Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
Читать онлайн книгу.hatte. Die lag nun im Nachmittagssonnenschein, und aus seinem Schatten heraus erlebte er, die nächste halbe Stunde durch (länger hat’s der Uhr nach nicht gedauert), das Abenteuer. Im Traum währte es viel länger; aber das ist ja schon eine uralte Erfahrung der Menschheit, und solches nicht bloß aus den Märchen der Tausend und einer Nacht heraus, sondern auch aus dem hellsten, grellsten, nüchternsten Werkeltage.
Am Maienborn war er gewesen mit Ludchen Bock und Minchen Ahrens; aber wohl hatte er sich bis jetzt gehütet, Winkel aufzusuchen, in denen er nichts mehr von dem finden konnte, was für ihn in Altershausen noch dasein sollte. Nun, in seinem Traum ging er doch so aus auf die Suche: zurück und hinein in die Zeit, wo Friedrich Wilhelm der Vierte König von Preußen, Nikolaus der Erste Zar aller Reußen, Louis Philippe König der Franzosen und Pius der Neunte Papst war – hin in seine letzte Weihnachtsstube in Altershausen. –
Aber wie?
Der Weg in der heißen Morgensonne hatte in Verbindung mit dem Mittagstisch des Ratskellers dem alten Mann die Gliedmaßen doch recht steif gemacht. So bequem der Sessel am Fenster war, der Sopha erschien dem Wirklichen Geheimrat Feyerabend doch noch bequemer.
»Nur für fünf Minuten!« sagte er, wollte die Arme, um sich zu erheben, auf die Stuhllehnen legen, fand, dass das nicht ging, dass sie ihm am Leibe herunter fest anhafteten wie einem frontmachenden Kriegsmann. Aufrecht stand er mit einemmal, ganz ohne sein Zutun, in des Zimmers Mitte, und an seinem Leibe, an seinen Beinen heruntersehend, war’s ihm, als ob es auch damit nicht im geringsten seine Richtigkeit habe. Wie kam er zu diesem behaglich gewölbten Bauch, wie kam er in diese eng anliegenden gelben Lederhosen, wie in diese lackglänzenden Husarenstiefel? Und wie stand er plötzlich als der letzte Nussknacker der Familie Feyerabend im hellen, nüchternen Nachmittagsschein auf dem Markt von Altershausen?…
Und niemand verwunderte sich über ihn. Sie trieben ihre Gassengeschäfte, sie handelten in den Kramläden, sie standen in ihren Haustüren oder saßen an den Fenstern, die Leute des Orts, aber nicht einer nahm Notiz von der Verwandlung des Wirklichen Geheimrats Professor Dr. Feyerabend in den Geliebten der Freiin Emerentia von Schnuck-Puckelig-Erbsenscheucher in der Boccage zum Warzentrost. Dass ihm solches unangenehm gewesen wäre, konnte er nicht sagen; aber verwunderlich erschien sie ihm doch: kam er selber sich doch ziemlich auffällig vor.
Er ging. Wie – das wusste er nicht; die Beine klebten ihm zusammen, wie die Arme am Leibe herunter hafteten. Er konnte sogar Treppen so ersteigen; plötzlich stand er auf der obersten Stufe der Haustürtreppe seines Vaterhauses und sah hinunter auf den Markt von Altershausen und versuchte zu »salutieren«, mit der Hand am Federhut. Ja, wenn’s nur möglich gewesen wäre!
Da lag der Markt, auf dem er mit Ludchen Bock gespielt hatte, und es hatte sich kaum etwas dran verändert seit der Zeit vor sechzig Jahren. Da lag der Ratskeller, von dessen Fenster aus, sozusagen, er eben ausgegangen war – und es schneite erst leise Flocken hinein in den Sonnenschein, dann heftiger aus sich senkendem, immer dunkler werdendem Gewölk. Nacht war es plötzlich geworden. Wo eben noch die Fenster im Tageslicht geglänzt hatten, da leuchteten sie nunmehr von innen heraus erleuchtet in den Winterabend hinein, bald mehr, bald weniger, je nachdem die Lampe war, die das Licht gab.
Es waren aber nicht die Lampen allein, die Licht gaben; hinter mancher gefrorenen Scheibe, hinter manchem Vorhang leuchtete es vielflimmerig: das waren an den »Christbäumen« die Kerzen der letzten Weihnachtsnacht, die Friedrich Feyerabend mit den Eltern und Schwester Linchen in Altershausen begangen hatte, und Fritz war wieder darin und mit dabei in seiner wunderlichen Verwandlung aus dem Wirklichen Geheimrat Professor Doktor und Gast der Wonneburgen der Walchen zum Nussknacker von seinem letzten Altershausener Weihnachtstisch; aber – die »Großen« und Schwesterchen Lina waren zu Bett gegangen – er hatte das Fest für sich allein! In der »Blauen Stube« war er allein mit der erloschenen Weihnachtstanne. In der Blauen Stube stand er nach sechzig Jahren wieder; aber sie schliefen alle, und er allein war wach geblieben, ein Nussknacker des Elternhauses; aber – nicht der letzte. Wie es sich ausweisen sollte!…
Das war die Blaue Stube. Da hatte eben noch seiner Mutter helles, liebes Lachen geklungen und Linchen, die neue Puppe im Arm, vom Arm des Vaters nach der höchsten Zuckerpuppe an der Lichtertanne gegriffen, als er – nicht Fritzchen Feyerabend – mit zur Familie und zur Blauen Stube gehörend, sich als der Nussknacker vom vorigen Jahr seinem – Nachfolger gegenüber fand!…
Aus dem Sessel am Fenster des Ratskellers, durch das Fenster und über den Markt von Altershausen war er, wenn auch in dem absonderlichen Kostüm, so doch in seiner vollkommenen Menschengröße nach Meter und Zentimeter Reichsmaß gestiegen; nun – und er wusste wiederum nicht, wie es zugegangen war – fand er sich plötzlich eingeschrumpft, zusammengefallen, auf das Maß von seinesgleichen – Nürnberger Fabrikmaß – herabgesunken, und, bei einem neuen Blick an sich herunter: wie sah er jetzt aus!…
Wie hatten eben noch im Sonnenschein auf dem Markt der rote Frack, die weiße Weste, die gelben Hosen und die Husarenstiefel geleuchtet! Und nun? So schlimm wie mit dem, den in Nizza Karl Buttervogel aus dem Kehricht auflas, war es jawohl nicht mit ihm; aber arg war’s doch, und er hätte nimmer gedacht, dass er sich je so schäbig selber vorkommen könne wie jetzt in der Blauen Stube. Und wenn Hosen, Jacke und Weste noch das Schlimmste gewesen wären! Das, was in der roten Jacke, den gelben Hosen, den ritterlichen Stiefeln gesteckt hochaufgerichtet die Wonneburgen der Walchen durchschritten hatte, wie knickebeinig war das in der Blauen Stube, der Weihnachtsstube des Elternhauses des Jahres 18?? !? Knacke einer mal Erdennüsse bis zu seinem siebenzigsten Geburtstage und behalte er die vordem so genialisch »grellblauen Augen« und lasse er nicht den seinerzeit so glänzend schwarzen Schnauzbart greis, dünn, abgerupft über die »alt und müde gewordenen Lippen« hängen! … … … … … … … … …
Und was war denn das? Wie kam er von dem Pflaster des Markts von Altershausen auf den Weihnachtstisch der Blauen Stube? Hätte er die Hand von der Hosennaht, auf der sie festlag, losmachen können, so konnte er sie grade auf das Dach der Arche Noah neben ihm legen!
Das war nun seine körperliche Höhe, und seine Gefühle dazu waren plötzlich die eines Nussknackers mit müden Kinnbacken. Das Seltsamste aber war, dass er die Blaue Stube mit den Bildern der Großeltern an der Wand und allem übrigen als etwas Selbstverständliches nahm; aber als etwas ebenso Selbstverständliches, dass alles, was sonst dazu gehörte: Vater, Mutter, Schwesterchen, Hund und Katze,