Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.solche Streiche machen wollte wie damals, als ihn nichts zum Weinen bringen konnte, nicht Vater und Mutter und der Herr Rektor Schuster am wenigsten, hätten sie ihn mir doch wohl wegnehmen müssen. Ja, ihr beide! Du liebster Gott, das Wunder wird immer größer, je mehr ich mich drein finde – du, Fritz, warst auch bei so manchem, manchem; nimm es mir nicht übel, und nach euren Eltern und dem Herrn Rektor können die Nachbarn doch nicht mehr gehen mit ihren Klagebeschwerden – o Gott, und nun red ich hier auch so, als ob ich auch noch mit ihm in der alten, alten Zeit steckte! Aber es ist ja auch so: er hat mich mehr bei sich festgehalten, als dass ich ihn durch die Jahre, die langen, langen Jahre in alles Neue, was dem Menschen passieren kann, hereingenommen hätte. Aber nun höre ihn einer da oben in seinem Vergnügen im Dickicht! Und so ist er bei mir doch besser aufgehoben gewesen als in eurem Halah, wo sie die armen Blöden hintun zu ihrem Besten und ihn ohne mich hingetan hätten. Ja, und ich – da du es einmal so willst: Fritz Feyerabend –, ich habe auch ein recht gutes, stilles Leben durch ihn gehabt – jaja, wenn es Gottes Wille gewesen ist, so ist es auch der meinige geworden.«
Er hielt die Hand wieder, die sich vor sechzig Jahren so weich auf ein großes Unglück gelegt hatte. Sie wurde ihm jetzt auch schon vertraulicher, zutraulicher, vertrauensvoller gelassen, und die Kinderfreundin sagte lächelnd:
»O Fritz, wenn ich es auch immer noch nicht glaube, dass du es bist, der hier bei mir sitzt, so bist du von ferne aus mir wirklich immer bekannt geblieben. Du hast auch in unserem Blatt gestanden öfters mit deiner Wissenschaft und deinem Namen. Das Kreisblatt hat’s immer gebracht, wenn du in Petersburg oder sonstwo als der berühmteste Doktor und Arzt in der Welt in Empfang genommen bist. Und denn aber neulich dein Jubiläum, wo auch wieder in allen Zeitungen gestanden hat, wo du her bist! Da brauchte ich mich doch gewiss nicht zu fragen: sollte das denn der sein, mit welchem du und dein Ludwig in der Kinderzeit so gut Freund warst? Meinem armen Jungen hättest du wohl auch nicht helfen können; aber gefreut hat es mich immer, nicht bloß deinetwegen, sondern auch um Altershausen, wenn du wieder einen neuen Ehrentitel oder hohen Orden, und von allen ausländischen fremden Potentaten, gekriegt hast und ich davon gelesen oder gehört habe. Aber da es sich dabei immer nur um deine Kunst und Wissenschaft und nichts weiter handelte, so ist es zwar eine Unverschämtheit von mir, es zu verlangen; aber zu gern hörte ich nun auch von dir, wenn du so gut sein wolltest, wie es dir sonst in deinem Leben ergangen ist und vielleicht wie deiner lieben Familie, seit wir, wie wir waren, hier geblieben sind und du mit deinen guten Eltern von hier verzogen bist.«…
Das war eigentlich ganz und gar gegen die Verabredung, die Geheimrat Feyerabend vor seiner Abreise nach Altershausen mit sich getroffen hatte. Er hatte andere ausforschen wollen; er, ein anderes jung gebliebenes, altes, greises Kind, wie der da oben beim Tannzapfensuchen, hätte gern Großmütterchen am Spinnrade aus lange vergangenen Zeiten Wahrheit und Dichtung hermurmeln hören, und nun war er es, der gebeten wurde, zuerst von sich Bericht zu geben und so wahr als möglich zu sein!
Das letztere war wohl leicht mit jener lieben Hand zwischen seinen Händen, und was das Erzählen von sich selber anbetrifft, nun, wenn da mal einer erst angefangen hat, so ist gewöhnlich auf dieser Erde das Aufhören recht schwer und sind die größten und berühmtesten Schweiger oft gradeso redselig wie die anderen aus der Nachbarschaft, der nächsten wie der fernsten. Er für sein Teil benutzte die Gelegenheit, die ihm wahrscheinlicherweise zum letztenmal geboten wurde, und holte auch aus sich selber wieder herauf, was hier interessieren konnte. Des Kindes oben am Berge und seiner nahenden Mittagsessenszeit wegen hatte er, Geheimrat usw. Feyerabend, sich kurz zu fassen, und – je tiefer er hinuntergriff, desto mehr tat ihm das leid. Kein Mensch weiß zu jeder Stunde, was er mit dem Erdengrundschlamm an versunkenen Kleinodien aus dem Brunnen heraufholen kann! –
Einen Augenblick hat er es wie eine Fantasmagorie vor Augen: sie stehen mit auf der Haustürtreppe, vor der die Postkutsche hält, hinter der für sechzig Lebensjahre ihm – Fritze Feyerabend – die Heimatberge versinken sollen. Sie, Ludchen Bock und Minchen Ahrens! Sie schluchzen weder, noch steckt Fritzchens bester Freund, wie sonst gewöhnlich bei einem Abschiednehmen, die Zunge heraus – sie stehen nur verblüfft und von Erwachsenen beiseitegeschoben. Die erwachsenen Herrschaften haben die Vorhand, von der Familie Feyerabend den letzten Abschied in Altershausen zu nehmen. Auch er reicht nur Erwachsenen die Hand aus dem Wagen – den Herren und Damen vom Gericht, dem Herrn Bürgermeister, dem Herrn und der Frau Superintendentin – dann ziehen die Pferde an, und mit Altershausen versinken Ludchen Bock und Minchen Ahrens für zwei Menschenalter.
Von diesen zwei Menschenaltern wollte Minchen Ahrens nun erzählt haben, und Fritze erzählte ihr und – sich selber mit! Er wunderte sich selbst mehrmals über das, was er da von sich erfuhr.
Zuerst hatte Minchen nur von Zeit zu Zeit »Ach Gott!« zu sagen mit einem verschluckten: »O, Herr Geheimrat!« Da handelte es sich aber auch nur kurz über den Aufstieg über Schulbänke, Katheder usw., usw. bis zu den Wonneburgen des Walchenlandes. Was hatte Fritze Feyerabend ihr zu unterschlagen über Examinationskommissionen, über Doktordiplome, Mitgliedschaften sämtlicher gelehrten Gesellschaften und Körperschaften der gelehrtesten Welt, die erhabensten Unterschriften, über Anstellungspatente und Ordensverleihungen als der und der und das und das! Wie unwichtig war das alles vor der Frage der jungfräulichen greisen Kinderfreundin am Maienborn:
»Und verheiratet hast du dich auch in deinem Leben? Und hast zu Hause zu allem anderen Wohlsein und Ehren liebe Kinder und Kindeskinder! Aber… dass sie dich so – alleine haben reisen lassen?!«
»Ja, das haben sie, Minchen!« sagte der Gast aus der Welt Wonneburgen und musste wohl das dazu passende Gesicht gemacht haben: die alte Zeitgenossin sah ihn an und fragte zögernd:
»Sie haben dich doch nicht in der Welt –«
Sie brach ab, und Fritz Feyerabend vollendete:
»Allein gelassen? Ja – doch! aber es ist lange, lange her. So lange Zeit, dass viel Gras darüber wachsen konnte, Minchen. Wie über so viele in Alt-Altershausen, Minchen. Ich habe mich darein finden müssen und gefunden.«
Sie sah ihn betrübt an, schüttelte den Kopf und sah am Berge hinauf nach den Tannen hin, wo sie ihr Kind noch am Leben wusste und es mit Kinderstimme, ob seines Unbehagens vor dem »fremden Mann« aus Rektor Schusters Schulstube her, singen hörte:
»Ich hatt’ einen Kameraden –«
Und sie hatten beide recht.
»Du magst wohl viel anderes erlebt haben, Fritz, und es steht ja auch so in den Zeitungen davon, zu was für