Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.– nach Altershausen gekommen sind, so ist –«
»Und damals hatte ich hier einen intimen Freund, den ich gern besuchen möchte, wenn er noch am Leben wäre, Herr George. Ihr Großvater wusste meinem Vater immer Bescheid zu geben, wenn er nach Leben und Tod unter seinem Messer in Altershausen fragte. Lebt hier noch ein Herr Bock? Ludwig Bock war sein Name. Damals rief ich ihn Ludchen.«
»Und der Rektor Schuster wollte ihn zum Klügsten nicht bloß hier in der Stadt, sondern in der ganzen Welt machen! Ludchen Bock! Ja, das – die Geschichte davon, Herr Doktor, ist freilich von meinem Großvater her über meinen Vater an mich gekommen! Wer ihn heute sieht, glaubt nicht daran. Ja, er lebt noch! Ludchen Bock lebt noch, Herr Doktor! Aber den wollen der Herr Doktor besuchen?«
»Es war meine Absicht, doch – ich habe Sie gefragt, ob Sie schweigen können, Herr George«, sagte Geheimrat Feyerabend, der eben vor dem Spiegel die Krawatte umband, über die Schulter zu dem jetzigen Barbier von Altershausen. »Ich wünsche von Ihnen zu erfahren, was Sie von meinem Freunde wissen, und die Gewissheit zu haben, dass diese Sache – unter uns bleibt, das heißt bis morgen früh zwischen mir und Ihnen, Herr George!«
»Soll ich es schwören, Herr, Herr – Herr –?«
»Wirklicher Geheimrat Professor Doktor Feyerabend aus Altershausen – nein, das wird grade nicht nötig sein; aber Ihre Berufswege haben Sie wohl so ziemlich beendet?«
»Der Herr, Herr Geheim – rat waren der letzte, der mich befohlen haben«, stammelte Herr George, und Fritze Feyerabend klopfte ihn lächelnd auf die Schulter:
»Nun, Kind, dann haben Sie jawohl eine Viertelstunde Zeit für einen alten Mann aus hiesigem Orte?«
Die vertrauliche Unterhaltung dauerte eine halbe Stunde. Nachher wusste Geheimrat Feyerabend für seinen Zweck ziemlich genau Bescheid in Altershausen. Es ist merkwürdig und eine Beruhigung, dass sich der Menschheit Kern so gar nicht verändert, dass zwei Menschenalter ebensowenig dabei bedeuten wie zwei Jahrtausende oder nach der Historiker Belieben mehr dessen, was sie Weltgeschichte nennen!
X.
Der »Herr« George seines Vaters war gegangen – fortgeschlichen mit einem letzten scheuen Blick über die Schulter ins beste Zimmer des Ratskellers – und Fritzchen Feyerabend wieder mit sich allein seinem Geburtsort gegenüber, wie mit der Hand auf dem Deckel einer eben zugeklappten, bis auf den gegenwärtigen Tag fortgeführten Chronik. Er wusste alles, was er für sich brauchte aus dem Zeitenverlauf der letzten zwei Altershausener Menschenalter, und was er Schwester Linen nach der Nachhausekunft zu erzählen hatte, wusste er auch. Er kam in den Rock und zur Halsbinde auch ohne die Gute, obgleich er bei Umlegung der letzteren doch mehremale ärgerlich nach Hilfe hätte rufen mögen.
Dabei hörte er es denn zehn schlagen und von dem nahen Schulhofe den Kinderlärm der Gegenwart, und Geheimrat Feyerabend horchte heute nur in das Geschrill hinein, bei dem er vor zwei Menschenaltern so sehr selber beteiligt gewesen war unterm Rektor Schuster. Er blieb am Fenster, solange die »Pause« dauerte, und war heute mehr dabei als vor den zwei Menschenaltern. Mit seinem Freund Ludchen natürlich. Ganz gewiss nicht ohne Ludchen Bock! –
Er horchte immer noch in den fröhlichen Lärm, als er schon mit dem jetzigen Ratskellerwirt unter dem Vorbau der Haustürtreppe stand. »Der Herr wollen bei dem angenehmen Morgen einen Spaziergang machen?« hatte der Hospes gefragt, ohne eine Ahnung davon zu haben, auf welchem Spazierwege sein gegenwärtiger, besonders Aufmerksamkeit erregender Gast sich bereits befand.
»Ein Pfauenauge!« rief, ohne auf die Frage achten zu können, Wirklicher Geheimrat Feyerabend. Der schöne Schmetterling kam über den Markt von Altershausen auf einen verstaubten Oleanderstrauch, der unter dem Vordach des Ratskellers den Winter erwartete, zugeflattert, ließ sich auf ihm nieder, seine Flügel zusammenfaltend und wieder auseinanderschlagend, und Geheimrat Feyerabend hatte sich wahrlich erst ihm zu widmen, ehe er die freundliche Frage Nothnagels dahin beantworten konnte, dass der Morgen in der Tat recht angenehm sei und dass er natürlich einen Spaziergang in ihn hinein zu machen beabsichtige.
»Ein feiner Buttervogel!« sagte der Wirt. »Ja, in der freien Natur werden sie nun bald selten; aber diese Sorte hält sich kurioserweise durch den Winter durch. Sie kommen auch mir ins Haus und kleben sich in dunkle Ecken und bleiben am Leben auch beim strengsten Frost. Da geht er wieder ab, um das Letzte von seiner Lebenszeit lieber draußen noch mitzunehmen.«
»Er gehört eigentlich zu den Dämmerungsfaltern«, murmelte Geheimrat Feyerabend. »Was hat er noch in der Morgensonne zu suchen? Ja, da geht er hin zu den Bergen, Herr Wirt, dort über Düselbergs Hausdach, grade als ob er ein Recht an die Mittagssonne hätte wie Parnassius Apollo, sein lichterer Geschlechtsbruder. Freilich, es ist noch einmal ein angenehmer Morgen, Herr Nothnagel, und ich werde dem guten Beispiel folgen und ihn ebenfalls heute noch einmal benutzen.«…
»So schönes Wetter und das Kind noch dabei!« sagte der Alte, kopfschüttelnd, aber lächelnd über den Markt von Altershausen dem Burgtor zuwandelnd, während ihm Nothnagel von seiner Haustürtreppe nur kopfschüttelnd nachblickte und dann, zu seinem Oberkellner gewendet, sagte und fragte:
»Er scheint hier bekannt zu sein!… Hat er nichts von der Table d’hote gesagt?« – –
Da war nun das Tor, durch welches, an dem Elternhause vorbei, der Weg führte, den er sich aus dem Monddämmer heraus für das helle Tageslicht aufgespart hatte: der Weg hinein – zurück in das Beste und – Längste von den langen und doch so kurzen siebenzig Lebensjahren! Wem dehnen sich nicht in der Erinnerung glückliche Kindheitstage zu Äonen, während erfolgreichste Arbeitsjahre zu Augenblicken einschrumpfen?
Der Landstraße bergan schloss sich immer noch zur Rechten der Heckenweg an, auf dem man zwischen den Gärten, den Gärten der Optimaten der Stadt, am ersten den Wald erreichte. Und hatte nicht Fritze Feyerabends Vater zu den Optimaten gehört und sein Grundstück da gehabt? Gehörte dieser Weg, der dorthin führte, nicht noch zu den sichersten Erdenbesitztümern des Wirklichen Geheimen Medizinalrats Professor Dr. Feyerabend, nur einen anderen ausgenommen?
Der Weg lief noch so wie vor sechzig Jahren; aber seinen Garten, wo seine Mutter »gärtnerte« und sein Vater in der Fliederlaube oder an regnichten Tagen in dem blau angestrichenen »Pavillon« seine Pfeife rauchte, seine Zeitung las und seine junge Alte durch boshafte Kritik ihrer agrarischen