Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.Greisengesicht und ihn an der einen in die Höhe und am Handgelenk wie vor sechzig Jahren mit sich.
»Komm, ich bringe dich zu deinem Minchen, und sie vergibt dir noch einmal – was andere an dir gesündigt haben, armer Tropf!«
Die letzten Worte hatte Fritz Feyerabend nur zu sich selber gesprochen.
»Der Herre, dem ich seine Sachen nach dem Keller getragen habe?« murmelte Ludchen Bock.
»Fritze Feyerabend aus Altershausen!«…
Der Traum als Wirklichkeit war jetzt vollständig. Es fehlte für zehn Minuten nichts mehr dem Mann aus der großen Welt, was vordem ihm einmal gewesen war! Er war Kind mit dem Kinde, Idiot mit dem Idioten: Schulen, Universitäten, Lehrsäle, in denen man selber vom Katheder sprach, Land und See, alle Weisheiten, Herrlichkeiten und Königreiche dieser Erde, die großen Herren und die großen Menschen darin, alle trônes, principautés, archanges, séraphins et chérubins Schöpfers Himmels und der Erden, wie das alles im Selbstbewusstsein eines Gebildeten längeren irdischen Daseins Inhalt ausmacht und Formen bedingt – weggewischt! Nichts übrig als zwei Jungen auf dem Wege nach Hause – beide mit dem Gefühl, sich verspätet zu haben!…
Und wie vor alter Zeit so häufig, ging Friedrich Feyerabend wieder unter Ludwig Bocks Führung. Er wollte in die Gasse biegen, die von Mordmanns Hofe aus am nächsten zu den Elternhäusern führte; aber Ludchen bog nicht rechts, sondern links um die Planke, und es war ja richtig: er musste in dieser hellen Nacht doch am besten Bescheid wissen in Altershausen! Ja, da lief der Gartenweg noch in der Mond- und Zauberdämmerung wie vordem, als ob jeder Busch und Baum, jede Hecke und jeder Zaun an Ort und Stelle geblieben wären und nicht sechzig Jahre hingegangen wären, Weltgeschichte gemacht und »epochemachende Veränderungen« verursacht hätten!
Aber je bekannter dem am Ort Fremdgewordenen die Wege unter den Füßen wurden – immer wieder der Geruch! Wahrhaftig sind es nicht die Sinne des Sehens, Hörens, Schmeckens und Fühlens, was einem den Ortssinn und das Heimatsgefühl schärft: die Nase ist, die da sagt: ja, geh nur mir nach! so roch es hier, und so wird’s hier riechen. Heute kommst du mit mir nach zwei Menschenaltern, bringe mich nach zwanzig wieder zur Stelle und hole mich dir voll, wenn das Nest noch steht. Einerlei, ob es Altershausen, Rom oder Berlin heißt! Einerlei, ob du abgelegt wurdest hinter der Hecke unter einem Heuschober oder in Windeln gelegt in den Wonneburgen der Walchen. –
Jetzt bog aus dem Gartenwege der Pfad wieder in eine Gasse ein, die gegen die Stadtmauer zu führte. Deren Bewohner schliefen alle hinter den dunkeln Fenstern in den kleinen Häusern; nur vom äußersten Ende her flimmerte eine Lampe, und Ludchen Bock hielt an und hielt auch den Begleiter am Rockschoss fest und winselte mit weinerlicher Kinderstimme:
»Da hat sie noch Licht! O Gotte, Gotte, wenn ich doch zu Bette wäre und sie auch! Und ich bringe ihr doch immer alles ehrlich, was mir die Leute schenken – einen Nickel, zwanzig Pfennige, fünfzig Pfennige. Was brauchte mir der fremde Herre das viele Geld zu geben? Sie hält mich doch sonst reinlich im Zeuge und lässt mir nichts abgehen morgens, mittags und abends; und den Taler musste ich ja doch in der Hand in Beckers Garten den anderen Großen zeigen, denn sie haben ihn ja alle sehen wollen und nachher mit mir anstoßen wollen, bis sie sagten: ›Nu, Junge, steht sie aber mit dem Stock hinter der Tür, und Ritterbusch hat schon lange gerufen.‹ Ich hätte ja schon längst zu Bette gemocht; aber dass sie lachten: ›Nu weint er wieder!‹, das konnte ich mir doch nicht bieten lassen von ihnen, da ich grade so viele Kraft habe als einer von ihnen. Und wenn mir Becker nicht zugeredet hätte, so säße ich noch bei ihm – vor der Polizei und dem Herrn Bürgermeister habe ich mich nicht gefürchtet! O Gott, wenn ich nur im Bette wäre und ihr alles gesagt hätte! Da sitzt sie und hat allein noch Licht in ganz Altershausen!… Gute Nacht, Fritze!«
Der Wirkliche Geheime Medizinalrat Professor Dr. Feyerabend wäre nicht auch ein berühmter Seelenarzt gewesen, wenn er nicht den letzten Ausruf in seine Erfahrungen hätte einreihen können. Er lief dem armen, greisen, blöden Freunde nicht nach, dem Lichtschein am Ende des Gässchens zu.
»Gute Nacht, Ludchen!« sagte er nur gerührt und ging langsam dem Davonlaufenden nach, blieb auch im Schatten der Nacht und Hauswände und suchte nur von ferne zu erfahren, wer für den Freund da wach blieb in Liebe und Sorgen und auf den Greis wartete wie eine Mutter auf ihr Kind. Der Lichtschein fiel jetzt nicht mehr aus dem Fenster, sondern aus der engen, niedern Tür des kleinen Häuschens an der Stadtmauer. Es war ebenfalls eine Greisin, welche die Hand vor die im ersten leisen Morgenwehen flackernde Lampe hielt. Was dort gesprochen wurde, verstand Geheimrat Feyerabend nicht; aber schrill und keifend war die Stimme nicht, die dem armen Sünder, Ludchen Bock, jetzt beim Zu-spät-nach-Hause-Kommen den Text las. Er hörte nur das Kind von Altershausen nur noch mal schluchzen, ehe es ins Haus gezogen wurde und die Tür sich hinter ihm schloss. »Zu unserer Zeit ging’s bei den Müttern – und schon nach neune! – lauter her als da bei seinem Minchen«, murmelte Fritz Feyerabend auf seinem Rückwege nach dem Ratskeller. »Wer mag sie sein aus unserer Zeit, die hier heute nach sechzig Jahren an dem armen Alten des Weibes Beruf zum Kinderwarten so in Treue und Güte pflegt?«
IX.
Tönnies, der Hausknecht im Stadtkeller, war so gut gewesen wie sein Glaube an die Trinkgeldbefähigung des »schnurrigen fremden Herrn von gestern Abend«. Er war wach und ließ auf das erste Glockenzeichen den Gast, der sich »Altershausen bei Dunkelm besehen wollte«, ein. Er leuchtete ihm auch zu seinem Zimmer hinauf, sah sich einen Augenblick drin um und brummte: »Es wird jawohl alles in Ordnung sein?«, wünschte eine gutschlafende Nacht, und Geheimrat Feyerabend entließ ihn, ohne ihn zu benachrichtigen, dass er – Fritze Feyerabend aus Altershausen – wahrscheinlich noch allerlei Besuch bekommen werde.
Der kam; aber Tönnies brauchte seinetwegen nicht an der Haustür zu warten und seinerseits wach zu bleiben.
Ein gut Stück Weltgeschichte machte dem Doktor Feyerabend seine Aufwartung in dieser Nacht. Bei der Umschau nach dem Stiefelknecht, vor dem Einschlafen, im Traum und in das hindämmernde langsame Erwachen zu der geschichtlichen Gegenwart von Altershausen hinein: seines Volkes Schicksal, wie er es mitatmend miterleben durfte und musste seit zwei Menschenaltern, ja seit der Stunde, in welcher er aus einem besseren Jenseits in ein zweifelvolles Hier mit steigender Verwunderung sich versetzt fand!
In aller möglichen Weise kam es an ihn heran in diesem Ratskeller seiner Kindheitsstadt; und einer der ersten, die wiederkamen, war der merkwürdige Besuch im Jahre 1873, der dem damaligen Professor Feyerabend seine Karte hereinschickte mit dem Mädchennamen seiner Großmutter