Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.das bei uns zu Hause. Über Bodenwerder hinaus ist, während wir anderen sämtliche Münchhausens Abenteuer in der Welt erlebten, weder Eva noch der Förster gekommen. O Irene, wie werden sie demnächst einmal Ohren, Nase und Mund aufsperren, wenn wir ihnen unsere Allerweltshistorien heimbringen! Das steht fest, diesen Sommer treffen wir uns alle auf dem Steinhofe bei dem Vetter Just! Wozu bin ich denn der Vetter Just, wenn ich das nicht ganz genau wüsste und dazu, dass es immer wieder Sommer wird, wenn es Winter gewesen ist?! Das steht fest wie der Magister matheseos, Fritze Langreuter; jaja, Miss Martin, man kann es zu einer ungeheuren Gelehrtheit und Weisheit in der Welt bringen, wenn man nur seinerzeit an nichts denkt und die Leute reden und lachen lässt. Ein Verdienst war das damals aber bei mir nicht, sondern nur Blödigkeit und Schüchternheit und dazu Angst und Verwunderung, weil ich nur der dumme Junge auf dem Steinhofe war und die Welt und der Himmel umher so weit und voll und allmächtig, – liebe Irene, bleib sitzen; ich sehe schon nach dem Kinde!«
Sie wusste es, dass er ihren Platz an dem kleinen Schmerzenslager ebenso gut ausfüllte als sie selber; sie lief ihm doch vorauf in das verdunkelte Zimmer. Er ging aber dennoch mit ihr; und Mademoiselle Martin und ich blieben uns an dem Kaffeetische allein gegenüber.
»Haben Sie nicht vorhin gesagt, dass Sie an unserer Haustür mit M. le prince de ✳✳✳ zusammengetroffen seien, M. Fritz?« fragte Mademoiselle.
Ich bestätigte das noch einmal.
»Sie wissen gar nichts von uns, Frédéric, und wenn Sie etwas sehr verwundert, so behalten Sie auch das für sich. Dies war immer Ihre manière so, schon als Sie noch so groß waren.«
Sie zeigte es durch eine Handerhebung, wie hoch ich war, als ich bereits alle meine Verwunderungen für mich selber behielt.
»Es tut mir leid, Mademoiselle Martin –«
»O, es tut Ihnen gar nichts leid, monsieur le docteur, denn sonst hätten Sie sich schon nach vielen Dingen erkundigt. Par exemple: ›Wie kommen Sie nach Berlin, Mademoiselle?‹… Mais c’est navrant – ces gémissements de la petite! Bleiben Sie sitzen, Fritz, wir können doch nichts helfen dort, und der Vetter hilft der Komtesse. – Es ist der Fürst und seine Familie, die uns haben weggeholt von Wien und uns haben leben lassen hier. Das sind sehr gute Leute, und die Väter und Großväter haben sich auch schon geholfen gegenseitig depuis les siècles, und vorzüglich, als der Kaiser Napoleon war in Deutschland der Herr. Damals ist es monsieur le comte d’Everstein-Werden gewesen, der helfen konnte; aber das Glücksrad geht herum toujours, toujours, toujours! Und Seine Durchlaucht ist gekommen und hat gesagt: ›Sie können nicht bleiben in Wien, madame la baronne. Je suis garçon, sonst sollten Sie wohnen in meinem Hotel in Berlin; aber ich muss sein Ihr Vormund, das ist mir eine Pflicht. Sie sollen still leben in Berlin und die Vergangenheit vergessen; ich werde alles besorgen.‹ – Bien, was wäre aus uns geworden ohne ihn? La grande mer hätte uns übergeschlungen. Voyez par exemple madame de ✳✳✳ und madame de ✳✳✳ und so viele andere arme Frauen dans la rafale de la vie! So haben wir gelebt hier durch seine Herzensgüte und auf seine Kosten, bis neulich gekommen ist monsieur Just, der Herr Vetter von dem Steinhofe – o, der Vetter Just, o, und es ist sehr gut, dass Sie an unserer Tür haben einander vorgestellt den Herrn Fürsten und den Herrn Vetter. Wir hatten noch keine Gelegenheit dazu gehabt, denn Seine Durchlaucht waren verreist bis gestern.«
In dem Nebengemache war das leise, klagende Gewimmer wieder still geworden, und der Vetter Just setzte sich wieder zu uns. Es war gegen sechs Uhr am Nachmittage und die Sonne eben dem Untergange nahe. Der Vetter seufzte schwer und gab wortlos der alten sœur ignorantine die Hand. Mademoiselle ließ die Schuhe von den Füßen fallen und ging auf den Strümpfen zu der Tür des Nebenzimmers, kam zurück und fragte:
»Schläft sie auch? Sie hat den Kopf mit auf das Kissen gelegt.«
»Weiß nicht«, sagte der Vetter kaum hörbar. »Ich wollte es wohl, aber ich glaube es nicht. Sie horcht nur.«
Wir horchten alle; dann ging Mademoiselle mit ihren Pantoffeln in der Hand von neuem ihren Haushaltungsgeschäften nach, und in der immer mehr über uns hinsinkenden Dämmerung waren jetzt Just Everstein und ich wieder für eine Zeit allein einander gegenüber gelassen.
»Es kann noch Stunden dauern. Ich kenne das leider nur zu genau aus mancher Ansiedlerhütte drüben, jenseits des Atlantic. Wir hatten dort immer nur Kalomel und wieder Kalomel; aber es ist egal, denn es bleibt immer dasselbe, hier und im Hinterwalde. Die Mütter legen dann immer ihren Kopf mit auf das Kissen«, sagte der gelehrte Bauer vom Steinhofe. »Sie machen auch die Augen zu, und wer sonst dabeisitzt, kann nichts tun als stille sein. Wolltest du etwas sagen, Fritz?«
Ich hatte nur einen etwas tieferen Atemzug getan, und so fuhr gottlob der Vetter fort.
»Man sitzt da still, wenn das Kind sterben will und die Mutter weiterlebt, und hat doch Zeit, an allerlei anderes zu denken. Von den größten und wirklichsten Wundern spricht, schreibt und druckt kein Mensch und kein Evangelium! Dies ist nun so eine Stunde, in der man mancher Angelegenheit, welche man sonst nicht so leicht anrühren würde, freimütiger auf den Grund geht, weil alles rundum ernst genug dazu aussieht und selbst der Misstrauischste nicht an pure Neugier oder albernen, überflüssigen Vorwitz denkt. Fritz Langreuter, unsere Eva Sixtus hatte dich einmal sehr gern. Weshalb hast du das nicht merken wollen?«
Es schwamm mir vor den Augen, die heißesten Blutwellen drängten sich nach dem Herzen und Hirn, es hämmerte sinnbetäubend; der Boden schwankte unter mir.
»Mich?… Ich?!« stammelte ich, und der Vetter Just ergriff meine Hand und hielt sie während des Folgenden in der seinigen fest.
»Natürlich!« murmelte er. »Er fragt! Er weiß gar nichts! O, wenn ich nur wüsste, wo ihr Menschenkinder in der besten Zeit eures Lebens eure Augen und Ohren hattet!… Dich hatte sie lieb!«…
»Mich?« wiederholte ich durch eine See von Wonne und – Angst, nach einem unbekannten, noch unsichtbaren Ufer mich durchringend.
»Wen denn anders?« fragte der gelehrte Bauer vom Steinhofe, und ich fühlte, wie seine Hand dabei erzitterte; und meine Angst, die tödliche Angst in mir, hatte darin ihren Grund, dass ich wusste, was dieses Zittern bedeutete.
O Vetter Just! Vetter Just!
Als ob er mit einem anderen spräche, den Blick in die Weite gerichtet, fuhr Just Everstein fort:
»Da saß ich, der dumme, übergeschnappte Bauernjunge, umso manches Jahr älter als ihr, unter der Obhut und Vormundschaft von Jule Grote, zwischen meinen Düngerhaufen und Ackerfeldern, Wiese und