Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.relegiert von der Georgia Augusta, unter«, hatte der wohlbehäbige, stattliche Deutsch-Amerikaner im Jahre dreiundsiebenzig gesagt. »Nun, die sieben gelehrten Thebaner, die mich damals in die Ungelegenheit brachten, sind ja auch ganz behaglich untergeschlupft und haben es nach vollendetem Martyrertum dem alten hannoverschen Engländer zum Trotz zu allerlei Ehren im durchlauchtigen Deutschen Bund gebracht und teilweise allerhand Dummheiten ausgehen lassen – noch neulich Anno sechsundsechzig. Reden wir nicht weiter davon, sondern lieber von deinen lieben Eltern und dir, Fritze. Jaja, auch dich haben die letzten Jahre bei uns aus einem Dutchman zu einem German gemacht und bringen mich heute zu diesem Altersbesuch im alten Lande.«
Und im Ratskeller zu Altershausen in Traumland saß Fritzchen Feyerabend wieder auf der Schulter des langen, um die Sieben relegierten Göttingers und ließ sich von ihm weisen, wie weit und offen die Welt rundum sei.
»Herunter mit dem Englishman! es leben Deutschlands Sieben –
Klinge Lied und klinge Pokal!
Es leben die Sieben, die treffliche Zahl!
Sieben der Wissenschaft tüchtigste Kenner,
Sieben Demanten im Wappen der Männer!«
klang es aus längst vergangenem Sonnenschein und Wäldergrün von jenem jetzt im Nachtnebel versunkenen Berggipfel hinein in das beste Gastzimmer des Ratskellers von Altershausen, und –
»Da, Junge, guck! Das bombardieren sie heute«, sagte eine andere Stimme, und ein Finger deutete auf ein aufgeschlagenes Bilderbuch. »Aussicht vom Libanon. Ptolemais in der Ferne«, stand unter dem Stahlstich, auf welchem der Vater den Finger auf ein Pünktchen am Mittelmeer setzte. Meyers Universum hieß das Buch, und der Ort, der »bombardiert« wurde und früher Ptolemais hieß, war Saint Jean d’Acre. Von der Quadrupelallianz, die damals im Jahre 1840 mit ihren Schiffen gegen Mehemed Ali und Frankreich vor dem Ort lag, verstand der Junge nichts, und weshalb man damals auch in Altershausen sang: »Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein«, entzog sich seinem Interesse; aber was »Bombardieren« und »Bombardement« bedeutete, wusste er gar wohl. Auf dem Puppentheater hatte er das Bombardement von Antwerpen aufführen sehen mit Blitz und Gekrach, und der alte Chassé und der brave Mijnheer van Speyk, der sein Schiff, sich und so viele Hundert nichtsnutzige Belgier auf der Schelde in die Luft sprengte, gehörten – auch aus dem Bilderbuch – zu seinen guten Bekannten: wie fuhr das Kindernäschen dem deutenden Finger nach:
»Wo? wo? wo? Oh, da möchte ich dabeisein! Vater, fliegt das auch in die Luft?«
Geheimrat Feyerabend bewahrte daheim unter den Cimelien seiner Bibliothek das Buch aus Hildburghausen mit dem Stahlstich: »Aussicht vom Libanon. Ptolemais in der Ferne«; nun lag es auch vor ihm im Ratskeller zu Altershausen. Er sah den deutenden Finger auf dem Stahlstich, er fühlte die väterliche Hand auf dem kahlen Schädel, er hörte das so lange verklungene, behaglich-kluge Lachen und dazu jene liebe Stimme, die fragte:
»Aber Mann, was geht den Jungen der Türkenkrieg da unten an. Und das Küchenfenster, das er gestern der Nachbarin Bock einbombardiert hat, ziehe ich ihm von seinem Taschengelde ab.«
Er verriet es nicht, dass nicht er, sondern sein Freund Ludchen das Fenster eingeworfen hatte; aber seine erste wirkliche politische Erinnerung blieb das Blatt aus Herrn Joseph Meyers Universum. Wer von den Mitlebenden wusste heute noch von dem Bombardement von Saint Jean d’Acre? Er! und zwar immer in Verbindung mit dem Küchenfenster der Mutter Bock.
Es soll auch anderen – und unter den anderen den bedeutendsten Politikern, Staatsmännern und Staatslenkern – mit ihren »politischen Erinnerungen« im hohen Alter ähnlich ergehen! Was sind politische Erinnerungen im Wirbelsturm der Erdengeschichte dem armen mitumgetriebenen Menschenkinde, wenn sich ihm nichts Persönliches dranknüpft? –
Er schlief recht unruhig diese Nacht in seiner Kindheitsstadt und träumte lebhaft; aber nicht etwa aus seiner Wissenschaft heraus und irgendwie von einer höchsten »Lebenshöhe« herunter. Als es achtundvierzig in der deutschen Geschichte schlug, war der Vater schon tot und konnte nicht mehr seinem Sohn die Hand auf das Haupt legen, auf die Gegenwart den Finger setzen und aus Vergangenem auf Kommendes hinweisen; aber nur im Ratskeller von Altershausen hätte der Wirkliche Geheime Medizinalrat Feyerabend so von dem Schwarzrotgold, den Fahnen, Glocken, dem Kanonen- und Kleingewehrfeuer, dem flüchtigen Niedersteigen des Reichs der Himmel auf die Erde träumen können! Nur hier, hier und des Nachts im Traum ließ sich das alles wieder sehen, hören und empfinden mit den Gefühlen des Jungen, der die schwarzrotgoldene Kokarde an die Sekundanermütze steckte und zum ersten Mal von seinen Lehrern mit »Sie« angeredet wurde, wie das deutsche Volk von seinen Fürsten oder sonstigen Regimentsinhabern.
Welch eine wunderliche Uhr, die Stadtuhr von Altershausen!
Eben hatte sie achtundvierzig geschlagen, nun schlug sie dem Geheimrat in seinem Bett im Ratskeller vierundfünfzig. Russen, Türken, Engländer und Franzosen rauften sich an der Donau und in der Krim um die Schlüssel zum Heiligen Grabe, und studiosus medicinae Feyerabend sah im Anatomiesaale zu Heidelberg zum ersten Mal seinen Professor das Skalpell einem, wie er sich ausdrückte, »vorzüglichen Objekt«, das heißt einem schönen, reinlichen menschlichen Leichnam, in den Brustkasten stoßen, wobei er das Messer in sich mitfühlte und sich doch an den Platz des sich schaudernd abwendenden Kommilitonen schob, um genauer zu sehen und zu hören und später selber da womöglich besser Bescheid zu wissen als der gegenwärtige Meister! Und neunundfünfzig schlug die Glocke vom Altershausener Kirchenturm. Nach Zeitberechnung wacher Menschen beanspruchte nun der Traum vielleicht kaum den zehnten Teil der Zeitdauer einer Sekunde: dem Geheimrat im Ratskeller währte er länger. An einem wolkenlosen Junitag stieg der Studierende der Medizin zu Wien aus der kühlen, dunkeln Tiefe des Esterhazykellers in den heißen, blendenden Mittag im Haarhof hinauf, von dem bepelzten Mann am Schenktisch, dem Pfiff Süßen und dem Pfiff Herben in diese glühenden Gassen voll Sonnenlicht, voll in Hast aufgerissener Fenster bis zu den höchsten Stockwerken, voll aufgeregter, angstvoller, zorniger Menschengesichter:
»Magenta!«
Aber ist das nicht schon achtzehnhundertvierundsechzig, was die Glocke von Altershausen schlägt? Ja, die Zeit geht rasch hin und nicht bloß im Traum. Jetzt schneit es dem Alten hinein, und der junge Privatdozent Dr. med. Feyerabend in Kiel hört durch das