Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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von Lud­chen Bock hier­her ge­tra­gen, um im Al­ters­hau­se­ner Rats­kel­ler im Traum deut­sche Ge­schich­te zu trei­ben?« Und mit ei­nem mür­ri­schen »Dum­mes Zeug!« ließ er sein Haupt wie­der auf das Kopf­kis­sen zu­rück­fal­len und ver­schlief die Zahl sie­ben­zig vom Al­ters­hau­se­ner Kirch­turm völ­lig. – – –

      Die Son­ne des ge­gen­wär­ti­gen Ta­ges schi­en hell durch die Fens­ter­vor­hän­ge, als er wie­der im Bett sich auf­rich­te­te und hin­saß, aber nicht mit den Ka­the­der­ge­dan­ken ei­nes Pro­fes­sors der Phi­lo­so­phie der Ge­schich­te, son­dern mit dem Stop­pel­kinn in der Hand und dem Ge­dan­ken an sei­nen Bar­bier da­heim und – den »Ra­seur« sei­nes Va­ters dort in dem Hau­se am Markt vor sech­zig Jah­ren!

      Was be­deu­te­te ihm in die­sem Au­gen­blick all sein welt­be­deu­ten­des Nacht­ge­träu­me ge­gen den Bar­bier – den Ra­seur sei­nes Va­ters, Herrn Ge­or­ge?…

      »Herr Ge­or­ge!« mur­mel­te er. Die »Bär­te wal­lend von zwei Span­nen Län­ge«, die Gia­co­mo Leo­par­di sei­nem Freun­de, dem Mar­che­se Gino Cap­po­ni, im Jah­re 1836 als höchs­te, edels­te und er­sehn­tes­te Frucht des lau­fen­den Sä­ku­lums ver­spro­chen hat­te, hat­te er er­lebt, hat­te sie auf den Ge­sich­tern der Mann­heit sei­ner Zeit­ge­nos­sen sprie­ßen, wach­sen und zum Wal­de wer­den se­hen und – ließ sich am Ende des Jahr­hun­derts »ra­sie­ren« wie sein se­li­ger Va­ter, dort im Hau­se am Markt, im Jahr 1840.

      »Der Bar­bier?« frag­te der Kell­ner. »Wer­de so­fort nach Ge­or­ge schi­cken«, sag­te er, und dem Ge­heim­rat am Früh­stücks­tisch blieb der Bis­sen des Bro­tes, das er seit sech­zig Jah­ren nicht ge­kos­tet und un­ver­än­dert wie­der­ge­fun­den hat­te, fast im Hal­se ste­cken.

      »Nach Ge­or­ge?« stam­mel­te er: hat­te mit dem Brot sei­nes Va­ter­hau­ses auch der Bar­bier sei­nes Va­ters hier auf ihn ge­war­tet, wäh­rend er, zwei Men­schen­al­ter hin­durch, drau­ßen be­schäf­tigt ge­we­sen war?

      Er hat­te den Kell­ner, nein, den »Mar­queur« sei­nes Va­ters mit ei­ner Hand­be­we­gung nach dem Re­ven­ant weg­ge­schickt und schritt nun, den Traum der Nacht eben­falls noch spuk­haft im Ge­dächt­nis, im son­nen­hel­len Zim­mer auf und ab. Von dem Markt drang das fro­he Mor­gen­le­ben mit all sei­nen Tö­nen, all sei­nen Gerü­chen in die of­fe­nen Fens­ter. Von der Wand über dem Sofa blick­te das Bild des nun längst höchst­se­li­gen Lan­des­va­ters, der sei­nes se­li­gen Va­ters An­stel­lungs­pa­ten­te zu un­ter­schrei­ben hat­te, auf ihn her­ab. Wie lan­ge schon wur­de die­se Li­tho­gra­fie die­ses jun­gen mi­li­tä­ri­schen Herrn mit dem Fe­der­hut im Arm als eine pa­trio­ti­sche Ra­ri­tät ge­sucht und über ih­ren Wert be­zahlt! Und wie ge­hör­te die­se ver­schol­le­ne Ho­heit von vor sech­zig Jah­ren mit al­lem, was von Welt­ge­schich­te an ihr hing, in die jet­zi­ge Mor­gen­stim­mung des al­ten Al­ters­hau­se­ner Kin­des, Ge­heim­rats Dr. Fried­rich Feyer­abend!

      So hat­te sie von der Wand im Va­ter­hau­se wohl­wol­lend her­ab­ge­se­hen, wenn die Mel­dung kam:

      »Der Bar­bier, Va­ter. Herr Ge­or­ge ist da.«

      »He­rein mit ihm! Na­tür­lich wie­der fünf Mi­nu­ten zu spät. Aber, Herr Ge­or­ge?«

      »Der Bar­bier, Herr Dok­tor!« mel­de­te der Kell­ner im Rats­kel­ler zu Al­ters­hau­sen, und Wirk­li­cher Ge­heim­rat Pro­fes­sor Dr. Feyer­abend brumm­te nicht lä­chelnd wie sein se­li­ger Va­ter, son­dern stot­ter­te nur:

      »He­rein denn!«

      Wie in ei­nem der welt­ge­schicht­li­chen Er­leb­nis­se aus den Träu­men der ver­gan­ge­nen Nacht saß er nun an sei­nem hel­len Früh­stücks­tisch dem Ge­bil­de, das sich jetzt wie­der aus dem Ne­bel der Ver­gan­gen­heit ent­wi­ckeln soll­te, ge­gen­über und sah ihm ent­ge­gen.

      »Na, was gibt es Neu­es in Al­ters­hau­sen, Herr Ge­or­ge?« hör­te er sei­nen Va­ter fra­gen, und – »Ei­nen Au­gen­blick, Herr Ge­or­ge, ich bin so­fort zu Ih­rer Ver­fü­gung«, sag­te er sel­ber, kopf­schüt­telnd, aber lä­chelnd und al­ler sei­ner See­len­kräf­te be­hag­lichst mäch­tig. Neun schlug’s auf dem Kirch­turm von Al­ters­hau­sen: was ging es Frit­ze Feyer­abend auf Be­such bei Lud­chen Bock nun noch an, wie sich die alte Schä­ke­rin von Stadt­uhr in die Welt­ge­schich­te und die Träu­me der Nacht ein­ge­mischt ha­ben moch­te? Aus den son­nen­hells­ten Mor­gen­stun­den des Va­ter­hau­ses lä­chel­te Wirk­li­cher Ge­heim­rat Feyer­abend:

      »Aber bit­te so be­hut­sam wie Ihr Herr Groß­va­ter, Herr Ge­or­ge. Nicht schnei­den!«

      Es war wohl nicht zum Ver­wun­dern, dass der jun­ge Mann mit dem Scher­beu­tel bei die­ser Mah­nung auf­sah und den frem­den Herrn im Rats­kel­ler et­was be­trof­fen an. Sie muss­ten erst eine Wei­le mit sich al­lein ge­las­sen wor­den sein, der alte Me­di­zi­nal­rat und der jun­ge Bar­bier, ehe sie sich so nahe ka­men, wie es un­be­dingt not­wen­dig war zu un­blu­ti­ger Men­sur.

      Nun war der Kell­ner ge­gan­gen, Meis­ter Ge­or­ge der Jün­ge­re schlug sei­nen Schaum, und Ge­heim­rat Feyer­abend, mit der Ser­vi­et­te un­ter dem Kinn und zu­rück­ge­leg­tem Hals und Kop­fe, hör­te sei­nen Va­ter fra­gen und frag­te ihm nach.

      »Na, was gib­t’s heu­te Neu­es in Al­ters­hau­sen, Herr Ge­or­ge?«

      Wenn er’s aber drauf an­ge­legt hät­te, von dem zeit­ge­nös­si­schen Scher­mes­ser ge­schnit­ten zu wer­den, so hät­te er das ge­wiss nicht be­dacht­sa­mer be­werk­stel­li­gen kön­nen als durch sol­che Un­ter­hal­tung.

      »Der – Herr, Herr Dok­tor scher­zen wohl nur. Was – was soll­te – man hier, hier – am Orte viel er­le­ben kön­nen?« stot­ter­te das jün­ge­re Ge­s­penst, dem äl­te­ren die Sei­fe um Kinn und Wan­gen le­gend.

      »Ihr se­li­ger Groß­va­ter wuss­te im­mer was, lie­ber Freund. Hat sich Al­ters­hau­sen seit sei­ner – mei­ner Zeit so hier­in ver­än­dert?«

      »Sei­ner – des – Herrn Dok­tors Zeit? Hat mein Groß­va­ter –«

      »Ein­ge­seift und bar­biert hat mich der se­li­ge alte Herr zwar nicht; aber er war ein sehr gu­ter Be­kann­ter von mir – zum Don­ner auch!«

      Den Schnitt in die Ba­cke hat­te der große, sei­ner See­len- und Kör­per­kun­de we­gen so be­rühm­te Un­be­kann­te im Rats­kel­ler zu Al­ters­hau­sen nur sich sel­ber zu­zu­schrei­ben. In ei­gens­ten An­ge­le­gen­hei­ten von Kör­per und See­le wis­sen auch die be­deu­tends­ten Ärz­te nicht für sich Be­scheid. Mit ei­nem »Na, na, aber Herr Wirk­li­cher Ge­heim­rat!« wür­de schon der Stadt­phy­si­kus von Al­ters­hau­sen den Kopf ge­schüt­telt ha­ben.

      »Bit­te tau­send­mal um Ver­zei­hung!« stot­ter­te Herr Ge­or­ge von heu­te. »Ein biss­chen Heft­pflas­ter – es pas­siert mir ja nie – aber der Herr Dok­tor sag­ten – der Herr Dok­tor ha­ben mei­nen se­li­gen Groß­va­ter ge­kannt – ha­ben sich von mei­nem Groß­va­ter bar­bie­ren las­sen?«

      »Mein se­li­ger Va­ter un­ter den Hän­den Ihres Groß­va­ters leg­te Zun­der auf; was aber Ihre Fra­ge an­be­trifft, Herr Ge­or­ge, so fra­ge ich: Kön­nen Sie auch wie Ihr Groß­va­ter schwei­gen, jun­ger Freund?… Sie kön­nen es? Gut! Dann las­sen Sie uns un­se­re Un­ter­hal­tung ru­hig mit­ein­an­der fort­set­zen und tun Sie der­wei­len


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