Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.jenen Zeiten, aus langer, langer Zeit finden lassen.
»Bei Herrn Priesterjan bin ich in die Schule gegangen.«
»Und beim Herrn Rektor ich und – Ludchen Bock! Damals hieß ich Fritz Feyerabend!«…
Er hatte oft in größer werdende Augen gesehen – lachende, weinende, gierige, giftige, der Herr Geheime Rat, aber nie in ähnliche wie jetzt hier. Er hatte manchmal Menschen auf dem Sitz hin und her rücken sehen, doch nie einen so wie nun. Er war es, der aufsprang; aber nicht um Strickzeug und Wollknäuel höflich vom Boden aufzuheben, sondern um die beiden alten, dürren, zuckenden Weiberhände in seine ebenso dürren, alten zu fassen und zu rufen:
»Ja, Minchen, es ist die Möglichkeit! So kommen Leute wieder zusammen. Wir beide sind es noch und – Ludchen Bock – und wenn meine Schwester Karoline – Linchen Feyerabend, weißt du – zu Hause dies wüsste: wie würde sie jetzt mit ihrer Seele hierbei sein und dich grüßen lassen – ja, Fräulein, und ich sage ja auch nur du, weil sie das auch sagen würde; aber – nun vernünftig: wie geht es Ihnen denn, Fräulein Minchen, und wie ist es Ihnen diese langen Jahre her ergangen?«
»O Herr – Herr, lieber Herr, ich weiß ja gar nicht –«
»Was Sie – was du sagen sollst. Natürlich! Eigentlich weiß ich es auch nicht: weißt du, wir wollen es ruhig als ein liebes Wunder nehmen und uns des Dinges freuen. Meinst du nicht auch?«
»O gewiss! gewiss! Aber – ich weiß nicht mal, wie ich dich – Sie nennen muss, lieber Herr!«
»Fritz heiße ich immer noch. Wie vor sechzig Jahren. Wenn es dir recht ist, hat sich zwischen uns beiden nicht das geringste dran verändert. Es ist dir doch recht?«
Jetzt konnte die Alte nur nicken. Sie schluchzte hinter ihrem Taschentuch, nickte aber heftig. Der Alte drückte sie sanft auf die Steinbank des Maienborns nieder, rückte ihr dicht an die Seite, und eine Weile saßen sie nun stumm nebeneinander.
Wer dann zuerst wieder das Wort nahm, war Fräulein Minchen.
»Bist du denn aber der, von dem letzterzeit so viel in den Zeitungen gestanden hat?«
»Ne!« sagte Geheimrat Professor Dr. Feyerabend. »Damit sollte ich zu Hause meiner Schwester Line kommen!… Und nun gar hier in Altershausen – heute – jetzt – hier am Maienborn, aus dem uns beide der Storch geholt hat? Ne, ne, ne, Kind! Damit komme du mir nicht. Ich gebe dir mein Wort darauf, der, von dem du im Blatte gelesen haben magst, bin ich nicht diesen Morgen hier am Maienborn mit diesem Rauschen und Brodeln unter den Füßen.«
»Wir haben Ihren Geburtstag hier auch gefeiert«, sagte Minchen Ahrens leise. »Ludchen – Ludchen Bock und ich.«
Da war der Name zum ersten Mal aus dem Munde, aus welchem der Geheimrat ihn schon längst gern von der Freundin gehört hätte.
»Ja, Freund Ludchen! Nenne mich aber nicht Sie, liebes Mädchen; es schickt sich sonst auch für mich nicht, dich du zu nennen, und ich komme aus einer Welt da hinter den Bergen, in welcher man recht sehr auf Schicklichkeit und Schicklichkeiten hält. Wie geht es ihm? und wo steckt er diesen Morgen? Schade, dass wir ihn jetzt nicht hier bei uns haben.«
»Ach, dort oben in den Tannen beim Schwämmesuchen. Steinpilze und Hahnenkämme. Es ist ja ihre Zeit jetzt und für ihn und mich eine wahre Gottesgabe; nämlich seiner Beschäftigung und Selbstzufriedenheit wegen. Er macht sich so gern nützlich, und dies ist so die richtige Beschäftigung für ihn. Sie – du – wenn Sie es denn wollen! – du wirst ihn ja gleich sehen und als großer Doktor wissen, wie es mit ihm ist. Ich habe diese Nacht wieder mal meine liebe Not mit ihm gehabt. Ein fremder Herr muss ihm für seine Hilfsleistungen, die er da immer hinter meinem Rücken gegen meinen Willen tut, mehr Geld als nötig gegeben haben, und da gibt es auch hier so schlechte Menschen, die ihr Vergnügen und ihr Spielzeug sich aus ihm machen.«
»Der fremde Herr bin leider ich gewesen, Minchen.«
»Sie?… Du – – – Fritz?«
Sie war zusammengefahren und etwas abgerückt; dann aber glitt ein umso zutraulicheres Lächeln über ihr Runzelgesicht, und sie meinte sogar leise lachend:
»Ja, das konnte ich auch nicht wissen! Und der arme Junge auch nicht! Aber vielleicht ist’s gut, dass wir es gestern Abend nicht gewusst haben; diese Nacht durch wäre ich gewiss nicht zum Schlafen gekommen. Ein Wunder übers andere. Nein, nein, nein, ist’s denn nicht genug, dass ich dieses alles heute Morgen in der hellichten Sonne in meinen alten Tagen so spät am Abend noch erleben soll und dran glauben muss?«
Er berichtete nun des Genaueren, wie das Wiederfinden des Freundes sich ihm gemacht hatte vom Bahnhofe bis zum Ratskeller und nachher in der Nacht am Brunnen vor Mordmanns Hause. Und dann, wie er sie, das Minchen Ahrens, auch nach so langer Zeit wiedergesehen habe – mit dem Licht in der Haustür.
Da rief sie zum ersten Mal: »O Fritz«, ohne anzufangen: »Herr Geheimrat« und nachher das zu verbessern.
»Es kommt ja leider öfter vor; aber so weinerlich wie heute Morgen war es doch selten. Weinen tut das Kind ja immer, wenn es sich an der schlimmen Welt gestoßen hat, aber diesmal wollte er seinen Kaffee nicht – auch noch so süß. Was ich sonst seiner Gesundheit wegen nicht tue – ich stellte ihm die Zuckerdose hin. Er wollte nichts! Ich habe ihm all sein Spielzeug gegeben und mir von ihm in der Küche helfen lassen, was sonst bei so was immer noch am besten hilft; aber diesmal hat es gar nichts geholfen. Da hab ich denn bei dem schönen Wetter das letzte gebraucht, um ihn wieder zu seiner Ruhe wegen seines bösen Gewissens zu bringen. Was soll man machen mit seiner Angst und seiner Ärgernis, wenn so ein armer Mensche nichts weiß, als einem seit sechzig Jahren wieder sagen, dass er nichts dafür kann, dass es die anderen, die Großen gewesen sind? Es passte mir heute eigentlich gar nicht, trotz der schönen Witterung. Man hat doch seine Wirtschaft; aber er tat mir zu leid, dass ich zuletzt doch gesagt habe: ›Komm, Ludchen, wisch dir die Tränen ab, ich will dir weisen, dass ich nicht mehr böse bin; nimm deinen Korb, wir gehen in die Schwämme, da kannst du viel mehr Geld für mich verdienen als auf deinem dummen Bahnhof mit unbekannten Leuten.‹«
»Mit unbekannten Leuten«, murmelte der Geheimrat vor sich hin.
»Da ist er nun jetzt da oben in den Tannen kindsvergnügt nach Steinpilzen und Hahnenkämmen aus und meint, er steckt mit allem, was er findet, ein Vermögen für mich in den Korb. Und das muss man ihm lassen, was die Natur anbetrifft, das Gewächse, die Vögel, alles Ungeziefer und die Jagd – da hat er nichts vergessen aus seiner Jungenszeit vor sechzig Jahren. Da hat er nach seinem Unglück noch zugelernt. Ach Gott, wie muss ich wehren, dass er mir nicht alles, was der Schöpfer in Wald und Feld gemacht hat, ins Haus schleppt und in die Kost gibt! Mit Güte und Überredung kommt man aber auch hier immer am leichtesten mit ihm zu einem Vergleich. Seine