Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.zum Überdruss geworden, und ich hatte niemals in meinem Dasein über so viele leere, beschäftigungslose Stunden bei Tage und bei Nacht zu verfügen als wie jetzt. Und merkwürdig! Was in den Klassikern sämtlicher Nationen, sowohl der alten wie der neuen, über das Schloss Werden, den Steinhof, den Vetter Just und – Eva Sixtus stand, konnte ich durchaus nicht gebrauchen! Es stand wohl manches darüber drin; aber dann bezog sich dieses doch wieder so deutlich auf andere ganz bestimmte Leute und Verhältnisse, dass mir nicht im geringsten dadurch über eine melancholische Stunde hinweggeholfen wurde.
Sie sprachen wohl wahr, diese großen Poeten, in gebundener und ungebundener Rede; aber sie redeten doch allesamt nur in ihren Tag hinein und nicht in den meinigen. Dicht neben meinen mittelalterlichen Geschichtsquellen waren sie’s – die Quellen reinster Erdenschönheit und Wahrheit, denen ich am vorsichtigsten aus dem Wege zu gehen hatte, weil – – ich finde eigentlich keinen richtigen Ausdruck für das, was sie mir antaten. Jedenfalls sprachen sie mich nicht zu Ruhe, wenn sie mich nicht langweilten. Eine Bilderfibel aus meinen Kinderjahren hätte sie mir doppelt und dreifach aufgewogen. Für das fabulose Haupt- und Lieblingsbuch des Vaters Sixtus, für des Signors Gregorio Leti Leben des Papstes Sixtus des Fünften, hätte ich in jenen Tagen ganze Schatzkammern voll wirklicher literarischer Schätze unbesehen hingegeben. Es musste freilich aber das Exemplar aus dem Försterhause im Dorfe Werden sein.
Da half ich mir denn auf eine andere Art. Der hat noch nie gelesen, der nie in solchen Stimmungen das wieder las, was ihm in seiner seligen Jugend, wenn es in seinen Händen ertappt wurde, als »das dümmste Zeug auf Gottes Erdboden« um die Ohren geschlagen wurde!
Gottes Segen über das Lesefutter der großen Menge und der Jugend! Heil und Segen denen Lieferanten, die heute in dieser Hinsicht für jene sorgen, welche nach einem Menschenalter alt, enttäuscht, krank und verdrossen sein werden!
Verdrossen in sehr hohem Maße griff ich jetzt von neuem nach dem, was ich mit so unendlichem Vergnügen verschlungen hatte, als ich noch jung war und noch nichts wusste von aller Welt Verständigkeit und Kritik. Die gewöhnlichsten Produkte jener Art, die das Bekannteste, aber auch ewig Gültige in der abgeschmacktesten Verzerrung bringt, – die alten, drolligen, pathetisch-lächerlichen Geschichten von Eduard und Kunigunde in all ihren kuriosen Variationen, das war jetzt etwas für den Doktor Friedrich Langreuter! Diese schlecht gedruckte und noch schlechter stilisierte Abenteuerlichkeit in Original und Übersetzung, der süße, haarsträubende, heitere, tränenreiche Unsinn, in den die Fliederlaube hineingerauscht und -geduftet hatte, über den voreinst der Baum seine roten und weißen Blüten schüttelte, den die Vögel mit ihren Stimmchen akkompagnierten, über den die weißen Sommerwolken im Himmelblau hinsegelten, von dem einen der Schulmeister aufscheuchte und in die lateinische Stunde trieb: das ließ sich jetzt wieder in den halbvermoderten, abgegriffenen, übelduftenden, durch tausend und aber tausend Hände gelaufenen Bänden nach seinem unveränderlichen Verdienst würdigen von dem obengenannten Doktor der Philosophie Friedrich Langreuter!
Da saß der alte Bursche und las wieder, wenn man das überhaupt lesen nennen konnte. Es genügte eigentlich schon, die guten alten Bekannten in Pappband mit Lederrücken und -ecken in der Tasche nach Hause getragen und das Titelblatt aufgeschlagen zu haben. Was war alle klassische Plastik und ästhetische Wahrheit gegen die Lebendigkeit, mit der sich hier die Karikatur bei der bloßen Berührung in der Erinnerung füllte? Ach, es waren ja eben nicht bloß Kunigunde und Eduard mit all ihrer Verwandtschaft in auf- und absteigender Linie, was hier wieder zu etwas wurde, was lachen, jauchzen, weinen, sich hinter dem Ohre kratzen, vor Wut außer sich geraten und vor Bekümmernis und Reue sich in den Winkel verkriechen konnte!
Was hatten Schloss Werden und der Steinhof und die Gärten, Wiesen, Felder und Wälder ringsum mit den unmöglichen Schlössern, Bauersitzen, Försterhäusern, Wäldern, Feldern, Wiesen und Gärten dieser närrischen Bücher gemein? Was der gelbe ehrliche Fluss, der durch unsere Jugendwelt rauschte, mit den so absonderlich prachtvoll blitzenden Wassern, in denen sich dann und wann die lustig-tragischen und trübselig-komischen Gestalten und Bilder dieser wundervollen Autoren spiegelten?
Alles! –
Es ist immer eines und dasselbe, dieses unergründliche Meer der Fantasie, auf das der bedrückte Mensch stets von neuem von dem nüchternen, grämlichen Ufer der Wirklichkeit hinaussteuert! Es ist immer derselbe Wind in den Segeln!
Wehe dem, der niemals die grauen vier Wände um sich her mit diesem flimmernden, über die Stunde wegtäuschenden, segensreichen Lichtglanz überkleiden konnte!
Was ist die nichtige dumme Phrase: Mein Haus ist meine Burg! gegen die so sehr unpolitische, so selten ausgesprochene und doch so tief und fest, ja manchmal mit der Angst der Verzweiflung im Herzen festgehaltene Überzeugung:
Mein Luftschloss ist mein Haus!
So saß ich damals, nachdem wir das kleine Mädchen der Frau Irene begraben hatten und der Vetter Just ganz beiläufig mir den Namen und die Gestalt und die Stimme der lieben Eva Sixtus in die Erinnerung zurückgerufen hatte; und da ich nicht mehr neue Luftschlösser in die ziehenden weißen und rosigen Wolken, in das Himmelblau, in den Regenhimmel zu bauen vermochte, so – kramte ich unter den Trümmern der versunkenen und passte aneinander, was auseinandergefallen war, und richtete wieder auf – geradeso in der Einbildung wie vor Jahren, doch leider nicht mehr so fest wie damals. Es war schon lange die Zeit für mich da, wo der Mensch einzig und allein auf den Riegel an seiner Tür als den besten Wächter vor seinen guten Augenblicken, Stunden und Tagen angewiesen ist. Tagen?!… Wer kann, wenn er diese Epoche seines Daseins erreicht hat, den Riegel einen Tag lang vorgeschoben halten, um versunkene Luftschlösser wiederaufzubauen?
Die Juniuswinde hatten bereits das Korn in das Land hineingeweht, als »Thomas Thyrnau« oder vielleicht auch »St. Roche« oder »Jakob van der Nees« das Buch hieß, das auf meinem Tische unaufgeschlagen lag. Jedenfalls aber war es ein Produkt der Verfasserin von »Godwie Castle«, und die Mädchen, Irene von Everstein und Eva Sixtus, hatten einst in dem Gartensaale von Schloss Werden die heißen Köpfe darüber zusammengesteckt und die tränenvollen Augen verstohlen darüber getrocknet. Und ich hatte das Ding dann auch in meiner Kammer verschlungen, und Freund Ewald hatte sich in gewohnter Unverschämtheit nicht nur über das Buch, sondern auch über uns drei ins alte romantische Land