Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.im Leben hatte er sich an einem Reiseziel in solcher Gesellschaft gefunden. Seine besten Bekannten von der Festtafel neulich hätten ihn in ihr wohl schwerlich wiedererkannt. Und was für eine Antwort würde er wohl bekommen haben auf die Frage aus ihr heraus:
»Liebster Freund, haben Sie auch einmal nackt vor dem furchtbaren Geheimnis des Selbstbewusstseins gestanden? Und wenn – wie verhielten Sie sich ihm gegenüber?«
Da lehnte er in der warmen Abenddämmerung am Fenster, alle seine Kinderspielplätze unter und um sich! Da der Torbogen mit dem letzten Turm der alten Stadtummauerung – über den Hausdächern die grünen, doch schon in der ersten Herbst-Abenddämmerung versinkenden Berggipfel! Die Stadtbewohner und -bewohnerinnen vor den Haustüren, die Mägde am Brunnen, die Kinder im letzten Spiel vor dem Schlafengehen – alles, wie es gewesen war vor zwei Menschenaltern, wohlerhalten wie Vineta unter dem Wasser – dass der greise Herr des Messers, der Sägen und Zangen, des Blutes und des Eiters das alles durch Tränen gesehen habe, soll hiermit nicht gesagt sein. –
»Du da, bin auch da! Auch du da?«
Wer war’s, der so fragte?
Die Glocke vom Turm der Stadtkirche, die acht schlug.
Aus welcher Zeit kam grade jetzt die klagende Stimme wieder her:
»O, das schöne Wetter, und mein Kind nicht mehr dabei!« –?
Doch mit ihr das hohe Wort:
»Was ich besitze, seh ich wie im Weiten,
Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.«
*
Es klopfte an der Tür, man legte dem Gast von Altershausen das Fremdenbuch vor, und er lud, wie er glaubte vollberechtigt, das Polizeivergehen der Falschmeldung auf sich. Da ihn neulich die europäische Kollegenschaft zu ihren »Großen« in ihren schönverzierten, vielsprachigen Zuschriften gerechnet hatte, so machte er jetzt Gebrauch von der Ehrung, zählte sich selber zu den »Großen der Erde« und blieb, vom Thron herniedergestiegen, zu ebener Erde inkognito in der Heimat – wenigstens für die Nacht und den nächsten Tag. Er musste ja aber auch erst in Erfahrung bringen, wer noch vorhanden war am Orte, der mehr wusste von Fritze Feyerabend, als von dem rund um die Welt berühmten gelehrten Kronenträger der Heilkunde, dem Wirklichen Geheimen Obermedizinalrat Professor Doktor Feyerabend! –
Wie er sich für Jung-Altershausen ins Buch eintrug, mag der Allgemeinen deutschen Biografie vorenthalten bleiben. Er speiste auf seinem Zimmer, und es fiel nur auf, dass er sich den Hausknecht Tönnies zu einer längeren Verhandlung dorthin kommen ließ. Ausgefragt, zuckte dieser nur die Achseln und gab seine Meinung dahin ab:
»Hei is nur ’n snurrigen Patron. Späte bi Nacht will hei noch mal ut, un ick schall um ihn upsitten blieben. Dat he Böses im Sinne hett, glöwe ick nich, Herr Nothnagel. Hei is wohl blot so’n kuriosen Kerel, so’n Liebhaber davon, de unse Stadt bi Maanschiin seihn will. Wi hebbet jawohl schon von dei Sorte hier ’ehatt. Na, wenn hei immer so utgivvt wie vorhin bi usem Ludchen, kann man ihm ja schon den Gefallen dhaun.« –
Dabei beruhigte selbstverständlich sich der Ratskeller. Geheimrat Feyerabend ließ alle, bis auf Tönnies, zu Bette gehen, und da er der einzige Fremde im Hause war und als Abendgäste nur die ältesten, würdigsten, nüchternsten Stadtbewohner verkehrten, so hatte er gegen eilf Uhr bereits die Welt hier für sich allein.
Merkwürdigerweise trat er, ehe er auf die Abenteuer dieser Nacht ausging, erst mit dem Licht in der Hand vor den Spiegel und hätte vielleicht selber nicht zu sagen gewusst, weshalb.
Ja, er war es noch! Er – war noch!
Dieselbe Gewissheit gab ihm ein mehrmaliges festes Auf- und Abschreiten im Zimmer, bevor er Hut und Stock nahm, seine mitternächtige Geisterbeschwörung zu beginnen.
»Dat hei wo einbräken will, glöwe ick nich«, brummte Tönnies, der Hausknecht, die Tür des Ratskellers hinter ihm verriegelnd. »So ’ne olle Kruke solle et aber doch wetten, dat de Minsche et bi Nachte im Bedde am besten hett.« –
Im letzten Viertel stand der Mond am Himmel, dabei war’s sternenklar und windstill und, da die Hundstage des Jahrs doch noch nicht allzu lange der Ewigkeit in den Schoß gesunken waren, sozusagen eine Nacht, wie Schwester Karoline sie nicht günstiger für »wieder diesen verrückten Einfall« des Bruders beim lieben Herrgott hätte bestellen können.
»Hätte ich sie doch bei mir, die gute alte Seele!« sagte ihr »ganz Geheimer«, von der Treppe des Ratskellers von Altershausen über den Markt in der magischen Dämmerung nach dem Elternhause hinüberblickend. –
Nun wandelte er wie auf Flaum, stieg die Treppe hinunter und aus dem einundsiebenzigsten Lebensjahr zurück in das zwölfte: wie wenn Schweizerhauptmann Johann von Salis-Seewis um ein schönes Nachtgedicht aus der heißen Wachtstube zu Versailles zu den kühlen Schatten, dem Mondschein, den rauschenden Wassern, singenden Vögeln und weißen Marmorbildern des schönsten Gartens Europas niedergestiegen wäre. Beiläufig ein nettes Bild, dem Traumwandler, der gegebenen Stunde und dem Markt von Altershausen gerecht zu werden!
Nicht stolpern auf den unter den alten Füßen redenden Steinen, Herr Wirklicher Geheimer Medizinalrat! Langsam, langsam und mit Bedacht durch die zur Gegenwart gewordene Vergangenheit, Herr Doktor! Das Kind noch dabei, Fritze!
… … … … … … … … …
Langsam, bedachtsam den Markt entlang bis vor das Elternhaus, dann langsamer, bedachtsamer weiter bis zu dem Torbogen des sechzehnten Jahrhunderts, doch nicht unter ihm durch auf die zwischen den Gärten den Berg hinanführende, auch in dem matten Mondesschimmer weit hinaufleuchte weiße Landstraße! Man hat nicht umsonst als ein exakter Mensch sein Leben hingebracht: man weiß sich zu bescheiden und sich und das Seinige zusammenzuhalten, auch in den Geisterstunden des Erdendaseins. Die Vergangenheit da draußen vor den Toren von Altershausen als Gegenwart sich wiederzuholen, hatte der Greis die Sonne des morgenden Tages nötig. Im vollen Tageslicht musste das liegen, um Fritze Feyerabends Jubiläumsbesuch bei Ludchen Bock gerecht zu werden und damit der Wirkliche Geheime – nein, damit Bruder Fritz auch der alten Schwester daheim davon erzählen konnte!
Was er jetzt suchte, ließ sich im Dunkeln finden. Er berührte Hausmauern, Gartenplanken, Türpfosten, ja sogar auch Türschlösser, soweit die Rückerinnerungen und die Hand reichten. Er stand an Gassenecken und guckte in Winkel, wo es ohne die Sonne für ihn licht wurde, wo für ihn