn mir nur Zeit gelassen wird, bringe ich das auch mit der Mutter fertig. Ob ich einmal zu der Familie gehört habe, weiß ich nicht und kümmere mich auch nicht darum; aber für den letzten männlichen Stammhalter der Eversteins halte ich mich in dieser Zeit doch! Ein bisschen enge zusammenschachteln werden wir uns auf dem Steinhofe wohl müssen; aber viel Gepäck nehmen wir ja nicht mit, und jedenfalls halten wir vorher Auktion, und im Notfall baue ich an. Ich bin gottlob drüben oft genug mein eigener Baumeister gewesen, um einen Kostenanschlag aufstellen zu können und mit wenigem einen hinreichenden Unterschlupf herzustellen.